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Die Erzählungen von Isaak Babel
"Mein Taubenschlag" - ein Sammelband, der Maßstäbe setzt

Isaak Babels Erzählungen sind ein Jahrhundertwerk: Wie besessen feilte der 1894 in Odessa geborene russische Schriftsteller jahrelang an seinen Texten, schrieb sie immer wieder um, stellte die Geschichten zu Zyklen zusammen. Größtenteils neu übersetzt, sorgfältig editiert und kommentiert, liegen sie nun in einer gültigen deutschen Ausgabe vor.

Von Karla Hielscher | 07.05.2015
    Der russische Schriftsteller Isaak Babel in einer zeitgenössischen Aufnahme. Er wurde am 27. Januar 1940 mit Stalins Befehl erschossen.
    Der russische Schriftsteller Isaak Babel in einer zeitgenössischen Aufnahme (picture-alliance / dpa – Novosti)
    "Die orangefarbene Sonne rollt über den Himmel, wie ein abgehackter Kopf, zärtliches Licht entbrennt an den Wolkenschluchten, und die Standarten des Sonnenunterganges wehen über unseren Köpfen. Der Geruch von gestrigem Blut und getöteten Pferden tropft in die Abendkühle. Schwarz rauscht der Zbrutsch und schürzt die schäumenden Knoten seiner Untiefen. Die Brücken sind zerstört, wir überschreiten den Fluss an einer Furt."
    Das ist sie, die ganz einzigartige und unverwechselbare Sprache Isaak Babels, der sich mit seinem Meisterwerk "Die Reiterarmee" unvergesslich in die Weltliteratur der Moderne eingeschrieben hat. Im literarischen Schaffen wie in der kurzen Lebensgeschichte dieses genialen russisch-jüdischen Schriftstellers findet die tragische Geschichte Russlands im 20. Jahrhunderts gleichsam verdichtet ihren Ausdruck.
    Der Sprachkünstler, der nicht lügen konnte
    Der 1894 in Odessa geborene Jude Babel, der in seiner Kindheit im zaristischen Russland noch Judenpogrome erlebt und seine ganze Hoffnung auf den revolutionären Umbruch gesetzt hatte, der davon träumte, die südliche Sonne in die schwerblütige russische Literatur hineinzutragen, erlangte in den 20er-Jahren weltweiten Ruhm als Sowjetschriftsteller.
    Mit der wachsenden Indienstnahme der Literatur durch die Partei verfiel der große Sprachkünstler, der in seinem Werk nicht dazu fähig war zu lügen, zunehmend in Schweigen, und sein Leben endete 1940 in den Folterkellern der stalinistischen Geheimpolizei. Die bei seiner Verhaftung beschlagnahmten Manuskripte von zahlreichen unveröffentlichten Werken sind nie wieder aufgetaucht.
    Der kürzlich im Hanser Verlag von Bettina Kaibach und Urs Heftrich herausgegebene Band "Mein Taubenschlag" enthält sämtliche Erzählungen Babels sowie einen umfangreichen Anhang, in dem die Texte detailliert mit politischen, kulturgeschichtlichen und historischen Realien kommentiert werden, sowie ein hervorragendes, äußerst aufschlussreiches Nachwort, eine Zeittafel und eine Karte zum Feldzug der Reiterarmee.
    Eine editorische Mammutaufgabe
    Wenn man weiß, wie besessen Babel oft jahrelang an seinen Texten gefeilt hat, dass es bis zu 22 unterschiedliche Varianten einer Geschichte gibt, und dass immer wieder massive Eingriffe und Veränderungen - von ihm selbst aus ästhetischen Gründen, vor allem aber durch die politische Zensur - in den vielen, zu Lebzeiten erschienenen Ausgaben vorgenommen wurden, kann man ermessen, welch schwierige Entscheidungen die Herausgeber bei der Auswahl der Texte oft zu treffen hatten.
    Das Allerwichtigste ist aber sicherlich, dass Bettina Kaibach alle Erzählungen, an deren Übersetzung in der bisher vorliegenden deutschen Ausgabe 16 ganz unterschiedliche Übersetzer beteiligt waren, einheitlich neu übertragen hat. Nur die "Reiterarmee" wurde in der bewährten, Maßstäbe setzenden Übertragung von Peter Urban übernommen.
    Und eine adäquate Übersetzung von Babels beispielloser Sprache, die den vom Ukrainischen und Jiddischen geprägten Slang jüdischer Ganoven, ungewöhnlichen Bilderreichtum und das Pathos der Bibelsprache wie auch den nachrevolutionären Militärjargon mit seinen Abkürzungen und Wortverstümmelungen verarbeitet, stellt eine enorme Herausforderung dar. Das Ergebnis der Arbeit, das all diese Nuancen zu berücksichtigen versucht, ist beeindruckend.
    Die genau durchdachte Anordnung der Erzählungen, die Babel selbst fast immer zu kunstvoll komponierten Zyklen zusammenstellte, führt dazu, dass sich das gesamte Textkorpus zum exemplarischen Lebensweg eines bildungshungrigen jungen Menschen aus der althergebrachten Welt der jüdischen Kulturtradition ins Land der kommunistischen Verheißung zusammenfügt, ein Weg, der jedoch tragisch scheitert.
    Dabei darf man die literarischen Masken des Erzählers natürlich nicht mit dem realen Autor identifizieren. Bettina Kaibach spricht in ihrem Nachwort vom "autobiografischen Gestus" Babels, der bewusst die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verwischt und dem es allein um künstlerische Authentizität geht.
    Kindheit im Taubenschlag
    Am Beginn steht der Kindheitszyklus mit der "Geschichte meines Taubenschlags", in dem der neunjährige jüdische Junge, der sich - als Belohnung für die erfolgreiche Aufnahme ins Gymnasium - auf dem Vogelmarkt Tauben kaufen darf und in das Gemetzel des Judenpogroms von 1905 gerät:
    "Ich lag auf der Erde, und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen mir die Schläfe hinab. Sie wanden sich meine Wangen entlang, besudelten mich und machten mich blind. Zartes Taubengedärm kroch über meine Stirn, und ich schloss das letzte unverklebte Auge, um die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir ausbreitete. Eng und schrecklich war diese Welt."
    In den berühmten "Geschichten aus Odessa" über die wilde Unterwelt der Moldawanka und ihren leidenschaftlichen Banditenkönig Benja Krik werden Juden dann nicht mehr als Opfer, sondern als kraftvolle, sich über alle Regeln hinwegsetzende Tatmenschen geschildert.
    In vielen Erzählungen über die nachrevolutionären Kampfjahre spiegelt sich der große Traum von der Verschmelzung der jüdischen und der kommunistischen Utopie, etwa in der Geschichte "Karl Jankel". Hier kommt es zur sinnbildhaften Konfrontation der alten jüdischen Welt mit der Revolution: Der zum roten Kommandeur aufgestiegene Schtetljunge nennt seinen Sohn Karl, "zu Ehren des Lehrmeisters Karl Marx", und muss bestürzt feststellen, dass seine fromme Schwiegermutter das Kind beschneiden ließ und ihm den Namen Jankel gab.
    Der Schluss formuliert die große Hoffnung:
    "'Es kann nicht sein', flüsterte ich bei mir, 'dass du nicht glücklich wirst, Karl-Jankel ... Es kann nicht sein, dass du nicht glücklicher wirst als ich ...'"
    Feldzug der "Reiterarmee"
    Und im berühmtesten Erzählzyklus Babels über den grausamen Polenfeldzug von Budjonnys "Reiterarmee", mit dem die Revolution in die Gebiete der jüdischen Schtetl getragen wurde, ist es die Zerrissenheit zwischen dem schwächlichen, bebrillten jüdischen Intellektuellen und den brutalen bolschewistischen Kosaken, aus dem dieses überwältigende Kunstwerk mit seiner expressionistischen Schockästhetik und farbig glühenden Bilderflut schöpft.
    Der geplante Zyklus über die Kollektivierung der Landwirtschaft, von dem nur zwei Erzählungen erhalten sind, erfasst das ganze Entsetzen der Entkulakisierung.
    Fragmente erstmals auf Deutsch
    Zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt liegen in dem Band drei fragmentarische Texte vor, die bewusst in ihrer unfertigen Gestalt - mit Auslassungen, Fragezeichen oder noch unentschiedenem Wortgebrauch - abgedruckt sind. In der faszinierenden Erzählung "Die Jüdin" - 1918 entstanden - wird der Untergang der alten jüdischen Welt wehmutsvoll thematisiert. Der kommunistische Kommissar Boris Erlich, der zu spät zum Tode seines Vaters gekommen ist, will - mit seiner typisch jüdischen "Leidenschaft des Familiengefühls" - seine Mutter nun mitnehmen nach Moskau:
    "Die halbe Nacht hindurch wanderte er durch das jüdische Schtetl [...]
    Mit seiner Heimat ging es zu Ende. Die Uhr des Jahrhunderts kündete mit Glockenschlägen vom Ende des wehrlosen Lebens. 'Ende oder Wiedergeburt?', fragte sich Boris. Sein Herz quälte sich so sehr, dass er nicht die Kraft fand, die Frage zu beantworten."
    Und es erscheint dem heutigen Leser symptomatisch, dass die Erzählung vor der Schilderung des neuen, besseren Lebens im Sowjetstaat abbricht und Fragment geblieben ist.
    Isaak Babels Prosa stellt ein Jahrhundertwerk dar und mit "Mein Taubenschlag" liegt nun die verlässliche, gültige deutsche Ausgabe seiner Erzählungen vor, eine eminent gewichtige editorische Leistung.
    Isaak Babel: "Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen"
    Herausgegeben von Urs Heftrich und Bettina Kaibach.
    Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. Carl Hanser Verlag, München 2014. 852 Seiten, 39,90 Euro.