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Die Eroberung Jerusalems

Beeindruckend sind vor allem die moderne Bühnenarchitektur Harald Thors und der kraftvolle Chor. Stimmliche Mängel gibt’s dagegen bei den Protagonisten Nabucco und Abigaille

Von Frieder Reinghaus |
    Der junge Komponist Giuseppe Verdi wurde vom Schicksal schwer heimgesucht: auf die familiäre Katastrophe – seine beiden Kinder und die Frau starben innerhalb weniger Monate – folgte ein berufliches Desaster: die Oper "Un giorno di regno" erweis sich als Fiasko. Er fasste den ehernen Entschluß, nie mehr fürs Theater zu komponieren. Doch vom Impresario Bartolomeo Merelli ließ sich der 28-Jährige dann 1841 doch dazu bewegen ließ, wieder eine Oper in Angriff zu nehmen. "Nebucadonosor", ein Dramma lirico in vier Teilen (Akten) nach dem von Temistocle Solera (nach verschiedenen älteren Vorlagen) angefertigten Libretto, wurde am 9. März 1842 an der Scala in Mailand erfolgreich uraufgeführt. Das dann unter dem Titel Nabucco bekannt gewordene Werk entwickelt seine Wirkung in hohem Maß aus den kraftvollen Chören. Die Handlung hängt sich an die Eroberung Jerusalems durch babylonische Truppen im Jahr 587 v. Chr. an, sieht also als großen Hintergrund der Liebesgeschichte einen genauen historischen Zeitpunkt und konkrete Orte vor. Die bedürfen freilich der Übersetzung in heutige Theaterbilder – Andreas Baesler hat für seine Inszenierung am Essener Aalto-Theater also eine große hermeneutische Aufgabe zu bewältigen.
    Als Hoher Priester Zaccaria wirkt Michail Ryssov rollendeckend: recht rauhbeinig. Die ungehobelte Stimme dieses alttestamentarischen Gottesmannes passt glaubhaft zu einem, der trotz der Übermacht der babylonisch-assyrischen Truppen unter Nebukadnedzar glaubt, das belagerte Jerusalem verteidigen und sein Volk vor der Vernichtung bewahren zu können. Mit Fenena habe er, so kolportiert das Libretto von Temistocle Solera, eine der Töchter und die eigentlich rechtmäßige Erbin des Königs von Babylon in seiner Gewalt.

    Halb ist "Nabucco" eine religiöse Oper (und schon von daher passt sie ja in die Gestaltung einer "besinnlichen" Karwoche). Die Schrift – und damit wird auf die Geschichte der jüdischen Religion abgehoben – spielt in der Inszenierung von Andreas Baesler eine zentrale Rolle: in großen hebräischen Buchstaben (und auch auf Deutsch) wird das Memento "Wisse vor wem du stehst" eingeblendet, das früher die Essener Synagoge schmückte. Im übrigen vier Zitate aus dem Buch Jeremia: Prophezeiungen bezüglich der Bestrafung der Hebräer durch deren Gott und der Zukunft der Stadt Babylon (sie wird verwüstet werden).
    Baesler ließ sich von Harald Thor eine unspezifische moderne Architektur auf die Bühne bauen: einen drehbaren zylinderförmigen Baukörper, der z.B. einen Kammermusiksaal beherbergen könnte oder das Schulungszentrum einer Bank. In einem großen Schaufenster werden zeitweise Insignien der Macht (insbesondere der feine Hermelinmantel) aufbewahrt, in einer Nische die Krone und in einer Art Sicherungskasten das für Fenenas Halbschwester Abigaille entscheidende Dokument. Baesler hat also seine "Übersetzung" mithin nicht konkret verortet. Allerdings wurde das singende Personal von Alfred Mayerhofer so eingekleidet, wie die Leute heute in Jerusalem aussehen – neben Orthodoxen mit der einschlägigen Kopfbedeckung auch ein Querschnitt durch die Mitgliedschaft einer modernen laizistischen Gesellschaft.

    Nach dem höheren oder tieferen Sinn dieser "Übersetzung" der alten Geschichte darf man wohl nicht genauer fragen. Denn heute zeigen sich in Jerusalem wahrlich andere politische und militärische Konstellationen als die in dieser Oper in Bezug auf das im Jahr 587 v. Chr. verhandelten. Die bezieht sich eben auf die frühen 1840er Jahre und Italien – gerade auch mit ihrem nationalen Freiheitspathos (ggf. wäre also auf das Warschau der 1940er-Jahre zu übertragen – oder auf Gaza City heute).
    Wieder, wie zuletzt bei Alexander Borodins "Fürst Igor” in Essen, nutzt Noam Zur die uneingeschränkte Lufthoheit über dem Orchester, um die kräftigen Farben, den Popularton und die gelegentlichen Sentimentalitäten der Musik so hervorzuheben bzw. zu dimmen, dass es seine Wirkung aufs Abonnements-Publikum nicht verfehlt. Der Chor singt allerdings bedeutend besser als bei der Borodin-Produktion. Stimmliche Mängel v.a. bei den beiden Protagonisten – Nabucco und Abigaille: Marco Chingari und Francesca Patané. Wenn sie leise intonieren, gelingt ihnen manche schöne Episode, aber sobald sie Kraft entfalten müssen und dann forcieren, ist’s oft alles andere als befriedigend. Scharf daneben ist eben auch daneben.