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Die Flucht der Ungeduldigen

Ben Ali ist vorbei und Tunesien muss wieder auf die Beine kommen. Viele Junge wollen aber nicht mehr warten, sondern haben sich auf den Weg nach Europa aufgemacht.

Von Karl Hoffmann | 19.02.2011
    Die Flucht der Ungeduldigen


    Täglich um elf beginnt in die Redaktionskonferenz von La Presse , der größten französischsprachigen Zeitung des Landes. Es wird heftig diskutiert: über die die Aufarbeitung der Vergangenheit, künftige Unabhängigkeit und Selbstverantwortung. La Presse war mehr als zwei Jahrzehnte lang das Sprachrohr der Regierung. Jetzt muss die Zeitung einen radikalen Neuanfang wagen, wenn sie überleben will, sagt Khaled Tébourbi, der Senior der Redaktion.

    "Solch eine Revolution hat ihren Preis und den werden wir bezahlen müssen. Wir wissen nicht mehr, ob wir überhaupt noch unser Gehalt bekommen. Denn die Anzeigen sind praktisch auf null zurückgegangen . Weil wir das Sprachrohr der Regierung waren, hatten wir das Privileg eines Monopols , aber damit ist es jetzt vorbei."

    Die Situation der Tageszeitung und ihrer Redakteure ist beispielhaft für die Lage im ganzen Land. Auf der Insel Djerba im Süden ist der Tourismus, der wichtigste Industriezweig, zusammengebrochen, sagt der Kellner Ouashdi:

    "In Zarzis haben wir 14 Hotels , zwölf sind geschlossen. Mit der Revolution haben 350.000 Menschen, die im Tourismussektor arbeiteten, ihren Job verloren. Die Revolution ist uns geglückt, aber mehr nicht."

    Dank der Touristen hat Oueshdi fließend italienisch gelernt. Und deshalb will er versuchen jetzt in Italien ein neues Leben zu beginnen. Gegen seinen Willen.

    "Es wäre mir doch nicht im Traum einfallen lassen, mein Land zu verlassen, solange ich eine Arbeit hatte. Aber mit der Revolution ist alles anders geworden. Die Leute haben ihren Job verloren. Alle die sie hier sehen, Alle."

    Fünftausend junge Tunesier haben es letzte Woche bereits nach Lampedusa geschafft. Viele Zehntausende wollen es ihnen nachmachen , wie zum Beispiel der Maurer Karim aus Industriestadt Gabes. Denn er findet nur noch selten Arbeit, der Lohn beträgt 7 Dinar pro Tag, das sind umgerechnet etwa 4 Euro. Jetzt hat er kurzerhand die Ziegen und Schafe seiner Mutter verkauft. 800 Euro kostet die Überfahrt nach Lampedusa "Bloß weg aus Tunesien", das ist sein einziger Gedanke. Fernab von den luxuriösen Hotels ist Tunesien die Hölle:

    "In Gabes haben wir ausgedehnte chemische Industrieanlagen. Normaler weise arbeiten dort bis zu 5000 Menschen, zur Zeit sind es aber nur noch 2000. Dieser Industriebetrieb stellt Geld für die Bevölkerung bereit als Entschädigung für die Umweltbelastung, die Luftverschmutzung zum Beispiel. Im Meer nahe Gabes gibt es schon lange keine Fische mehr. Man hat alle Chemieabwässer einfach im Meer verklappt. Und das schon seit 30 Jahren."

    Karim macht seinen Mund auf und zieht mit den Fingern seine Kiefer weit auseinander.

    "Schauen sie sich mal meine Zähne an. Wir alle sind krank in Gabes. Und eigentlich hätten wir eine monatliche Entschädigung bekommen sollen. Doch der Clan von Benalis Frau Trabelzi hat all das Geld einfach an sich gerissen und für sich behalten."

    Auch Karims Freund Ahmed will weg, am liebsten nach Frankreich. Er hat sich 1500 Euro von seinem Vater geben lassen und die Überfahrt bezahlt, aber seither ist er vom Pech verfolgt:

    "Beim ersten Versuch, da hatte ich schon bezahlt, saß ich auf einem Boot, das prompt eine Havarie hatte und unterging. Ich musste um mein Leben schwimmen, ein Schiff der Marine hat mich schließlich aufgefischt. Dann bin ich auf ein anderes Boot, und da ging der Motor plötzlich nicht mehr . So ein Pech."

    Eigentlich war es Glück denn in der gleichen Nacht ertranken an die dreißig Schicksalsgefährten ganz in der Nähe bei Zarzis, als ihr Boot von der tunesischen Küstenwacht gerammt wurde. Ursprünglich wollten Karim und Ahmed ins Nachbarland Libyen. Dort fand man bisher immer Arbeit, denn die Libyer sind reich im Vergleich zu den Tunesiern und verfügen über ein durchschnittliche Pro- Kopf- Einkommen von 10.000 Dollar jährlich, das höchste in ganz Afrika. Aber nun weiten sich die Proteste auch in Libyen aus.

    Denn Diktator Gaddafi regiert sein Land mit etwa 6,3 Millionen Einwohnern mit eiserner Hand. Noch hat er viele Anhänger. In Tripolis lies er sich gestern von einer begeisterten Menschenmenge feiern
    Die anhaltende Instabilität seiner Nachbarn ist dagegen ein weiteres Handicap für Tunesien, das die Krise überwinden will, sagt der Journalist Khaled Tebourbi.

    "Wir müssen unsere Demokratie inmitten von Feinden aufbauen. Wir verlieren die finanzielle Unterstützung Saudi Arabiens und Libyens. Wir werden auf mindestens eine Urlaubssaison verzichten müssen. Und deshalb müssen wir jetzt schleunigst mit den Europäern und der Weltbank verhandeln, damit wir diese schwierige Phase überstehen."

    Erst wenn diese überwunden ist, wird man das Problem des bevorstehenden Massenexodus in den Griff bekommen. Und jenseits des Meeres , auf der kleinen Insel Lampedusa wächst indes die Sorge, die EU könnte es nicht mehr rechtzeitig schaffen

    "Schon Mussolini hat gesagt, dass uns einst die Männer mit dem Turban erobern werden, nicht nur Italien, nein ganz Europa, ja die ganze Welt."