Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Die fixe Evolution

Vor Hunderten Millionen Jahren entwickelten sich zahlreiche Einzeller auf der Erde zu mehrzelligen Organismen. Evolutionsbiologen gingen bisher davon aus, dass dieser Prozess sehr lange dauerte. Doch jetzt haben US-Forscher im Labor gezeigt, dass es auch erstaunlich schnell gegangen sein könnte.

Von Lucian Haas | 17.01.2012
    Nur 60 Tage oder gerade einmal 350 Generationen hat es im Labor gedauert, bis aus Hefezellen als typischen Einzellern ein einfacher mehrzelliger Organismus geworden ist.

    "Wir waren von den Ergebnissen überrascht. Viele Evolutionsbiologen arbeiten daran, den Prozess der Evolution vom Ein- zum Mehrzeller zu erklären. Eine der zentralen Fragen ist, wie lange diese Entwicklung wohl gedauert hat. Unsere Forschung zeigt, dass sich Mehrzelligkeit viel schneller entwickeln kann als bisher gedacht."

    Will Ratcliff ist Evolutionsbiologe an der Universität von Minnesota. Auf der Suche nach den möglichen Anfängen der Mehrzelligkeit startete er mit Kollegen ein simples Experiment.

    "Der erste Schritt auf dem Weg zum Vielzeller ist die Evolution von einfachen Zellverbünden. Dafür muss man den einzelligen Vorfahr in eine Umgebung setzen, in der es Vorteile bringt, sich mit anderen zusammenzutun."

    Will Ratcliff setzte im Labor die einzellige Bierhefe Saccharomyces cerevisiae einem künstlich geschaffenen Selektionsdruck aus. Er schuf eine Umwelt, in der Zellen oder Zellverbände eine größere Überlebenschance haben, wenn sie schwerer sind: Dafür kultivierte er die Hefezellen erst für 24 Stunden in einem flüssigen Nährmedium. Anschließend schleuderte er die Lösung in einer Zentrifuge, um die enthaltenen Zellen nach ihrem Gewicht zu trennen. So wie Sand in Wasser schneller sinkt als feine Tonpartikel, wandern schwerere Bestandteile in der Zentrifuge schneller zu Boden als leichte. Will Ratcliff entnahm gezielt nur den Bodensatz des Zentrifugenröhrchens und vermehrte die darin enthaltenen Zellen erneut für 24 Stunden in einem frischen Nährmedium. Diese Prozedur wiederholte er ein ums andere Mal, in der Erwartung, dass der so geschaffene Selektionsdruck die Bildung von mehrzelligen und deshalb schwereren Strukturen fördert.

    "Ursprünglich erwarteten wir, dass es zu Flockenbildung kommt: Einzelne Zellen heften sich an andere und bilden so zusammengesetzte Cluster. Doch wir haben eine andere Form der Clusterbildung beobachtet. Neu gebildete Zellen bleiben nach der Zellteilung einfach mit ihrer Mutterzelle verbunden. So entwickeln sich typische Muster von sich verzweigenden Zellen. Jede Zelle im Verbund ist mit den anderen genetisch identisch."

    Die gebildeten Zellhaufen sehen aus wie verzweigte Kristalle einer Schneeflocke. Sie können sich als Verbund sogar auf eine überraschende Art vermehren: Große Flocken teilen sich in zwei. Dafür stirbt eine verbindende Zelle einfach ab. Es ist ein programmierter Zelltod, Apoptose genannt. Dass Einzeller sich zum Wohle der Gemeinschaft opfern, ist ungewöhnlich. Will Ratcliff sieht in der Entwicklung dieser Fähigkeit eine der Grundlagen für den Übergang zum mehrzelligen Organismus.

    "Zum Mehrzeller werden sie dann erst durch weitere Evolution. Ein wichtiger Schritt ist die Verschiebung des Angriffpunktes der Selektion. Erst wirkt sie nur zwischen einzelnen Zellen, dann hauptsächlich zwischen ganzen Zellclustern."

    Bevor Will Ratcliff seine Studie jetzt im Fachmagazin "PNAS" publizierte, sorgte er mit den Ergebnissen schon auf Kongressen unter Fachkollegen für Aufsehen. Er stieß aber auch auf Kritik. Von Hefen ist bekannt, dass sie im Laufe der Evolution schon einmal vielzellig waren, bevor sie sich wieder zum Einzeller entwickelten. Es könnte also sein, dass die Versuche nur ein altes genetisches Programm der Hefezellen wachgerufen haben. Dann wäre die schnelle Evolution im Labor gar nicht mehr so überraschend.

    Will Ratcliff widerspricht:

    "Hefe war in der Vergangenheit tatsächlich ein Mehrzeller. Aber das ist lange, lange her. Wir glauben nicht, dass Hefe heute noch Gene für Mehrzelligkeit mit sich herumträgt – nach Hunderten Millionen von Jahren."

    Um sicher zu gehen, hat Will Ratcliff eine Wiederholung seines Experiments gestartet. Allerdings verwendet er keine Hefezellen mehr, sondern einzellige Grünalgen der Gattung Chlamydomonas. Von denen ist nicht bekannt, dass sie jemals mehrzellig gewesen sind. Erste Ergebnisse erwartet er in einigen Monaten.

    Link zur Internetseite der Forschungsgruppe