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Die exakte Sprache der Knochen

Paläoanthropologie. - Das A und O für die Konstruktion des menschlichen Stammbaums ist weiterhin der Vergleich von Merkmalen, mit dem man die wenigen fossilen Funde unserer Ahnen zueinander in Beziehung setzt. Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wollen diesen Merkmalsvergleich so exakt wie möglich durchführen. Ihr Testobjekt ist ein in Griechenland gefundener Schädel aus der Übergangszeit zwischen Homo heidelbergensis und dem Neandertaler.

Von Michael Stang |
    Auch 46 Jahre nach dem Fund des Schädels von Petralona ist immer noch nicht klar, zu welcher Hominidenform das Fossil gehört: Entweder ist er ein früher Neandertaler, dann wäre er nicht älter als 270.000 Jahre oder gehört er zu der Vorgängerform Homo heidelbergensis, damit wäre ein Alter von bis zu 800.000 Jahren möglich. Jetzt haben Forscher vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig den Schädel von Petralona mit einer 3D-Technik untersucht, um das Rätsel zu lösen.

    "Bei der Methode habe ich einen mechanischen Arm verwendet, der mit einem Computer verbunden war. Danach habe ich verschiedene anatomisch wichtige Punkte auf dem Schädel markiert, die der Rechner sofort übernommen hat. Aus diesen Punkten konnten wir ein 3D-Profil des Schädels erstellen. Danach konnten wir den Schädel mit anderen vergleichen, da wir etwa die Größe aller Objekte vereinheitlichen konnten. Dadurch sind eine exakte statistische Analyse und ein Vergleich der sich überlagernden Koordinaten möglich."

    Katarina Havarti kann mit dieser 3D-Methode den Schädel erstmals mit mathematischen Methoden vermessen. Bisherige Messmethoden waren zum Teil nur auf Tast- und Gleitzirkel beschränkt, die eine objektive mathematische Analyse unmöglich machten. Die Anthropologin hat mittlerweile rund 150 Schädel mit dieser Methode analysiert, darunter auch einige von Neandertalern. Havarti:

    "Mit dieser Methode können wir nun zum ersten Mal nicht nur mutmaßen, dass es sich bei einem bestimmten Merkmal etwa um das eines Neandertalers handelt, sondern wir können es einfach messen und beweisen, das war bislang unmöglich. Vorher wurden die Merkmale per Hand gemessen oder nur durch eine reine Betrachtung analysiert."

    Beim Schädel von Petralona reichten schon 24 markante Messpunkte, um ein dreidimensionales Bild der Schädeloberfläche zu erhalten. Anschließend verglich Katarina Havarti die Ergebnisse mit den Schädeln aus ihrer Datenbank und kam zu einem überraschendem Ergebnis: Das Petralonafossil besitzt nicht nur primitive - also althergebrachte -, sondern schon einige abgeleitete, also jüngere, Merkmale, die bislang als reine Neandertalereigenschaften galten. Damit ist der Fund tatsächlich eine Übergangsform, die weder als reiner Homo heidelbergensis noch als klassischer Neandertaler bezeichnet werden kann. Havarti:

    "Mit dieser Technik können wir einfach Daten aus den Fossilien der frühen Menschheitsgeschichte gewinnen, weil wir die exakten anatomischen Strukturen erfassen können. Bei dem Petralona-Schädel können wir nun schauen, wie deutlich bestimmte Neandertalermerkmale ausgebildet sind oder ob er doch eher wie der afrikanische Schädel von Kabwe aussieht. Das ist eine sehr komplexe Fragestellung und sie ist anscheinend wesentlich komplizierter, als wir bislang angenommen haben."

    Jedoch steht Katarina Havarti mit ihren Messungen erst am Anfang. Um das Übergangsfossil zweifelsfrei in den Stammbaum des Menschen einordnen zu können, müssen auch die anderen, zum Teil umstrittenen, Schädel untersucht werden. Dazu gehört auch der knapp 300.000 Jahre alte Fund von Kabwe in Sambia, der einige Merkmale besitzt, die der Vorgängerform des Neandertalers angerechnet werden. Dieser ist aber ebenso wie das griechische Fossil ein Einzelstück, zu dem es keinen vergleichbaren Fund gibt. Havarti:

    "Ich denke, das wirklich Neue an diesem Ansatz ist, dass wir jetzt einfach mathematisch und statistisch verwertbare Daten haben, die wir jederzeit wiederholen können und nicht einfach nur sagen ‚Ich denke, der Schädel sieht wie diese oder jene Form aus.' Das Erstaunliche ist, dass beide Positionen richtig lagen, da der Schädel sowohl abgeleitete Neandertaler-Merkmale aufweist, aber auch noch einige Merkmale wie der afrikanische Schädel von Kabwe hat. Die einzige Möglichkeit, das Rätsel endgültig zu lösen ist, dass wir alle relevanten Schädel aus Afrika mit dieser Methode untersuchen und das hoffentlich schon in naher Zukunft."

    Obwohl der Schädel von Petralona nun in seinen Einzelheiten bekannt ist, kann auch Katarina Havarti ein Problem noch nicht lösen: seine Stellung im Stammbaum des Menschen. Eine endgültige Klärung können nur kommende Messungen liefern und natürlich weitere gut erhaltene Fossilien.