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Die fliegenden Neutrinos von Minnesota

Das Neutrino zählt zu den Elementarbausteinen der Materie - und ist ein regelrechtes Modeteilchen der Physik. In den letzten Jahren hat es die Experten kräftig erfreut, vor allem seitdem Ende der Neunziger klar wurde, dass das Neutrino überhaupt eine Masse besitzt. Nun schießen Neutrinoexperimente wie Pilze aus dem Boden. Das größte dieser Projekte heißt MINOS. Es steht im Norden der USA und erstreckt sich über drei Bundesstaaten: Nahe Chicago erzeugen die Forscher einen künstlichen Neutrinostrahl, in einer ehemaligen Eisenmine in Minnesota fangen sie ihn mit einer riesigen Kamera wieder auf. Das ehrgeizige Ziel: Die Physiker wollen herausfinden, welche Rolle das Neutrino für die Entwicklung des Universums gespielt hat.

Von Frank Grotelüschen |
    Wir haben hier eine Menge Wasser. Deshalb kommen die Leute zum Fischen. Eine Unterkunft finden sie in einem der Urlaubsorte an den Seen. Und jetzt im Winter fahren die Leute Schneemobil, oder sie sind auf Langlaufskiern unterwegs. Ob Winter oder Sommer - wir haben hier einiges zu bieten.

    Rice Lake ist eine Kleinstadt mitten in Wisconsin. Schnurgerade Straßen, Supermärkte, Tankstellen und die Restaurants der Fastfood-Ketten. Nicht wirklich aufregend, tiefste US-Provinz. Doch Marleen Arnold, sie arbeitet in der örtlichen Handelskammer, müht sich nach Kräften, ihre Heimat in ein rosiges Licht zu tauchen.

    Was sie nicht ahnt: Ein paar Kilometer unter ihr rast just in diesem Augenblick ein seltsamer Teilchenstrahl durchs Gestein. Er gehört zu einem ungewöhnlichen Physikexperiment. MINOS, so heißt es, erstreckt sich über eine Länge von 735 Kilometern - und über drei Bundesstaaten der USA: Wisconsin, Minnesota und Illinois. In Illinois, in der Nähe von Chicago, nimmt MINOS seinen Anfang.

    " Wir werden jetzt unter Tage gehen. Dort könnte es gefährlich werden. Das größte Risiko ist, dass ein Feuer ausbricht. Dann wird schnell der Sauerstoff knapp, die Luft ist voller Qualm, und es wird schwierig zu atmen und sich in Sicherheit zu bringen."

    " Deshalb gibt es diesen kleinen Lebensretter hier, ich halte ihn in der Hand. Er hängt überall in der Halle und ist leicht zu finden. Hier macht man ihn auf, man sieht ein Mundstück. Im Notfall nehmen Sie das in den Mund. Außerdem setzen Sie bitte die Nasenklemme auf, dann atmen Sie keinen Rauch ein. Jetzt müssen Sie noch den unteren Teil abziehen, dann haben Sie Sauerstoff für eine Viertelstunde. Das müsste reichen, um aus der Halle rauszukommen."

    Brian Rebel ist Physiker am Fermilab, so heißt das größte Teilchenforschungszentrum der USA; es liegt 30 Meilen westlich von Chicago. Hier wird der seltsame Teilchenstrahl erzeugt. Er besteht aus Neutrinos. Das sind exotische Elementarpartikel, schnell wie Licht und flüchtig wie Geister. Neutrinos reagieren so gut wie gar nicht mit der gewohnten Materie. Deshalb fliegen Neutrinos durch alles hindurch, was ihnen im Weg steht: Panzerplatten, Berge, ganze Planeten. Gerade weil sie so flüchtig, so schwer zu fassen sind, wissen die Physiker so wenig über die Neutrinos. Also haben sie MINOS gestartet - ein spektakuläres Experiment: Am Fermilab erzeugen die Forscher einen künstlichen Neutrinostrahl und lenken ihn 735 Kilometer weit durch die Erde in Richtung Nordwesten: von Chicago durch Wisconsin bis nach Minnesota. Dort, in einer ehemaligen Eisenmine in 700 Metern Tiefe, steht der Detektor, ein riesiges Nachweisgerät. Er fängt den Neutrinostrahl auf und untersucht, was mit den Neutrinos während ihrer Reise passiert. Das Ziel: MINOS soll einige der Geheimnisse lüften, die sich nach wie vor um das Neutrino ranken - und damit der Antwort auf die Frage näher kommen, aus was unser Universum im Innersten besteht.

    Wir gehen in eine der schmucklosen Experimentierhallen auf dem Fermilab-Gelände. Hier erklärt mir Brian Rebel, wie man den Neutrinostrahl erzeugt. Es ist der Ausgangspunkt von MINOS, quasi eine Neutrinokanone.

    " Wir haben hier auf dem Gelände einen drei Kilometer großen Ringbeschleuniger. Er beschleunigt Wasserstoffkerne fast bis auf Lichtgeschwindigkeit. Diese schnellen Wasserstoffkerne lassen wir mit voller Wucht auf eine Art Zielscheibe donnern, einen Stab aus Grafit. Bei diesem Aufprall entstehen exotische Teilchen, wir nennen sie Pionen. Diese Pionen wiederum sind instabil - sie zerfallen in andere Partikel, vor allem in Neutrinos. Und aus diesen Neutrinos formen wir unseren Strahl."

    " Es ist ein bisschen so wie beim Billard: Am Anfang schießt man die weiße Kugel mit voller Wucht gegen die anderen Kugeln. Was passiert? Nun - die Kugeln rollen in alle Richtungen auseinander. Etwas Ähnliches passiert auch bei uns, wenn die Wasserstoffkerne auf die Grafit-Zielscheibe treffen: Dann entstehen lauter Pionen, die in alle Richtungen davonstieben. Was wir aber wollen ist, diesen Pionen eine bestimmte Richtung zu geben - Richtung Minnesota, wo unser Detektor in der Eisenmine steht. Und das machen wir mit großen Magnethörnern. Das wäre so, als würden beim Billard nach dem ersten Stoß alle Kugeln in ein- und dieselbe Richtung rollen. "

    Wir gehen zu einem Gebilde, das aussieht wie eine überdimensionale Patronenhülse. Das ist das Magnethorn, sagt Rebel, wenn man so will eine Zielvorrichtung für Neutrinos. Zwei dieser Magnethörner sitzen direkt hinter der Grafit-Zielscheibe, also dort, wo die Pionen entstehen, die Vorläufer der Neutrinos.

    " Das hier ist ein Prototyp von Horn Nummer 1. Er ist drei Meter hoch und hat die Form eines Torpedos. Das Ding ist hohl, die Pionen fliegen auf der einen Seite rein und auf der anderen wieder raus. Und wie Sie hören ist es aus Metall."

    " Durch dieses Horn schicken wir einen starken elektrischen Strom. Dadurch entsteht ein starkes Magnetfeld, und dieses Magnetfeld fungiert als eine Art Magnetlinse. Damit bündeln wir die Pionen in die gewünschte Richtung. Wenn die Pionen kurz darauf im Fluge zerfallen, fliegen ihre Zerfallsprodukte in dieselbe Richtung weiter - also auch die Neutrinos. Also: Indem wir mit unseren Magnethörnern die Pionen lenken, lenken wir auch die Neutrinos in die Richtung, in der wir sie haben wollen."

    " Wie stark sich der Neutrinostrahl aufweitet? Nun - wenn er hier in Chicago losfliegt, hat er einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern. Kommt er dann Minnesota an, hat er sich auf einige Kilometer aufgeweitet. Dadurch gehen zwar die allermeisten Neutrinos verloren. Aber das macht es erst möglich, den Detektor dort überhaupt zu treffen."

    Ich fahre mit dem Fahrstuhl bis ins oberste Stockwerk der Wilson Hall, es ist das einzige Hochhaus auf dem Fermilab-Gelände. Hier erwartet mich Mike Perricone. Er macht mich auf den Ausblick aufmerksam, den man von hier hat.

    " Wir blicken auf ein Stück wiederhergestellte Prärie - so wie die Landschaft hier einst aussah, bevor im 18. Jahrhundert die Einwanderer aus Europa kamen. Sie sehen eine ausgedehnte Grasebene, kleine Wäldchen und auch Sümpfe. Dieses Stückchen Prärie hier ist Heimat für einige seltene Tierarten: Wir haben hier sogar eine Büffelherde in der Nähe. Doch wenn sie da nach schräg links schauen, können Sie an einem klaren Tag wie heute die Wolkenkratzer von Chicago erkennen."

    Gleich werde ich aufbrechen, um den Neutrinos mit dem Auto hinterherzufahren - Richtung Nordwest, von Illinois über Wisconsin nach Minnesota, Luftlinie 735 Kilometer. Doch vorher treffe ich Jeff Pearce. Er ist Engländer, arbeitet am Rutherford Appleton Labor bei Oxford und erklärt, warum man MINOS überhaupt gebaut hat, dieses aufwändige, 170 Millionen Dollar teure Experiment.

    " Neutrinos zählen zu den elementaren Bausteinen des Universums. Es gibt insgesamt nur wenige Sorten von diesen Elementarteilchen, aus ihnen baut sich das gesamte sichtbare Weltall auf. Da wären die Elektronen, dann die Quarks, und eben auch die Neutrinos. Für uns Physiker ist das Neutrino von großer Wichtigkeit. Wenn wir das Universum verstehen wollen, müssen wir auch das Neutrino verstehen mit all seinen Eigenschaften."

    Neutrinos entstehen im Inneren von Sternen, bei der Kernfusion. Allein die Sonne sendet Unmengen von Neutrinos aus. Noch hier auf der Erde rasen in jeder Sekunde fast 100 Milliarden Sonnenneutrinos durch jeden unserer Fingernägel - und wir merken nichts davon. Neutrinos sind fadenscheinige Teilchen - ein Problem für Pearce und seine Kollegen.

    " Für uns Physiker ist es so schwierig mit Neutrinos zu arbeiten, weil sie fast überhaupt nicht mit Materie interagieren. Deshalb wissen wir noch sehr wenig über ihre Eigenschaften. Genau darum geht es bei MINOS: Wir wollen die Eigenschaften dieses ziemlich seltsamen Teilchens untersuchen."

    Was man heute schon weiß: Es gibt drei Sorten von Neutrinos: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. Vor ein paar Jahren glückte einem Experiment in Japan eine Aufsehen erregende Entdeckung: Die drei Neutrinosorten können sich ineinander umwandeln.

    " Dieses Phänomen, dass sich Neutrinos im Fluge verwandeln, wollen wir mit MINOS im Detail untersuchen. Das Experiment Superkamiokande hatte 1998 in Japan erstmals beobachtet, wie sich eine Neutrinosorte in eine andere umwandelt. Wir sprechen von Neutrinooszillationen. Und das Faszinierende daran ist: Diese Oszillationen kann es nur geben, wenn Neutrinos Masse besitzen. Erst seit Superkamiokande weiß man also, dass Neutrinos überhaupt Masse besitzen."

    Nur: Wie groß ist diese Masse? Eine Frage, die unter anderem wichtig ist, will man den Werdegang des Universums verstehen. Denn Neutrinos sind zwar extrem leicht, aber da es so viele sind, könnten sie doch einen gewissen Anteil der Gesamtmasse des Universums ausmachen.

    " Alle Versuche, die Neutrinomasse direkt zu messen, sind bislang gescheitert. Das Teilchen ist offenbar zu leicht, um es direkt zu wiegen. So wie es aussieht, ist das Neutrino mindestens eine Million Mal leichter als das Elektron. Im Moment sind wie darauf angewiesen, mit Hilfe der Neutrinoszillationen herauszufinden, wie groß die Massendifferenz zwischen den drei Neutrinosorten ist. Und genau das wird MINOS präzise messen."

    Für diese Messung brauchen die Forscher ihre Neutrinokanone sowie zwei Neutrinokameras, die Detektoren. Der erste Detektor steht am Fermilab bei Chicago. Er zählt die Teilchen, die direkt aus der Neutrinokanone kommen. Der zweite Detektor steht in 735 Kilometern Entfernung in Minnesota. Er schaut nach, wie viele der Neutrinos sich auf dem Weg in eine andere Sorte verwandelt haben. Aus diesen Messungen schließen die Forscher dann, wie groß der Massenunterschied zwischen den Neutrinosorten ist . Ein wichtiger Wert für die Theorien der Teilchenphysik.

    Doch die Hoffnungen reichen noch weiter. Schon lange fragen sich die Physiker, warum es im Weltall mehr Materie als Antimaterie gibt. Eigentlich müssen beim Urknall vor 15 Milliarden Jahren gleich viel Materie und Antimaterie entstanden sein. Und da sie sich gegenseitig vernichten, müsste eigentlich alles zerstrahlt sein, und das Universum müsste samt und sonders aus Licht bestehen. Doch offensichtlich blieb jede Menge Materie übrig, sonst würde es weder Sterne und Planeten noch den Menschen geben. Die Antimaterie dagegen scheint spurlos verschwunden - was die Physiker wie Jeff Pearce sehr wundert. Es scheint zwischen Materie und Antimaterie so etwas wie ein Ungleichgewicht zu gebe, eine Asymmetrie.

    " Die Chancen stehen gut, dass MINOS etwas zur Lösung dieses Rätsels beitragen kann. Die Frage nach einer Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie und damit auch nach einer Asymmetrie zwischen Neutrinos und Antineutrinos - das ist so etwas wie der heilige Gral der Neutrinophysik. MINOS wird so eine Asymmetrie zwar nicht direkt beobachten können; dazu wurde das Experiment nicht konstruiert. Aber MINOS könnte eine bestimmte Größe messen, wir nennen sie Mischungswinkel. Das Entscheidende: Ist dieser Winkel gleich null, dann kann es diese Asymmetrie nicht geben. Doch wenn er nicht gleich null ist, dann kann die Asymmetrie tatsächlich existieren, und man hätte eine Erklärung, warum es im All mehr Materie gibt als Antimaterie. Das könnte bei MINOS herauskommen, und manche Physiker würden das sogar für das wichtigste Ergebnis halten. Denn dann hätten wir zumindest einen Hinweis darauf, wie das Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie zustande kommt."

    Ich fahre los, in Richtung Nordwesten, nach Wisconsin. Zunächst ist die Landschaft flach und ziemlich öde, jedenfalls jetzt im Winter: riesige Felder, ab und zu eine Farm, mittlerer Westen eben. Dann wird die Gegend interessanter: sanfte Hügel und immer mehr Wald. Ich biege vom Highway ab und suche mir ein Hotel in einem Ort namens Wisconsin Dells. Am anderen Morgen erlebe ich eine Überraschung: Ich habe an einem rekordverdächtigen Ort übernachtet, erfahre ich von Steve Shattuck vom örtlichen Verkehrsbüro.


    " Schon seit etwa 150 Jahren ist Wisconsin Dells ein Urlaubsort. Doch heute sind wir vor allem bekannt als Welthauptstadt der Wasserparks, die größten mit Dutzenden von Rutschen und Schwimmbecken. Wir haben hier pro Einwohner mehr Wasserparks als jeder andere Ort auf der Welt."

    Ein Viertel meiner Strecke ist geschafft, 200 Kilometer. Drei Stunden bin ich gefahren. Die Neutrinos, die unter gerade unseren Füßen entlang fliegen, haben für die gleiche Strecke eine halbe Millisekunde gebraucht, nachdem sie gerade eben in Chicago erzeugt wurden. Dort, in Chicago, steht nicht nur die Neutrinokanone, sondern einer der beiden Detektoren von MINOS - und zwar in einer unterirdischen Halle.

    " Der Fahrstuhl fährt 100 Meter in die Tiefe. Es wird etwa zwei Minuten dauern, bis wir unten sind."

    Brian Rebel öffnet die Tür, wir steigen aus. Mein Blick fällt auf die Höhlenwand: nacktes, rohes Gestein, an dem Wasser herunterrinnt wie bei einer Bergquelle. Wir gehen durch einen Gang in die Halle. Rebel dreht sich um und zeigt schräg nach oben.

    " Wenn Sie da oben auf die Wand schauen, sehen sie einen weißen Fleck. Da kommt der Strahl aus dem Felsen. (6, 0:46) Wir stehen also gerade mitten im Strahl! Und das ist völlig okay. Es sind ja nur Neutrinos, und die reagieren praktisch gar nicht mit Ihrem Körper. Sie können also ruhig hier stehen, das macht gar nichts."

    Vor uns ein blauer Klotz - der Detektor. Drei Meter hoch, fünf Meter breit, 16 Meter lang und 1000 Tonnen schwer.

    " Der Detektor besteht aus einem Sandwich aus Stahlplatten und Kunststoffscheiben. Im Stahl kann ein Neutrino mit dem Material reagieren. Dabei entsteht ein geladenes Teilchen. Dieses Teilchen fliegt zur Plastikschicht und bringt sie zum Leuchten. Und dieses Leuchten erfassen wir mit Lichtsensoren. Wir können also nicht das Neutrino selber messen, sondern nur seine Reaktionsprodukte."

    " Zwar ist die Chance ein einzelnes Neutrino aufzuschnappen extrem gering. Aber nimmt man sehr viele Neutrinos und stellt ihnen genug Masse in den Weg, kann man ab und zu ein Neutrino beobachten. (7:45) Alle zwei Sekunden feuern wir einen Neutrinoblitz auf unseren Detektor. Jeder Blitz besteht aus ungefähr 1013 Neutrinos, das sind zehn Billionen Neutrinos. In unserem Detektor beobachten wir dann aber gerade mal fünf bis sechs Neutrinos."

    Aber warum, frage ich Brian Rebel, steht hier hinter die Neutrinokanone überhaupt ein Detektor, wo sich die Neutrinos doch noch gar nicht verwandelt haben?

    " Dieser Detektor erlaubt es uns, den Strahl genau zu analysieren. Wir können präzise messen, wie viele Neutrinos wir eigentlich erzeugen. Und das ist wichtig, weil wir natürlich erst mal wissen müssen, wie unser Strahl aussieht, bevor etwas mit ihm passiert, bevor sich die Neutrinos in ihm verwandeln."

    Von Wisconsin Dells fahre ich weiter nach Norden. Wieder ändert sich die Landschaft: Birkenwälder, ab und zu ein See, fast wie in Finnland. Am Nachmittag erreiche die Grenze zu Minnesota. Hier am Lake Superior, am Oberen See, liegt Duluth - mit 85.000 Einwohnern fast schon eine Großstadt.

    In einem Haus mitten im Zentrum sitzt Gene Shaw. "Visit Duluth" heißt sein Verkehrsbüro.

    " Duluth zählt zu den zehn größten Häfen Amerikas. Und wir sind wahrscheinlich der am weitesten im Binnenland liegende Hafen der Welt. Vom Atlantik über die Großen Seen bis hierher sind es 3700 Kilometer. Ein Ozeandampfer braucht dafür sieben Tage. Da die Stadt auf mehreren Hügeln liegt, wird sie auch das kleine San Francisco genannt. Und weil es hier im Winter ganz schön kalt werden kann, haben wir unseren Skywalk: Zwischen den Häusern in der Innenstadt gibt es Gänge, die über die Straßen führen. Man kann selbst bei Wind und Wetter durch die City bummeln, ohne eine Jacke anzuhaben."

    Drei Viertel der Strecke sind geschafft, 600 Kilometer. Ich habe einen ganzen Tag gebraucht. Die Neutrinos unter mit sind gerade mal zwei Millisekunden unterwegs.

    Bis zur Eisenmine ist es nicht mehr weit, etwa zwei Stunden. Je näher ich komme, desto mehr Schnee türmt sich am Straßenrand. Die Nadelwälder werden dichter, ich fühle mich an Norwegen erinnert. Es ist knackig kalt, minus 30 Grad in der letzten Nacht, meldet die Stimme im Radio. Dann ist das Ziel erreicht: Soudan, ein hübsches Dorf an einem Hügel. Schilder weisen den Weg zur ehemaligen Mine.

    " Die Landschaft hier ist wirklich schön. Wegen ihr bin ich hierher gezogen. Es gibt Hunderte von Seen, auf denen man im Sommer Kanu fahren kann. Vielen ist es zwar zu kalt hier. Aber ich liebe das. Mir ist dieser Winter nicht kalt genug."

    Heute aber ist es Bill Miller kalt genug, das Thermometer steht auf minus 20 Grad. Miller leitet das unterirdische Physiklabor. Hightech an einem historischen Ort.

    " Um das Jahr 1870 entdeckte man hier Eisenerz, ein paar Jahre später wurde die Mine hier gegründet. Im Laufe von 65 Jahren grub man 27 Flöze, der unterste liegt 714 Meter tief. Das Eisenerz war hochkonzentriert, es enthielt zu 78% Eisen. Aber dann wurde der Abbau zu teuer, und 1962 wurde die Mine dichtgemacht. Seitdem können Touristen sie als historisches Bergwerk besuchen."

    Wir fahren unter Tage, mit einem Lastenfahrstuhl Baujahr 1922. Kein Licht, es ist stockdunkel, eine Abwärtsfahrt ins Ungewisse.

    " Das ist kein normaler Aufzug. Er fährt auf Schienen schräg nach unten, in einem Winkel von 12 Grad. Es dauert knapp drei Minuten, um ganz nach unten zu kommen, 714 Meter tief. Im Dunkeln kommt einem der Fahrstuhl aber viel schneller vor."

    Ein paar Schritte durch einen Gang, und plötzlich stehen wir in einer überraschen großen Halle. 132 Meter lang und 16 Meter hoch wie breit - fast schon eine unterirdische Kathedrale.

    Vor fünf Jahren wurde die Höhle mühsam in den Fels gesprengt - eigens für das MINOS-Experiment. Bill Miller ist sichtlich stolz, er zeigt ein Video von der letzten Sprengung.

    " Es ist wirklich interessant, bei so einer Sprengung dabei zu sein: Man spürt den Rumms zuerst durch den Fels bevor man ihn hört, denn die Schallgeschwindigkeit in Fels ist größer als in Luft. Nach der Sprengung hat es dann immer zwei Stunden gedauert, bis sich der Staub und der Rauch verzogen haben. Wir haben jeden Tag gesprengt, sieben Tage die Woche - und das anderthalb Jahre lang."

    16.000mal musste der alte Lastenaufzug fahren, um das Geröll abzutransportieren. Vorher gab es noch ein anderes Problem: Die Höhle musste, um den Neutrinostrahl aufzufangen, möglichst genau in Richtung Chicago ausgerichtet werden.

    " Das war eine heikle Angelegenheit. Zunächst haben wir oben GPS-Empfänger aufgestellt. Dort wussten wir also mit hoher Präzision, wo wir uns befinden. Das Problem war, diese präzise Messung hier unten fortzusetzen. Die Landvermesser waren damit eine ganze Weile beschäftigt. Zuerst haben sie es mit Lasern versucht, aber das hat nicht geklappt. Dann warfen sie mit Spiegeln das Sonnenlicht nach unten. Am Ende haben sie es tatsächlich hinbekommen: Das Zentrum des Neutrinostrahls trifft den Detektor bis auf 15 Zentimeter genau."

    Dann kommt Alec Habig auf mich zu, er ist Physiker an der Universität in Duluth. Er zeigt auf eine der Höhlenwände: Dort ist ein buntes Riesen-Mandala aufgemalt, ein Gemälde geradezu überfrachtet mit Symbolen, Zeichen und Formeln.

    " Da steckt eine Menge drin: Schriftzüge in 47 Sprachen. Die Köpfe von Enrico Fermi und Wolfgang Pauli. Dann eine historische Abbildung der Mine mit den ersten Siedlern und Arbeitern. Und da, Fledermäuse - die gibt's hier unter Tage in Massen. Man kann lange vor diesem Bild stehen und immer wieder was Neues entdecken."

    Warum die Physiker ihr Experiment eigentlich nach König Minos benannt haben, will ich wissen. Eine Figur aus der griechischen Mythologie: Minos, der Vater des Minotaurus, jener Jungfrauen verspeisenden Schauergestalt, halb Mensch halb Stier.

    " Nicht dass der irgendetwas mit Neutrinos zu tun hätte. Aber wir Teilchenphysiker lieben nun mal Akronyme. Und MINOS steht für bei uns Main Injector Neutrino Oscillation Search. Wir suchen immer nach Buchstaben-Kombinationen, die irgendwie eingängig sind. Wir stecken da viel zu viel Energie rein. Aber es macht einfach Spaß."

    Wir gehen eine Treppe hinunter und stehen direkt vor dem Detektor. Von vorne betrachtet hat er die Form eines Achtecks, wie ein riesiges Stoppschild.

    " Der Detektor ist 31 Meter lang, knapp 8 Meter hoch und 8 Meter breit. Sie können ihn sich vorstellen wie ein in Scheiben geschnittenen Laib Brot: Er besteht aus insgesamt 486 Stahlplatten. Jede von ihnen ist zweieinhalb Zentimeter dick und wiegt zwölf Tonnen. Das ganze Ding ist 5400 Tonnen schwer."

    Der Riese funktioniert genauso wie der Detektor am Fermilab in Chicago: Manchmal bleibt ein Neutrino in einer der Stahlplatten hängen und erzeugt ein geladenes Teilchen. Dieses Teilchen bringt dann die nachfolgenden Plastikscheiben zum Leuchten. Und dieses Leuchten wird von empfindlichen Lichtsensoren registriert. Nur: Der Detektor hier ist viel größer als der in Chicago. Er wiegt das Fünffache. Ihn aufzubauen, war für Alec Habig und seine Leute eine enorme Herausforderung.

    " Wir sind eine halbe Meile unter der Erde. Jedes Einzelteil musste durch denselben kleinen Fahrstuhl runterkommen, mit dem Sie vorhin gefahren sind. Der Riesenklotz vor uns kam also in kleinen Stücken, und wir mussten ihn hier unten zusammenschrauben. Das war ein bisschen so wie bei einem Buddelschiff."

    " Neutrinos reagieren sehr selten mit Materie, denn sie sind extrem flüchtig. Für unseren Detektor bedeutet das, dass wir an einem Tag nur ein paar Neutrinos aufschnappen. Hätten wir ihn an der Erdoberfläche gebaut, würde unser Detektor von den Teilchen der kosmischen Strahlung überflutet, und wir hätten keine Chance, in dieser Flut die paar Neutrinosignale aufzuspüren. Doch die 700 Meter Gestein über uns schirmen die kosmische Strahlung weitgehend ab."

    " Die Neutrinos, die am Fermilab in Chicago erzeugt werden, sind fast ausnahmslos Myon-Neutrinos. Hier in unserem Detektor in 735 Kilometern Entfernung stellen wir aber fest, dass auch andere Neutrinos im Strahl sind. Daraus schließen wir, dass sich ein Teil der Neutrinos unterwegs verwandelt hat."

    Nur: Das Experiment kostet Zeit, viel Zeit. Weil die Neutrinos so flüchtig sind, werden die Physiker lange messen müssen. Fünf Jahre soll MINOS fünf Jahre, und zwar 24 Stunden am Tag.

    " Alle zwei Sekunden wird in Chicago ein Blitz mit 10 Billionen Neutrinos losgeschickt. Doch in unserem Detektor hier bleibt alle paar Stunden gerade mal eines stecken."

    Gleich wird uns der alte Lastenfahrstuhl wieder nach oben bringen, in den Winter von Minnesota. MINOS läuft jetzt seit einem knappen Jahr, erzählt Alec Habig. Ich will wissen, ob es schon erste Ergebnisse gibt.

    " Wir haben schon eine Menge Daten gesammelt - viel mehr als andere Experimente, insbesondere ein japanisches Experiment namens K2K. Doch bislang haben wir uns die Daten noch gar nicht angeschaut. Denn vorher wollen wir sicherstellen, dass wir alle Eigenheiten unseres Experiments verstehen, und zwar bis ins Detail. Hätten wir die Daten jetzt schon analysiert, dann hätte folgende Gefahr bestanden: Womöglich hätten wir sie unbewusst so interpretiert, dass sie unseren Erwartungen entsprechen."

    Noch in diesem Frühjahr wollen die Physiker einen Blick auf die Daten werfen, erzählt Habig. Spätestens im Sommer soll ein Zwischenergebnis auf dem Tisch liegen: eine Zahl, wie oft sich die Neutrinos ineinander umwandeln und wie groß die Massendifferenz zwischen ihnen ist. Und wer weiß, meint Alec Habig, und verrät einen geheimen Wunsch: Vielleicht steckt in den Daten ja auch etwas völlig Unerwartetes, Überraschendes. Etwas, das die Teilchenphysik von Grunde auf revolutioniert.