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"Die Erzähltradition ist mitnichten tot"

Im 19. Jahrhundert las man einander gerne etwas zur Unterhaltung vor. Heute boomen Hörbücher. Auch jetzt zur Frankfurter Buchmesse wird wieder ordentlich vorgelesen: Mehr als 100 Lesungen sind geplant. Professionelle Vorleser wie der Hamburger Clemens von Ramin profitieren von der Renaissance des Geschichtenerzählens.

Von Louise Brown |
    "Der Umgang mit Büchern ist mir unstreitig der liebste! Er begleitet mich auf meiner Lebensbahn und steht mir allenthalb zu Diensten."

    Das ist die Stimme von Clemens von Ramin, von Beruf:

    "Vorleser!"

    "Vorleser heißt, mit guten Geschichten die Menschen zu unterhalten."

    Zum Beispiel auf Festivals, in Konzertsälen, für Unternehmen, in Schulen.
    Moment – hat nicht jemand gesagt, die Erzähltradition sei vorbei?

    "Die Erzähltradition ist mitnichten tot, ganz im Gegenteil. Ich glaube, sie kommt immer mehr zurück, weil die Menschen sich nach Inhalte sehnen und nach Geselligkeit."

    Tatsächlich: Vorlesen ist im Trend. Die Guardian-Journalistin Elizabeth Day las kürzlich ein Monat lang täglich Kurzgeschichten in einer Galerie im schicken Londoner Stadtteil Mayfair vor. Beim Harbour Front Festival kamen kürzlich 1300 Besucher zu einer Lesung mit dem amerikanischen Autor TC Boyle. Warum hat das gesprochene Wort derzeit so eine Anziehung?

    "Also ich glaube, es ist so eine Art Urbedürfnis, und viele sagen dieses Wort, dieses moderne "entschleunigend": Alles ist hektisch, alles ist immer auf der Flucht, aber da ist es so, da sitzt man und ein Mensch, wenn man Glück hat, mit einer ertragbaren Stimme liest etwas Inhaltsreiches vor; gute Worte, guter Inhalt. Und das berührt die Menschen einfach."

    "Hach! Die heilige Brust, die Schultern, der süße Arm! Oh la la, das nenne ich Galanterie!"

    Clemens von Ramin hat als Kind gar nicht gerne gelesen. Nach Stationen als Schiffskaufmann und Weltreisender kam er als Tontechniker zum Film. In den Drehpausen lernte und rezitierte er Gedichte – und fiel damit auf. Heute lebt er von seiner Stimme.
    "Ich bin kein Sänger, ich bin Sprecher, insofern muss ich nichts tun außer vielleicht ab und zu einen guten Rotwein trinken, ansonsten muss ich meine Stimme nicht sonderlich pflegen."

    Dafür aber mal schwierige Wörter trainieren:

    "Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung."

    Aus altem Adelsgeschlecht aber ohne Allüren: Große Banken und Autohersteller überlassen dem Mann mit dem blonden Haarschopf gerne die Literaturauswahl, wenn sie ihn für eine Firmenfeier bestellen:

    "Jaguar zum Beispiel, da würde mir spontan einfallen aus den Memoiren von Casanova, Erfinder des Genusses, schöne Frauen, Ästhet. "

    "Was leider ganz schwer ist zu vermitteln, sind unbekannte Autoren. Und genauso das Thema Tod und Alter, was ich gerne mehr machen würde, da gibt es sehr humorvolle Texte."

    Dafür kommen Tucholsky und Ringelnatz bei den Kunden immer gut an. In seiner eigenen Lesereihe in Hamburg "Erlesene Begegnungen" kann Clemens von Ramin selbst die Themen und Texte aussuchen – und natürlich auch zu Hause:

    "Das Schönste für mich, ist wenn ich meinen Kindern abends vorlese und da lese ich völlig gemischt.
    Da war mal ein kleines Mädchen, es wurde Rotkäppchen angetitelt, weil es Tag und Nacht eine rote Kappe auf dem Kopfe hatte …"