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Die ewige Revolte

'68 war die Utopie einer Befreiung von Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung, von sexuellen Zwängen und gesellschaftlichen Konventionen. Nach den Jahren ihrer fiebrigen Träume zwischen Weltrevolution und neuem Menschen war die Ernüchterung umso größer. Im Grunde dauert sie bis heute.

Von Reinhard Mohr | 01.05.2008
    Seit Jahrzehnten beherrschen zwei große Themen die politische wie gesellschaftliche Debatte in Deutschland: Die Nazis und die 68er. So völlig unvergleichlich die jeweiligen Ereignisse, ihre Bedeutung und Folgen sind, so sehr dominieren sie gleichermaßen in rhapsodischen Abständen und konvulsivischen Aufwallungen die öffentliche Diskussion in der Bundesrepublik. 1945 und 1968, das Ende des "Dritten Reichs" und der Höhepunkt der Studentenrevolte – sie sind offenkundig die Erregungspunkte der deutschen Seele, die markantesten Daten der deutschen Nachkriegsgeschichte.

    Selbst der Fall der Berliner Mauer von 1989, der Zusammenbruch des sowjetisch beherrschten Ostblocks und die Befreiung aus der Diktatur des "real existierenden Sozialismus" verblassen dagegen. Was auf den ersten Blick unverständlich erscheint, ist jedoch durchaus plausibel. Denn die so genannte "friedliche Revolution" von 1989 mündete rasch in jene westeuropäische Normalität eines mühsamen demokratischen Alltags, die wenig Begeisterung hervorruft. Einzig der kurze Augenblick, als der "Eiserne Vorhang" zerbrach und viele Menschen vor Aufregung nur noch das Wort "Wahnsinn!" herausbrachten, blieb in romantisch-sentimentaler Erinnerung.

    Doch scheint er kaum nachzuwirken, und der emphatische Begriff von der Freiheit hat sich in all den Hartz-IV-Streitereien und dem ewig währenden Talkshow-Geplapper längst verflüchtigt. Ein endemisches Manko in Deutschland seit den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert.

    Ganz anders ist es bei den Wendepunkten, die sich mit den Jahreszahlen von 1945 und 1968 verbinden. Zuweilen scheint es, dass die Wirkmächtigkeit dieser beiden historischen Einschnitte umso größer wird, je ferner sie in die Vergangenheit rücken.

    Was bei dem ungeheuerlichen Erbe von Weltkrieg, Naziterror und Holocaust allerdings mit guten Argumenten erklärbar ist, liegt im Falle der Rebellion der 68er eher im Nebel des schwankenden Zeitgeists. Woher kommt die zuverlässig wiederkehrende Erregung über die Rebellen von einst, die vor genau 40 Jahren durch die Straßen von Berlin, Frankfurt und Hamburg liefen, Ho Chi Minh hochleben ließen und die sofortige Weltrevolution forderten? Woher all die Debatten über bürgerlichen Werteverfall und Familienzerstörung, die angeblich ihren verheerenden Ausgang in der Kommune 1 nahmen?

    Woher der Drang, immer wieder die Deutungsmacht über jene roten Jahre zu erringen, die im Bewusstsein der 14- bis 49-Jährigen, jener berühmt-berüchtigten Werbezielgruppe der fortgeschrittenen Mediengesellschaft, so fern scheinen wie das Mittelalter? In einem Wort: Woher rühren Lust und Leidenschaft, schon hundert Mal geschlagene Schlachtern um richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, links oder rechts, Fluch oder Segen noch einmal zu schlagen?

    Längst befinden sich die Alt-Rebellen und Barrikadenkämpfer von einst im Rentenalter oder gefühlten Vorruhestand, und seit Jahrzehnten ist klar, dass die Revolte von 1968 absolut gescheitert ist, wenn man sie an ihren selbst gesetzten politischen Zielen misst. Keine Revolution nirgends. Anarchie war leider doch nicht machbar, Frau Nachbar!

    Mehr noch: Die Utopie einer umfassenden Befreiung von Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung, von sexuellen Zwängen und gesellschaftlichen Konventionen, der Traum von einem geradezu überirdisch leichten, gleichsam schwebenden Dasein freier Menschen auf freiem Grund, Brüder unter Brüdern, Schwestern unter Schwestern – all das scheint für immer ausgeträumt. Aus und vorbei!

    Hier haben die 68er erfolgreich Tabula rasa gemacht. Nach den Jahren ihrer fiebrigen Träume zwischen Weltrevolution und neuem Menschen, nach dem Wetterleuchten einer Epoche rauschhaften Glücks war die Ernüchterung umso größer, tiefer und anhaltender.

    Im Grunde dauert sie bis heute. Daran ändern einzelne Revolutionssucher so wenig wie die Globalisierungsgegner von "Attac" oder die disparate Mischung aus frustrierten Gewerkschaftern, linken Sozialdemokraten und Altkommunisten jeglicher Provenienz, die nun Morgenluft wittern und sich in der Partei "Die Linke" gesammelt haben. Das helle "Licht", das nicht nur der Altkommunarde Rainer Langhans 1968 aufgehen sah wie den Schweif eines Kometen, ist verloschen, und der Glaube an seine Wiederkehr nur sehr schwach ausgeprägt.

    Peter Schneider, Original-Alt-68er der ersten Stunde, hat gerade den Augenblick seiner ersten Ernüchterung beschrieben, nachdem er bei "Bosch" in Berlin bemerkt hatte, dass das Proletariat trotz intensiver Bemühungen beim Verpacken der Zündkerzen nicht wirklich für die Revolution zu begeistern war:

    "Wie viele meiner Generationsgenossen, die die gleiche Erfahrung gleichzeitig unter anderen Umständen oder auch erst einige Jahre später gemacht haben, fiel ich in ein tiefes Loch. Meinen bisherigen Gewissheiten, dem alten Koordinatensystem aus Vornamen, freundschaftlichen Püffen, einverständigen Parolen, Szenekneipen und gemeinsamen Besäufnissen traute ich nicht mehr. Endlich wusste ich, woran ich nicht mehr glaubte. Ich war unendlich weit davon entfernt, zu wissen, was ich wollte."

    Umso stärker – und verwunderlicher – ist nach wie vor die Faszination dieses Ereignisses, das einerseits politisch mausetot und historisch längst erledigt erscheint, andererseits aber immer wieder wie eine Kreuzung aus Loch Ness und Schneewittchen aus der Grube fährt. Auch der Chefredakteur der "BILD"-Zeitung hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, wie verhängnisvoll der Fluch von 1968 bis heute über der bundesdeutschen Gesellschaft lastet und das Gift von Emanzipation und Selbstverwirklichung bis ins bereits morsch gewordene Knochenmark der Leistungselite vordringen ließ.

    Den leidenschaftlichen 68er-Hassern fällt dabei gar nicht auf, wie widersprüchlich ihre Argumentation ist: Einerseits wird die Revolte langhaariger Faulenzer, die es sich zwischen Apfelsinenkisten und Matratzenlagern bequem gemacht hätten, zur lächerlichen Revolutionsfolklore verwöhnter Bürgersöhnchen herabgewürdigt – andererseits stilisiert man sie zum übermächtigen Jahrhundertverhängnis, das noch 40 Jahre später die Erziehung der Kinder, die freie Marktwirtschaft und den Zusammenhalt der Familie wie des freien Westens unterminiert.

    Doch all das zeigt nur, wie tief 1968 im Bewusstsein auch jener verankert ist, die es bis heute erbittert bekämpfen, je später, desto heftiger und unversöhnlicher – nicht zuletzt in der Realität der Gesellschaft, die sich auf so vielfältige Weise verändert hat, seit nicht mehr Luis Trenker das Vorbild der Jugend ist, sondern Dieter Bohlen. Fast könnte man geneigt sein zu sagen: Die Konservativen von echtem Schrot und Korn, so weit es sie überhaupt noch gibt, müssen '68 immer wieder neues Leben einhauchen, um sich selbst lebendig zu fühlen. Immer wieder beklagen sie die rücksichtslose Egozentrik der einstigen Rebellen, deren gnadenloser Drang zur Selbstverwirklichung nun auch noch, nach der selbstverständlich von ihnen verschuldeten demografischen Katastrophe sinkender Geburtenraten, zur skrupellosen Plünderung der Renten- und Pensionskassen führt.

    In all dem Geboller und Getöse wird man den Eindruck nicht los, dass ein derart verbittert-freudloses und selbst reichlich zielloses Denken jener verbliebenen Konservativen einer eigenen Dialektik der Negation folgt: Ohne die Schimäre der ewigen 68er samt ihrer legendären Freveltaten wären sie ganz allein zu Haus und völlig hilflos auf dieser Welt, die ihren Glauben an sich selbst aus ganz anderen Gründen weithin verloren hat.

    In Wahrheit ist 1968 natürlich längst eingemeindet, vieltausendfacher Teil der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, die von fast allen insgesamt als Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie angesehen wird. So sind auch die 68er selbst alles andere als Ausgestoßene und Verlierer. Ganz im Gegenteil: Sie gehören zum tragenden Mittelbau der Gesellschaft, und einer, Joschka Fischer, hat es gar zum Außenminister gebracht, dem noch Jahre später große Fernsehporträts zur besten Sendezeit gewidmet werden.

    Dabei ist eigentlich ziemlich klar, warum das schillernde Ereignis bis heute die Gemüter erhitzt: 1968 war der letzte Versuch in Europa und anderen Teilen der Welt, eine Art moderner Revolution anzuzetteln, die blaue Blume romantischer Menschheitsaufbrüche noch einmal tiefrot zu färben. Trotz aller irrlichternden Flüchtigkeit war es ein veritables Drama verglichen mit all den melodramatischen Aufregungen, die uns seitdem beschäftigen – vom Ozonloch bis zur Klimakatastrophe. Noch einmal sollte die Geschichte in die eigenen Hände genommen werden, um die Verhältnisse, fast 100 Jahre nach Karl Marx’ "Kommunistischem Manifest", endlich zum Tanzen zu bringen.

    So absurd dies vielen damals wie heute erscheinen mochte, so verrückt, großsprecherisch und waghalsig zugleich, so sehr hat es doch Eindruck gemacht auch bei jenen, die allenfalls Zuschauer waren oder als Nachgeborene in diesen Tagen die merkwürdig verwackelten Schwarzweißbilder von Dutschke & Co. betrachten.

    Die geradezu unverschämte Chuzpe, mit der eine ganze Generation, genauer: der verhaltensauffällige Teil von ihr, noch einmal aufs Ganze ging, auf die Umwälzung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse, verblüfft bis heute. Und bis heute kann eigentlich niemand genau erklären, warum die große rebellische Unruhe gerade Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ausbrach – mitten in einer Phase von Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand, geringer Arbeitslosigkeit und sozialer Aufstiegschancen. Womöglich ist es gerade das teils Unerklärliche, Plötzliche, auch Irrationale, das den Mythos '68 immer neu befeuert. Eben jene Motive, die weniger in den Bücherbergen, Bibliotheken und Archivkellern zu finden sind, welche die Revolte hinterlassen hat, weniger in historisch-soziologischen Abhandlungen, sondern eher in der Musik der Doors und der Beach Boys, von Jethro Tull und Bob Dylan, Eric Burdon und Cat Stevens, Deep Purple und Velvet Underground, Lou Reed und Jefferson Airplane.

    Kurz: In jenem Lebensgefühl, das als "Sex’n Drugs’n Rock ‚n’ Roll" zur Chiffre wurde, zur Kurzformel jener Ära, in der die Dinge zu schweben schienen und dabei buchstäblich in einen anderen Aggregatzustand übergingen.

    Womöglich sieht man im Abstand von vier Jahrzehnten auch klarer als jemals zuvor, das '68 in all seinen Facetten eine unglaublich gute Story war, geradezu ein epochaler FilmFilmFilm, großes Kino mit großen Gefühlen. Letztlich handelte es sich um eine gigantische Lovestory, und Dany Cohn-Bendit hat Recht, wenn er sagt:

    "Wir haben sie so geliebt, die Revolution."

    Mehrmals im Jahr werde er von Filmproduzenten aus aller Welt angesprochen, erzählte die Symbolfigur des Mai '68 in Paris jüngst. Sie alle wollen den Film drehen, das Epos über jene letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste. Das Problem aber sei, dass es zu viele Rollen und Darsteller gebe für eine klassische Kinodramaturgie. Zu viele Handlungsstränge, zu viele Perspektiven. Nicht zuletzt: Zu viele Sichtweisen und Meinungen. Ein disparates Knäuel, ein Patchwork eben. Deshalb auch empfahl Hans Magnus Enzensberger, der im allseits begangenen Jubiläumsjahr bemerkenswerterweise kein eigenes Buch zum Thema vorgelegt hat, schon vor Zeiten die Form der Collage. Denn "jeder Versuch, den Tumult intellegibel zu machen", lande "notwendig im ideologischen Kauderwelsch".

    Vor 30 Jahren, zehn Jahre "danach", klangen die Versuche, 1968 zu verstehen, noch ganz anders. Vor allem die Protagonisten selbst waren noch viel dichter an der Sache, neudeutsch: die "Betroffenheit" war größer. So auch bei Thomas Schmid, heute Chefredakteur von "Welt". 1979 resümierte er den Katzenjammer der Linken noch beinah poetisch:

    "Mehr als zehn Jahre nach der Revolte wiegen deren Gewissheiten nicht mehr viel...Eher Stimmungen, das Gefühl eines Verhängnisses herrschen vor. Etwa derart: Türen, von außen und innen fest zu; mit dem Genossen teilst Du keine Gegenwart, sondern eine verlorene Vergangenheit – von Zukunft nicht mehr zu reden; lähmende Wehmut, klein gewordener Horizont; junge (doch alte) Liebe fürs Detail, weil Größeres – scheint es – scheitern musste; von der ungeheuren Erfahrung einer einmal existentiellen Revolte der gerade noch gebliebene dürre Wunsch nach einer ‚anderen’ Gesellschaft... Die Revolte von '68 hat für einen Moment lang das Zeitgefüge der herrschenden Macht aufgebrochen, hat die Uhren zerschossen und eine neue Zeit gesetzt. Heute ist wieder der Normalzustand verhängt."

    Zehn Jahre später ist der Blick zurück schon milder und weniger verletzt, abgeklärt und nostalgisch zugleich, nüchterner als zuvor, aber immer noch beseelt. 1988 schrieb Schmid:

    "Um es bescheiden auszudrücken: wer von '68 erfasst wurde, erinnert es als eine hinreißende, leidenschaftliche, überschwängliche Zeit: das selbstkonstitutive ‚Du’ (kostbar, nicht die spätere Massenware); die freudige Entdeckung eines Mediums, das in der Agenda der bürgerlichen Gesellschaft nicht vorgesehen war: des Flugblatts und der Wandzeitung; morgens, in fremder Stadt, beim Frühstück in der Wohnung der Genossen, die man tags zuvor noch nicht kannte...; der lustvolle Ausstieg aus der Ökonomie der Zeit... der Rausch der Selbstvergewisserung."

    Weitere 20 Jahre später, zum 40. Dienstjubiläum der Revolte im Jahr 2008, schweigt Thomas Schmid. Dafür melden sich reichlich andere zu Wort. Die steilste, spektakulärste und zugleich abwegigste These formulierte ein Kollege, der kurzerhand und werbeträchtig die beiden großen Motive deutscher Vergangenheitsbewältigung zusammenwarf: Eigentlich und im tiefsten Grunde seien auch die 68er Nazis gewesen, späte Nachkommen ihrer Eltern, deren totalitäre Erfahrungsmuster und Vorstellungswelten sie gleichsam kopierten und wiederholten.

    Die Mehrzahl der anderen Jubiläumsbetrachtungen bewegte sich jedoch im Mittelfeld eines abgewogenen Urteils zwischen nachvollziehender Sympathie und präziser, nicht selten scharfer Kritik. Gerade der Abstand von 40 Jahren gewährt die Chance, einen souveränen Blick zurück zu werfen, der weder romantisierende Mythen pflegt noch die grandiosen Irrtümer und Irrwege beschönigt, ohne jedoch dem billigen Impuls einer nachgeholten Abrechnung zu verfallen, die eher Denunziation als Reflexion ist.

    Tatsächlich wird ´68 schon seit Jahrzehnten, seit Ende der siebziger Jahre immer wieder einer radikalen Kritik, besser: Selbstkritik unterworfen worden – vor allem durch jene "Renegaten", ehemalige "Revolutionäre", die genau wussten, wovon sie sprachen und wovon sie sich für immer verabschiedeten. Gerd Koenen, einst Chef des Kommunistischen Bundes Westdeutschland in Frankfurt am Main, hat vor Jahren mit seinem 500-seitigen Buch über das "Das rote Jahrzehnt" das brillante Standardwerk der 68er-Selbstreflexion vorgelegt.

    Schärfer als in dieser ebenso material- wie detailreichen, zugleich tiefsinnig analytischen Exegese hat kein Konservativer je die Rebellion vor vierzig Jahren samt ihrer ideologisch-totalitären Abirrungen in die Mangel genommen. Andererseits werden in dieser buchstäblich voluminösen, mehrdimensionalen und vielgestaltigen Darstellung die Triebfedern der Revolte deutlich sichtbar, nicht zuletzt ihre internationalen Verknüpfungen und Wechselwirkungen.

    Gerade dieser selbstkritische Blick abseits verspäteter Teufelsaustreibungen und kalkulierter Selbsthasstiraden offenbart die ganze Ambivalenz jener politischen Bewegung, die ohne ihre psychisch-emotionalen Motive gar nicht zu verstehen ist. Eine ganze Serie von Widersprüchen prägte ihr Erscheinungsbild und die Logik ihrer Entwicklung: Sie begann als Freiheitsbewegung, als Aufstand der Sinne gegen eine als erstarrt empfundene Republik – und endete in Dogmatismus und Gewalt.

    Von Anfang an bewegte die Rebellen zugleich eine ganz praktische Suche nach Wahrheit und Glück; die Sprache der 68er aber strotzte nur so vor theoretischen Begriffsungetümen und hochabstrakten Ableitungsformeln. Die "Ideologiekritik" am Selbstverständnis der bürgerlichen Welt wurde rasch ihrerseits ideologisch – zur Ideologie einer sozialistischen Revolution.

    Das Kollektiv, die Gruppe, schließlich "die Massen" und die Organisationen ihrer endgültigen Befreiung dominierten das Bild der Revolte, aber sie war auch sehr individualistisch, geradezu narzisstisch auf "Selbstverwirklichung" bedacht, auf die Sensibilitäten und Sensationen eines ganz anderen Lebens. So ist es kein Zufall, dass außergewöhnliche Individuen, Persönlichkeiten wie Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl und Daniel Cohn-Bendit, zu herausgehobenen, charismatischen Sprechern einer Bewegung wurden, die sich doch am liebsten in der kollektiven "Wir"-Form artikulierte und die Gleichheit aller Menschen auf ihre Fahnen schrieb.

    Man war militant bis zur offenen Gewaltausübung, doch zugleich wurde ein radikaler Pazifismus gepredigt, dessen Logik vom Beginn des 20. Jahrhunderts rührte: Krieg war immer der Krieg der herrschenden Klasse gegen die Ausgebeuteten aller Länder gewesen.

    In ihren Aktionen zeigte sich die Rebellion oft spielerisch-provokativ, zuweilen auch naiv-pubertär mit einem Hang zum gespielten Pennälerwitz; andererseits wurden ihre Protagonisten nicht müde, einen weltweiten Kampf auf Leben und Tod zu beschwören, vor allem angesichts des eskalierenden Vietnamkriegs und der latenten Atomkriegsdrohung.

    Zur Utopie einer befreiten Welt gehörte das apokalyptische Pathos, das in der Alternative gipfelte: "Sozialismus oder Barbarei!" Auf dem Vietnamkongress im Februar 1968 in Berlin rief Rudi Dutschke den fünftausend Anwesenden zu:

    "Genossen, Antiautoritäre, Menschen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und ist keine Phrase. Wenn in Vietnam der US-Imperialismus überzeugend nachweisen kann, dass er fähig ist, den revolutionären Volkskrieg zu zerschlagen, so beginnt erneut eine lange Periode autoritärer Weltherrschaft von Washington bis Wladiwostok. Wir haben eine historisch offene Möglichkeit. Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird...
    Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!"

    Hier schließt sich gleich der nächste Widerspruch an: Einerseits die hoch aufragenden Gebäude theoretischer Welterklärung, andererseits ein beinah spontaneistischer, ja voluntaristischer Drang zu Aktion, eben ganz so, als hänge der Gang der Geschichte tatsächlich von "unserem Willen" ab.

    Dazu passt ein weiteres Gegensatzpaar: Man dachte global lange vor der Globalisierung, handelte aber vorwiegend lokal, wenn nicht gleich im Lokal, jedenfalls dort, wo man unter seinesgleichen war und die Nächte durchdiskutieren konnte. Der Kurfürstendamm, die lokale Berliner Demonstrationsmeile par excellence, war dabei stets mit den Straßen von San Francisco verbunden. Im internationalen Geist der Revolte, versteht sich.

    Auch die Sexualität galt als befreites Gebiet, nicht nur in der berüchtigten Kommune 1. Antibaby-Pille, immer kürzere Miniröcke und die ausschweifenden Orgasmustheorien von Wilhelm Reich sorgten für eine neue Leichtigkeit des Beisammenseins. Das reichte aber nicht, es musste auch ständig darüber geredet werden. Dies geschah zuweilen derart intensiv, dass die gerade befreite Lust im Bermudadreieck von Problematisierung, Psychologisierung und Revolutionierung des Subjekts verschwand. Stattdessen machten sich politische Rigidität und sexuelle Frustration breit. Ein "grausames Zwangssystem" nannte das schon damals SDS-Mitglied und Psychoanalytiker Reimut Reiche. Kollektive Selbsttherapie als hausgemachter Terrorzusammenhang. Die Hölle – das sind immer die anderen in der Wohngemeinschaft.

    Doch 1968 war insgesamt ein riesiges Experimentiergelände, ein Laboratorium der Gesellschaft, das recht eigentlich von niemandem bestellt worden war und auf eigene Faust Feldforschung betrieb.

    Es dampfte, zischte, blubberte und brodelte, und jede noch so abenteuerliche Hypothese einer beliebigen Versuchsanordnung lieferte ihre Antithese gleich mit, auch wenn es den Akteuren kaum bewusst war. Am wenigsten war den antibürgerlichen Revolutionären bewusst, wie bürgerlich sie waren. Selbst Hans Magnus Enzensberger, damals schon ein gefeierter Schriftsteller mit Berliner Stadtvilla, polyglotter Weltbürger von eigenen Gaben, bekannte sich 1967 zum politischen Verrat an seiner Klasse und rief zum Sturz des bürgerlich-kapitalistischen Systems auf:

    "In der Tat, was auf der Tagesordnung steht, ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die Revolution. Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues ersetzen. Tertium non dabitur."

    Auch der subtil-ironische Geist des stets seismographisch reagierenden Intellektuellen Enzensberger war einen historischen Augenblick lang blutrot eingefärbt, Robespierre und Danton ließen grüßen, und womöglich gibt es kaum einen besseren Beleg für die geschichtliche Bedeutung von '68: Der Geist wehte links und radikal selbst bei jenen, die schon damals eher dem Ideal des aufgeklärt-liberalen Bildungsbürgers entsprachen als dem des ungestümen Revolutionärs.

    Theodor W. Adorno, der deutsch-jüdische Emigrant aus Nazideutschland und Kopf der Kritischen Theorie alias "Frankfurter Schule", hatte schon Jahre zuvor ein klassisches Leitmotiv dieser neuen Radikalität geliefert.

    "Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung. Wir gehören ihr nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen. Alle sind unfrei unter dem Schein, frei zu sein."

    Apodiktischer kann Gesellschaftskritik nicht sein, und doch war es gerade Adorno, der philosophische Übervater der studentischen Linken, der 1968/69 ins Kreuzfeuer seiner revolutionären Schüler geriet: Wie sein Kollege Jürgen Habermas kritisierte er den politischen Kurzschluss zwischen Theorie und Praxis, der in die manifeste Gewalt mündete. In einem Brief an Günter Grass schilderte Adorno seine "steigende Aversion gegen jegliche Art von Praxis, in der mein Naturell und die objektive Aussichtslosigkeit von Praxis in diesem geschichtlichen Augenblick sich zusammenfinden mögen", und in einem Zeitungsinterview fügte er seine Ablehnung des studentischen "Aktionismus" hinzu: Diese Art der "Pseudo-Aktivität" sei "generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten".

    Wie prophetisch dieser Satz war, wurde vielen Beteiligten erst Jahre später bewusst. Aber er markierte damals schon nicht nur die Bruchlinie zwischen Theorie und Praxis, sondern auch jene zwischen der ersten Phase der Rebellion und der darauf folgenden Metamorphose unterm Banner einer imaginierten Weltrevolution.

    Gerade auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen den tatendurstigen 68ern und ihrem auf theoretischen Einsichten beharrenden Mentor offenbarte sich das Dilemma der Revolte: Zurück wollte und konnte sie nicht mehr, nach vorn aber ging es nur um den Preis einer fortschreitenden Selbstradikalisierung.

    Es war zugleich ein Wettkampf um die "konsequenteste" revolutionäre Praxis, den die terroristische "Rote Armee Fraktion" von Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin gegen die harte Konkurrenz maoistischer K-Gruppen, militanter Spontis, umherschweifender Haschrebellen und marxistischer Debattierzirkel eindeutig für sich entschied.

    Heute, nachdem sich der letzte Pulverdampf verzogen hat und auch der Rauch der dicken Haschischtüten vorwiegend im privaten Zirkel zur beigefarbenen Wohnzimmerdecke aufsteigt, lässt sich durchaus eine Bilanz ziehen, freilich nicht sauber nach Soll und Haben getrennt. Denn wer vermöchte nach 40 Jahren zu sagen, welche Wirkungen, ob fatal oder genial, auf die 68er zurückzuführen sind und welche auf ganz andere gesellschaftliche, globale, wissenschaftliche, ökonomische, politische und kulturelle Faktoren?

    Der Wechselwirkungen waren viele, und niemand kann mehr exakt die einzelnen Ursachen und Folgen herauspräparieren und kantenscharf zuordnen, ganz egal, ob es sich um notorische ideologische Verirrungen der Ex-Rebellen handelt oder um die segensreiche Verteidigung des bürgerlich-parlamentarischen Systems durch standhafte Konservative. Die Frage, welche Modernisierungs- Liberalisierungs- und Emanzipationstrends sich auch ohne – gar gegen – die Rebellen durchgesetzt hätten, welche die 68er nur verstärkt und welche sie tatsächlich angestoßen haben – all das ist heute nur schwer zu entscheiden.

    Eines aber steht fest: Seit 1968 sind Protest und Widerstand gegen die Obrigkeit gesellschaftsfähig geworden – in Deutschland immer schon ein schwieriges Pflaster. Zwar gab es auch schon in den fünfziger und frühen sechziger Jahren zahlreiche politische Demonstrationen, wie vor allem der Historiker Wolfgang Kraushaar in seiner eindrucksvollen mehrbändigen "Protestchronik" dokumentiert hat. Doch die Selbstverständlichkeit, als Bürger einer demokratisch verfassten Republik die Autorität des eigenen Staates radikal in Zweifel ziehen zu dürfen, wenn sie sich moralisch oder anderweitig blamiert, ist erst nach '68 gewachsen.

    So banal es klingt – es stimmt einfach: Anti-Atomkraft-, Umwelt- und Ökologiebewegung genauso wie die unzähligen Bürgerrechts- und Verbraucherschutzinitiativen, kurz: das ganze Geflecht bürgerlichen Engagements in der Zivilgesellschaft ist ohne '68 kaum denkbar.

    Dabei hat sich, zuweilen hinterrücks, eine raffinierte Dialektik entwickelt: Aus der scharfen Konfrontation zwischen Atomkraftgegnern und den staatlichen Ordnungskräften in den siebziger Jahren ist, freilich unter Mühen und Krämpfen, ein fast hegelianischer Anerkennungstango geworden: Der Staat beschloss den Atomausstieg, nachdem seine einst erbitterten Gegner den Einstieg ins parlamentarische System fanden, das sie eben noch bekämpft hatten.

    Die Partei der "Grünen", an deren Gründung 1979 noch Rudi Dutschke beteiligt war, steht exemplarisch für diesen Weg.
    Ähnliches gilt für den Generationenkonflikt zwischen den Nazi-Vätern und ihren Kindern. Die massenmediale Aufarbeitung der NS-Vergangenheit mit ihren schon allzu populären Fernseh-Inszenierungen à la Guido Knopp wären in den sechziger Jahren nicht möglich gewesen. Hier hat sich seit Mitte der achtziger Jahre ein Konsens herausgebildet, der mehrheitsfähig ist, mag man ihn hier und da auch als oberflächlich, ästhetisch wohlfeil und "politisch korrekt" empfinden.

    Insgesamt hat sich die Bundesrepublik, auch nach der staatlichen Vereinigung mit der Ex-DDR 1990, als bemerkenswert wandlungsfähig und reformbereit erwiesen – trotz des endemischen Gejammers über die "blockierte Republik".

    Der Anteil der 68er an diesem Prozess ist äußerst widersprüchlich: Einerseits haben sie lange Zeit all die Reformen stets als betrügerische Maskerade des parlamentarisch-kapitalistischen Systems, als bloßen "Schein", verachtet, andererseits erfuhren sie buchstäblich am eigenen Leibe, dass es zu ihnen letztlich keine friedliche und leidlich demokratische Alternative gibt.

    Wie kaum ein anderer repräsentiert Joschka Fischer diesen politischen Lernprozess, der ihn und seine Generationsgenossen ein halbes Leben gekostet hat. Aber sie haben die Zeit auch genossen. Die Schriftstellerin Eva Demski nannte diese beinah endlos ausgedehnte Adoleszenz einmal in dezenter Übertreibung "die längste Kindheit der Weltgeschichte".

    Inzwischen pochen die Renegaten der Revolte zuweilen mit mehr Inbrunst auf demokratische Verfahren und die Gesetze eines pragmatischen Realismus als ihre ehemaligen bürgerlichen Antipoden. Überzeugungstäter sind sie jedenfalls geblieben, die 68er.

    Diese Haltung macht sich sicher auch im Jahr der Jubiläumsfeierlichkeiten bemerkbar: Die meisten "stehen" zu ihrer Vergangenheit, mit und ohne "Sündenstolz". Sie wollen nicht zum tausendsten Mal Abbitte leisten, sie schwelgen aber auch nicht in ihren angeblich gloriosen Heldengeschichten. Sie leben im Hier und Jetzt. Ihre große Zeit liegt vierzig Jahre zurück.

    Eine Spur in der Geschichte haben sie dennoch hinterlassen. Sie entspricht ungefähr dem, was schon Adorno, bei aller Kritik, der Studentenbewegung attestiert hatte: den Widerstand gegen die "verwaltete Welt", den Kampf gegen die Entwertung des Subjekts in der technokratischen Gesellschaft. Rebellion, so glaubte auch er, war durchaus gerechtfertigt.

    Es mag eine Ironie der Geschichte sein, aber auch hier hat eine hintersinnige Dialektik funktioniert: Das ursprüngliche Motiv des Freiheitsdrangs setzte sich am Ende gegen die kollektivistischen, gar totalitären Ideologien durch. Ein ungestümer Hang zu Selbstverwirklichung und individuellem Glücksstreben dominierten schließlich in jener "kleinen deutschen Kulturrevolution", die so viel von Marx, Ho Chi Minh und Che Guevara geschwärmt hatte.

    Doch auch die Freiheit, das mussten viele 68er erst lernen, hat einen Schönheitsfehler: Mit ihr fangen die Probleme erst richtig an.