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Die erschreckende Flüchtigkeit der Existenz

Ein Buch, das von der Vorbereitung aufs Sterben erzählt. Das langsame Hinweggleiten aus dem Leben, erzählt aus männlicher Sicht. Dafür hat die Literatur bereits unzählige Beispiele. Der Kampf mit dem Fisch. Der nicht abreißende Monolog Krapps auf Band, der wieder und wieder zurückgespult wird. Hemingway oder Beckett, Updike, Roth und Gustaffson. Sie alle erzählen von der Angst alter Männer vor dem Tod, von ihrer Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Lebens im Angesichts des Todes und vom Anhalten der Zeit im Moment des Abwendens von der Welt.

Von Antje Strubel | 10.08.2010
    Robert Åsbackas Debütroman "Das zerbrechliche Leben" über einen ehemaligen Lagervorsteher auf finnisch-schwedischen Fähren, der seine Frau beim Untergang der Estonia verloren hat und mit dem es langsam bergab geht, hat sich also gegenüber einer gewaltigen literarischen Sterbelast zu behaupten.

    Johann Thomasson liebt die Musik des Barockkomponisten Buxtehude. Er verbringt die Zeit, die ihm noch bleibt, in seiner Wohnung im finnischen Österbotton damit, in seinem Wohnzimmer eine Orgel zu bauen. Es ist dieselbe Orgel, die in der Österbottnischen Kirche steht. Siri, Thomassons Frau, war Kantorin der Kirche. Nachdem sie kurz nach der Pensionierung von einem Ausflug nach Lettland nicht mehr nach Hause kam, ist der Orgelbau für Thomasson so etwas wie eine magische Beschwörung ihrer Rückkehr. Er wartet auf sie, ohne sich das Warten einzugestehen.

    Aber während er an der Orgel baut, kann er seine Gewissenskonflikte und Schuldgefühle ebenso vergessen wie das endlose Herumrätseln darüber, wie sich das Fährunglück tatsächlich ereignete. Die Einzelheiten des Untergangs der Estonia, den nur 130 Menschen von etwa 1000 überlebten, sind bis heute ungeklärt. Thomasson befuhr ehemals selbst auf dieser Fähre die Ostsee zwischen der finnischen, lettischen und schwedischen Küste und vorbei an den Ålandinseln. Er kennt das Schiff gut genug, um sich die Vorgänge während des Kenterns in allen Einzelheiten wachrufen zu können. Und dennoch lässt sich der Moment von Siris Tod nicht rekonstruieren. Es gibt zu viele Möglichkeiten. Schaffte sie es über die Treppen an Deck oder stürzte sie unterwegs? Verließ sie ihre Kabine rechtzeitig oder war die Tür durch die Schräglage des Schiffes verschlossen und die Kabine ihr Sarg? Das alles sind Hilfskonstruktionen des Denkens. Seine eigentliche Kreisbewegung zielt auf die Möglichkeit ab, sich zu erinnern. Es geht um die immer wieder neue Beschwörung vergangenen Lebens.

    Johann Thomasson hat sich eingesponnen und existiert allein mit seiner Erinnerung. Bis er auf einem seiner üblichen Spaziergänge sieht, wie ein Junge am Seeufer von Gleichaltrigen schikaniert wird. Er eilt ihm zu Hilfe und verstaucht sich dabei den Fuß. Der Junge bringt ihn zu seiner Mutter nach Hause, die ihn verarztet. Durch dieses Ereignis gerät Thomasson seit Jahren zum ersten Mal wieder mit der Außenwelt in Kontakt. Åsbacka beschreibt dieses vorsichtige Herantasten des alten Mannes an die Wirklichkeit, die zuvor die Wirklichkeit des jungen oder mittelalten Mannes war, in schlichten, geradlinigen Sätzen, zurückhaltend und einfach. Nicht nur der Junge, auch Mutter und Schwägerin des Jungen, die Nachbarin und der Ex-Taxifahrer Berg dringen ein in das Einsiedlerleben Thomassons.

    Der Schwätzer Berg ist so etwas wie sein Antipode. Tag für Tag sitzt der Rentner vor dem Elektroladen und philosophiert über die Politik und die Welt, von der Thomasson so zurückgezogen lebte. Mit ihrem Eindringen ist Thomasson aber auch gefährdet. Jedes Kapitel hat Åsbacka mit verschiedenen Teilen des Körpers überschrieben in Anspielung auf Buxtehudes Vertonung der sieben Wunden Christis, und mit jedem Kapitel nimmt die körperliche Versehrtheit des Alten zu. Erst der verstauchte Fuß, dann eine gebrochene Hand, schließlich zerschellen Rippen und Oberschenkel bei einem Autounfall. Den Winter über muss Thomasson stationär behandelt werden. Das Krankenhaus verlässt er im Frühjahr im Rollstuhl. Da winkt die Bedeutung des Ganzen auch schon heftig mit dem Zaunpfahl: Aus dem Orgelraum abstrakten, geistigen Verlustschmerzes geholt, kommt der Protagonist in Berührung mit dem konkreten körperlichen Schmerz der Welt und heilt an ihm. Vorübergehend jedenfalls. So wie die Unfallwunden im Krankenhaus, welches dann, um bei Buxtehude zu bleiben, eine höhere Ebene der Erkenntnis darstellt.
    Åsbacka hat ein Buch über die erschreckende Flüchtigkeit der Existenz schreiben wollen und ist sein Thema mit Unterkühltheit und penibler Konkretheit angegangen, entlang erzählt an einem, wie es scheint, so genau kalkulierten Bauplan, wie eine Orgel das verlangt. Es gibt Tote, die regelmäßig über die Kapitel sind, und Unglücksfälle, ob von der Containerpresse oder vom Lastschlepper zerquetscht, ob vom Kunstwerk erschlagen oder im See ertrunken.

    Vorangestellt ist ein Zitat von Becketts Roman "Malone stirbt", und am Ende geht es um Becketts "Glückliche Tage", diesen großen komischen Weltabschiedsmonolog. Berg, der ehemalige Taxifahrer, spielt die Rolle der Winnie am Stadttheater von Österbotten. Und dennoch bleibt das Erschrecken beim Leser aus. Oder äußert sich als eines über den unübersehbaren Abstand, den dieser Autor von jenem hat, den er als seinen Resonanzraum wählte. Das Buch bleibt stumm wie eine Orgel, auf der nicht gespielt wird, und die Zeit wird lang.

    Robert Asbacka: "Das zerbrechliche Leben". Hanser, 320 Seiten, 19,90 Euro.