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Die etwas anderen Ärzte

Einer der Hauptstreitpunkte bei den Auseinandersetzung um die Zukunft der Wittener Privatuniversität ist die Art und die Qualität der Medizinerausbildung. Und die unterscheidet sich tatsächlich massiv von der an staatlichen Hochschulen. Ein wichtiger Punkt: Die Studierenden übernehmen von Anfang an die Rolle des behandelnden Arztes.

Von Britta Mersch |
    "Das ist jetzt also unser Patientenfall, den wir hier vorliegen haben. Was sind denn so eure ersten Gedanken, wenn ihr diese Geschichte lest? Ganz wichtig ist also, dass sie gestürzt ist und es könnte sein, dass es zum Bruch gekommen ist und dass jetzt auch aktuell eine Blutung vorliegt, die sie bedroht."

    Medizinunterricht an der Universität Witten-Herdecke. Dozent ist heute Christian Schulz, der selbst noch Medizin im 10. Semester studiert und mit seinen Kommilitonen aus den jüngeren Jahrgängen ein fiktives Fallbeispiel analysiert: Anni König, 76 Jahre alt, ist in ihrer Wohnung gestürzt und wird jetzt mit einem gebrochenen Unterschenkel in die Klinik eingeliefert. Hunderte von Medizinstudenten haben Anni König schon untersucht – denn die Rentnerin ist eines der ersten Fallbeispiele im Wittener Medizinstudium. Und mit jeder Geschichte, sagt Christian Schulz, lernen die Studenten ein neues Krankheitsbild kennen.

    "Das heißt, zum Beispiel im Fall Anni König beschäftigen wir uns ganz konkret mit Knochenbrüchen, mit der Art und Weise, wie Knochenbrüche wieder heilen und natürlich insgesamt gesehen auch mit den Gefahren, die für den Körper und das Individuum eintreten, wenn so eine starke Fraktur mit starker Blutung etc. auftritt. Das Wichtige ist, dass unsere Herangehensweise nicht vom reinen Knochenbruch und von den zellulären Ereignissen hin zum Patienten geht, sondern umgekehrt, genauso wie man es in der Praxis vorfindet, dass wir den Patienten sehen und uns dann dem eigentlichen Problem nähern, das der Patient in diesem Moment hat."

    Damit unterscheidet sich die Ausbildung an der Privatuniversität Witten-Herdecke vom herkömmlichen Medizinstudium an staatlichen Universitäten. Anstatt systematisch Bücher über Viren, Hautkrankheiten oder Gelenkbeschwerden auswendig zu lernen, gehen die Wittener Mediziner von dem Patienten aus, der auch bei ihnen in der Arztpraxis sitzen könnte. Studierende wie Janosch Dahmen, der zur Zeit im 4. Semester ist, müssen so schon ganz am Anfang ihres Studiums die Rolle des behandelnden Arztes übernehmen.

    "Und das denke ich, entspricht sehr dieser Logik, die man letztlich im Klinikalltag erlebt oder mit der man konfrontiert ist, sich überlegen zu müssen, wo ist eine Grenze, wo ist ein Problem, vielleicht nicht nur durch mein eigenes Wissen, sondern möglicherweise auch durch diagnostische Möglichkeiten, die jetzt technisch unter Umständen gerade vor Ort vorhanden sind, gesetzt. Was gibt es für Möglichkeiten, die zu umgehen, zu lösen und sozusagen trotzdem dem Patienten zu helfen und dabei halt immer den Blick zu behalten auf den Menschen im Mittelpunkt oder auf den Patienten im Mittelpunkt."

    Lange galt die praxisorientierte Ausbildung in Witten als Musterbeispiel der Arztausbildung. Die aktuelle Kritik des Wissenschaftsrats können die Studenten nicht nachvollziehen. Schließlich sind die Wittener Nachwuchsmediziner, wie Till Boluarte, der im 6. Semester ist, mit ihrer Ausbildung sehr zufrieden.

    "Einerseits durch das Studium fundamentale, diese Persönlichkeitsentwicklung, die auch im Zentrum steht, aber zum weiteren auch diese integrierten Curricula, wo auf Kommunikation, auf Ethik, Wissenschaft und auch Gesundheitsökonomie Schwerpunkte gesetzt werden, wo ja auch sich die Zukunft der Medizin sich immer weiter hinbewegen wird und wo wir denken, das sind wichtige Aspekte, also für einen Mediziner ist unabdingbar natürlich, dass er mit Menschen kommunizieren kann und dass er ethisch und wissenschaftlich denkt und auch in Zukunft immer mehr ein gesundheitsökonomisches gesamtgesellschaftliches Verhältnis hat von den Ressourcen, die verbraucht werden. Und das sind eben auch Schwerpunkte, die hier über das normale Wissen und Fähigkeiten des Mediziners hinaus gelehrt werden."

    Ohnehin könnten sich die angehenden Mediziner aus Witten durchaus mit ihren Kommilitonen in herkömmlichen Studiengängen messen. Und das nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Forschung, sagt Christian Schulz.

    "Wenn eben in Witten die Forschungsbreite nun einmal nicht so breit sein kann wie sie an einer großen, staatlich finanzierten Universität ist, dann muss ich mir eben selber Möglichkeiten suchen, zu forschen. Sehr viele von uns gehen ins Ausland. Sehr viele von uns generieren eigene Forschungsprojekte, beginnen selbst zu forschen oder beginnen sehr früh schon mit ihrer Dissertation mit ihrem Promotionsverfahren. Es ist einfach so, dass ich glaube, dass es sicherlich Verbesserungsmöglichkeit gibt, aber dass hier in Witten nicht geforscht würde, oder dass hier mittelklassig geforscht würde, das würde ich wirklich sehr stark anzweifeln und das würde ich auf einen Test drauf ankommen lassen."