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Die Flucht nach vorne und das Wegducken

Mit der "Aufgabe der Literatur" hat der Anglistikprofessor Ulrich Horstmann ein akademisch unverbrauchtes Herzensthema gefunden: Was tun Schriftsteller, denen nichts mehr einfällt?

Von Florian Felix Weyh | 22.10.2009
    Ein Satz ertönt wie Donnerhall: "Wenn es nicht mehr auf dem gewohnten Inspirationsniveau weiterging in Literatenhirnen, wurde es schon immer lebensgefährlich."

    Lebensgefährlich für wen? Für die Leser? Nein! Für die Literaten selbst. Sie notierten dann Sätze wie: "To be a Gringo in Mexico - ah, that is euthanasia!" Der amerikanische Schriftsteller Ambrose Bierce wählte aber nicht den Freitod im mexikanischen Bürgerkrieg, sondern verabschiedete sich 1914 in den Grand Canyon, aus dem er nicht mehr zurückkehrte. Andere Fälle wie Hölderlin, Robert Walser und der englische Naturdichter John Clare verschwanden in Narrenturm und Irrenhaus (19. Jahrhundert) oder etwas feiner in die Nervenheilanstalt (20. Jahrhundert). Wobei letzterer, John Clare, damit bitterster Armut entrann, da der Aufsteiger aus untersten Schichten seine vielköpfige Familie mit dem Dichterlohn nie ernähren konnte. Er benutzte das ihm von der Lyrik verliehene Prestige, um dem Earl of Fitzwilliam die lebenslange Unterbringung in einer Pflegeanstalt abzuringen. Gewissermaßen als "mad poet in residence" war er von landwirtschaftlichen Pflichtdiensten befreit und konnte endlich in Ruhe schreiben. Freilich galt das Ergebnis nicht mehr als Kunst, sondern als Produkt eines Verrückten, denn der vorangegangene reale Nervenzusammenbruch hatte die Aura von "Genie" in Richtung "Wahn" verschoben.

    Mit der "Aufgabe der Literatur" hat der Anglistikprofessor und Schriftsteller, als Autor jedoch ziemlich lange Zeit selbst stumm gebliebene Ulrich Horstmann ein Herzensthema gefunden, noch dazu ein akademisch unverbrauchtes. Der Wege des Rückzugs nach literarischen Höhenflügen sind viele, aber sie lassen sich in zwei klare Kategorien unterteilen: "Die Flucht nach vorne und das Wegducken", wie Horstmann lakonisch feststellt. Während sich die Irrenhäusler wegducken, betreiben andere einen regelrechten Angriffskrieg gegen das eigene Werk. Der Ein-Buch-Autor Walter M. Miller, der in den 50er-Jahren einen Welterfolg mit dem apokalyptischen Science-Fiction "Lobgesang auf Leibowitz" errang, versuchte sich nach langer Schweigepause mit einem zweiten, katastrophalen Werk selbst zu demontieren. Das erschien ihm allerdings nicht ausreichend; noch vor dessen Abschluss erschoss er sich.

    Entschieden unblutiger betrieb die amerikanische Lyrikerin Laura Riding ihre Selbstauslöschung. Nach einem bejubelten Band mit "Collected Poems" in jungen Jahren betrieb sie nur noch sprachwissenschaftliche Hochseilartistik als Professorin. Unter einer neuen Identität - Laura Jackson - rückte sie ihr literarisches Vorleben in "komplexen Theorien zurecht, die Verlust in Gewinn, Verbot in anderweitige Lizenzierung" umdeuteten, wie Ulrich Horstmann schreibt, dessen Grundfrage von den behandelten Schriftstellern verblüffend unterschiedlich beantwortet wird: "Was passiert eigentlich, wenn Autoren das Stoppzeichen überfahren, die innere Stimme, die ihnen das Weiterschreiben oder Weiterveröffentlichen verbietet, nicht beachten?" Ja, was passiert? In den meisten Fällen Depression, suizidale Neigungen, Selbstaufgabe. Doch das muss nicht so sein, wie Wolfgang Koeppen bewies, der Grandseigneur der literarischen Kapitulation. Er erkannte die inneren Stoppzeichen sehr wohl, vermochte aber dennoch seinem Verleger Siegfried Unseld insgesamt 268.574 Mark an Apanage abzuknöpfen. Über die Jahre hinweg hielt er die Fiktion aufrecht, seine literarische Schaffenskraft könne zurückkehren, auch wenn er vielleicht selbst wusste, dass dies nicht mehr eintreffen würde. "Ein Autor ist für einen Verleger eine Investition va banque", erklärte er in einem späten Interview nassforsch und kartete sogar noch nach: "Ich hätte gern mehr Geld zur Verfügung. Ich möchte zum Beispiel, wann immer ich will, nach New York fliegen können."

    Solch leidensbereite Verleger wie Unseld gibt es heute nicht mehr. Aber die Leidensfähigkeit der Autoren wird in jeder Generation erneut auf den Prüfstand gestellt. Denn die "Aufgabe der Literatur erweitert sich um die Aufgabe der Literatur", erklärt Horstmann schon zu Beginn: Lebenslange Schreibkarrieren werden in Zukunft umso unwahrscheinlicher sein, je weiter sich der Buchmarkt ökonomisch zersplittert und je rascher und beliebiger die Abfolge von ästhetischen Avantgardismen verläuft. Wer mehr sein will als nur ein bloßer Handwerker, wird nach den ersten Büchern schnell merken, dass er sein Pulver verschossen hat, weil ihn entweder niemand mehr hören will oder er von anderen überholt wird. Dann heißt es, einen Weg ins Verstummen finden, einen, den man tunlichst überlebt. Und das, sagt Horstmann, ist "ein Lernprozess von nie dagewesener Rigorosität und Schmerzhaftigkeit".

    Ulrich Horstmann selbst empfing dereinst den renommierten Kleistpreis. Vorm Hintergrund dieses Buches muss man das als Schicksalsschlag werten.


    Ulrich Horstmann: Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben
    S. Fischer, 270 Seiten, 12,95 Euro