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Die Fakten hinter der Legende

Geschichte braucht ihre Schauplätze. Und der Berliner Alexanderplatz gehört zweifelsohne zu jenen historischen Orten, die eine Mythenbildung zusätzlich aufgeladen hat. Zum 200. Jubiläum ist eine kleine Kulturgeschichte des Platzes erschienen.

Von Manuel Gogos | 10.07.2006
    Der Mythos "Berlin Alexanderplatz" leitet sich vor allem von dem gleichnamigen Großstadtroman Alfed Döblins aus dem Jahre 1929 her. Ein Jahr später veröffentlichte der Autor die Hörspielbearbeitung "Die Geschichte von Franz Biberkopf". In moderner Schnitttechnik montiert er die inneren Monologe des Protagonisten mit authentischen Sounds zusammen: Menschentrubel, Zeitungs- und Reklamegeschrei, Jazzrhythmen.

    "Wat gibt’s Neues am Alex?"

    "Wat soll hier los sein? Se reißen ja alle Häuser ab. Da wolln paar Leute wat dran verdien."

    "Das neue Magazin.""

    In dem nun vorgelegten Buch zum Alexanderplatz macht es sich der Autor Gernot Jochheim - promovierter Sozialhistoriker - zur Aufgabe, die Fakten hinter der Legende zu sammeln. Sein Buch bricht historische Zeitenläufe auf die Weitwinkelperspektive eines Weltstadtplatzes herunter. Es baut sich aus kurzen Abrissen der Epochen zusammen: frühe Neuzeit, Barrikadenbau 1848, Aufschwung der Kaiserstadt 1871, die linksrevolutionären Bewegungen 1919, das neue Bauen der 20er Jahre, der Terror '33, das Trümmermeer von 1945, gefolgt vom Neuaufbau der DDR bis in die heutige Zeit. Die reich bebilderte Stadtgeschichte wirkt bei der Lektüre wie ein Ausgrabungsfeld, in unterschiedlichen Tiefenschichten werden verschiedene Geschichten entdeckt, berühmte, berüchtigte und andere, die vergessen sind oder verdrängt.

    Aber die historischen Tatsachen werden in Jochheims Buch vom Alexanderplatz nicht bloß in die üblichen Chronologien gebracht oder die wechselnden Physiognomien der Stadt architekturgeschichtlich nachgezeichnet; Jochheim rückt den Platz und sein Umfeld als Austragungsort einer spezifisch urbanen Mentalitätsgeschichte und als "Arena" politischer Machtkämpfe in den Mittelpunkt. 1848 ist ein Jahr der revolutionären Erhebungen in Europa, in den Märztagen toben auch in Berlin Straßenkämpfe. Die größte der Barrikaden unter der verbotenen schwarz-rot-goldenen Fahne wird am Alexanderplatz errichtet. Theodor Fontane wird Zeuge der Vorgänge. Nicht ohne Ironie reflektiert der Schriftsteller-Revolutionär seine Rolle:

    "Die Straße wirkte wie leergefegt, und nur an den Ecken war man mit Barrikadenbau beschäftigt. Alles Große, soviel stand mir mit einem Male fest, war durch Sturmläuten eingeleitet worden. Ich lief also, ohne mich lang zu besinnen, auf die nur fünfzig Schritte von uns entfernte Georgekirche zu, um da mit dem Sturmläuten zu beginnen. Natürlich war die Kirche zu - protestantische Kirchen sind immer zu. Mit meinem Debüt als Sturmläuter war ich also gescheitert."

    Der Band macht verstreute und schwer auffindbare Texte zugänglich, die namhafte Autoren einst in der Tagespresse abdrucken ließen. Sie verraten viel über die Milieus der damaligen Zeit und tragen damit gewissermaßen zu einer Geschichtsschreibung "von unten" bei. Joseph Roths "Nächte in Kaschemmen" gehört zu diesen literarischen Miniaturen, in denen sich politische und soziale Realität verdichten, oder auch Döblins "Östlich vom Alexanderplatz":

    "Ich mache mich an die Umzingelung des Alexanderplatzes. Der verlockt mich sonst, menschenstrudelnd, wie er ist, geradewegs auf ihn zuzustoßen; ich will einmal die Peripherie dieses mächtigen Wesens abtasten. Die Straße ist ganz sachlich geworden. Es gibt Warenhäuser; schematische Aufmachung für Ärmere, auch viel Plunder. Eine blutrote Plakathand an vielen Häusern: 'Du! Bist du schon ein Kämpfer in deiner Sache?' Kleine Zettel mit einem Rettungsring auf dem Meere preisen eine Arbeiterpartei. Die Beklebung der Häuser ist ein Barometer für die politische Erregung."

    Immer wieder wird der Platz zur Stätte der Revolution: In den politischen Auseinandersetzungen nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und dem Ende des Ersten Weltkriegs wird der Alexanderplatz mit dem Polizeipräsidium als Symbol repressiver staatlicher Gewalt zum zentralen Versammlungsort von Linksrevolutionären, etwa beim so genannten Spartakusaufstand 1919, der mit der Ermordung der KPD-Gründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht endet. Die beiden Toten werden im Lehrerhaus am Alexanderplatz aufgebahrt. Und der Alex wird Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzung mit rechten Gegenrevolutionären, so im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch von 1920, dessen Niederschlagung die junge Weimarer Republik stabilisiert.

    Und immer weiter baut sich die Stadt um, je nach dem Formwillen verschiedener Machthaber: Der Schnörkelstil der wilhelminischen Epoche weicht 1920 den Prinzipien des Neuen Bauens - Funktionalität und Lichtfülle. Die Art, wie die Wohnräume und Arbeitsstätten der Massen eingerichtet werden, erzählt vom Menschenbild seiner Erbauer. So dokumentiert der Band wie beiläufig, auf welche Weise sich Staats- und Herrschaftssysteme und ihre Ideologien in die urbane Lebenswirklichkeit einschreiben. 1928 leitet Horst Wessel den SA-Sturm Alexanderplatz, besucht die Arbeiterkneipen ringsum. Zunehmend instrumentalisieren die Nazis das Polizeipräsidium für den politischen Terror. In den letzten Kriegstagen suchen Tausende in den Katakomben unter dem Alexanderplatz Zuflucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der ganze Platz ein Trümmermeer. Alfred Döblin berichtet:

    "Diesen Platz, ich kenne ihn noch. Ich kannte ihn schon, als sich noch nicht einmal der mächtige Tietz-Palast hier erhob, derselbe Palast, den man jetzt mit seiner Kuppel nieder geboxt hat. Der Platz ist nicht leer, hier fahren einige Lastwagen, und Frauen schieben Kinderwagen, in denen sie Holz transportieren. Ich blicke in die großen Straßen, die vom Platz ausgehen. Hier gab es früher viele Lokale, auch zweifelhafte. Die Lokale entdecke ich nicht mehr. Ich trage das Bild der alten Stadt in mir. Ich bin wie Diogenes mit der Laterne, ich suche und finde nichts."

    Stadtplanung erscheint in Jochheims Buch insgesamt als politischer Akt: Die DDR-Regierung unternimmt unter der Beratung Moskauer Städtebauer die monumentale Anstrengung, eine historisch gewachsene Stadt dem Tabula-rasa-Gestus des neuen sozialistischen Menschen zu unterwerfen. Bei einem Runden-Tisch-Gespräch am Alexanderplatz im Jahre 1958 erläutert der Ost-Berliner Chefarchitekt Hermann Henselmann die Vision, die alten bürgerlichen Boulevards ganz abzuschaffen und den Platz mit unheimlich großzügigen Freiräumen auszustatten:

    "Wir sehen die Folge des letzten Krieges sehr deutlich, wir sehen auch die Häuser, die in den Jahren von 1920 bis1930 gebaut worden sind. Jetzt aber heißt die Aufgabe, die kapitalistische City Berlins in ein sozialistisches Zentrum umzuwandeln."

    Die Stadtverordnetenversammlung Berlins erklärt den zügigen Wiederaufbau oder vielmehr Neuaufbau des Alexanderplatzes im Juni 1966 zum politischen Schwerpunkt Nummer eins. Das riesige Areal, das um den neuen Fernsehturm entsteht, wird dabei ins "Komplexvorhaben Alexanderplatz" einbezogen. Walter Ulbricht weiht die Axis Mundi der Sozialistischen Republik im Jahre 1969 ein:

    "Stolz erhebt sich im Zentrum der Hauptstadt der DDR dieser Fernseh- und UKW-Turm. In gewissem Sinne symbolisiert er die gewaltigen Leistungen unseres werktätigen Volkes beim Aufbau des Sozialismus."

    Am 4. November 1989 findet auf dem Alexanderplatz die größte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR statt. Knapp eine Million Menschen fordert die Durchsetzung demokratischer Rechte. Im Zwischenreich der Wiedervereinigung siedelt sich am Alex eine neue Szene informeller Märkte an:

    "Dieses Ostberlin lebt, brodelt, entdeckt als Dorado für Weltenbummler, für Abenteurer, Nepper und Schlepper unterschiedlichster Nationalität. Heiße Ware und kaltes Bier zu Niedrigpreisen, vor Schwarzhändlern wird via Ostberliner Zeitungen gewarnt, vor Taschendieben auch."

    17 Jahre nach der Wende präsentiert sich der Platz noch immer als "ewige Baustelle". Die Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag seiner Namensgebung sind verschoben worden, die Bauarbeiten konnten nicht annähernd abgeschlossen werden, die den Platz wieder zu einem "peoples place" machen sollen.

    Der Alexanderplatz ist im Laufe der Zeiten so gründlich überformt und umstrukturiert worden, dass fast alle Spuren seiner Geschichte ausgelöscht sind. Gerade durch die Kombination aus historischer Skizze, dokumentarischem Bildmaterial und literarischen Einschreibungen trägt das vorliegende Buch zur Spurensicherung bei. Gernot Jochheim sucht nach spezifischen Erinnerungs- und Erregungsmomenten, die auf den Platz zulaufen oder von ihm ausgehen. In gewisser Weise untermauert der engagierte Historiker durch seine Art der Annäherung den Mythos dieses Platzes. Man kann sich darüber streiten, ob der Alex tatsächlich das "klopfende Herz Berlins" war, ob seine Verdichtung von moderner Stadtwelt, Lebensdynamik und sozialen Bewegungen wirklich so einzigartig war, wie der Verlag sein Buch bewirbt. Aber dem Stadtschreiber ist kaum vorzuwerfen, dass es ausgerechnet diese Straßenzüge sind, wo er jeden Stein umdreht. Auch im Sinne einer zu entwerfenden Zukunft des Platzes ist es seine Aufgabe, gerade hier nach Manifestationen eines Genius Loci zu suchen. Der Lokalpatriot unter den Historikern ist eben immer auch ein Heimatdichter.

    Gernot Jochheim: Der Berliner Alexanderplatz.
    Ch. Links Verlag, Berlin 2006
    208 Seiten
    29,90 Euro