Mit der Rezeption der russischen zeitgenössischen Literatur ist es so eine Sache bei uns. Im deutschen literarischen Feuilleton behaupten ganz wenige Namen der Postmoderne das Feld, die provokativ mit der für Russland charakteristischen Tradition der realistischen, ideologisch und moralisch engagierten Appellliteratur gebrochen haben. Als das A und 0 der heutigen russischen Literaturszene gelten hier der psychedelische Kultautor Viktor Pelewin mit seinen virtuellen Realitäten oder der eigentlich nur für slawistische Insider wirklich verständliche Wladimir Sorokin mit seiner Destruktion des menschlichen Körpers. Und dieses Herausstellen des vollkommen Neuen, Unerwarteten, Originellen hat natürlich durchaus seine Berechtigung. Auf der anderen Seite wird ein ausgeschriebener Uraltbarde wie Jewgenij Jewtuschenko, der genau jenes verkitschte Bild des Schriftstellers als Gewissen der Nation verkörpert, weiterhin als "typisch russisch" gehätschelt. Und eine Serienschreiberin mit Millionenauflagen wie Alexandra Marinina wird eben nicht einfach als interessante und begabte Autorin unterhaltsamer Frauenkrimis über die russische Gegenwart rezipiert, sondern als literarische Sensation besprochen, weil sie aus Moskau kommt.
Die ganze bunte Vielfalt des heutigen russischen literarischen Lebens, in dem es nebeneinander die Weiterführung der unterschiedlichsten Literaturtraditionen wie auch den radikalen Bruch mit diesen gibt, wird bei uns nicht wahrgenommen. Und natürlich ist gerade in Russland die realistische Traditionslinie weiterhin lebendig und wird viel gelesen. Dazu gehört zum Beispiel ein so guter Autor wie Andrej Dmitriew, der seine Prosa sehr bewußt den bei uns von der Kritik privilegierten Modeströmungen entgegensetzt. Dmitriew versucht in seinen Büchern mit großer Ernsthaftigkeit, die chaotische, sinnentleerte Lebenswirklichkeit von heute mit den Verfahren des psychologischen Realismus - fragmentarisch, offen, aus der Innensicht seiner Personen, mithilfe ihrer bruchstückhaften, ratlosen Dialoge - zu erfassen. Ihn interessieren Leben und Schicksale von russischen Menschen unserer Zeit, ihr Denken und Fühlen, ihre von Jahrzehnten der Sowjetherrschaft und dem alles verändernden Umbruch der letzten Jahre geprägten Stimmungen, genau das also, worüber auch bei uns viele, die die russische Literatur lieben, gern mehr erfahren möchten.
Der Kurzroman "Die Flußbiegung"- er stand 1998 auf der short list für den renommierten Booker-Preis - führt im Verlaufe nur eines langen Tages im Jahr 1989 die bewegenden Schicksale mehrerer Menschen zusammen. Irgendwo in der abgelegenen nordrussischen Provinz liegt auf einem Berg mit einer berühmten Klosterkirche, in der die mittelalterlichen Fresken unaufhaltsam von Feuchtigkeit zerfressen werden, ein Sanatorium mit Schulinternat für TBC-kranke Kinder. Der Vater eines 8j ährigen Jungen kommt dorthin, um seinen Sohn nach Hause zu holen, damit das Kind seine Ehe mit der wegen eines schrecklichen Schicksalschlags psychisch gestörten Mutter kitten hilft. Der zuständige Arzt weiß, dass dem Kind die extrem schwierige Familiensituation gesundheitlich schaden wird und überredet den Jungen dazu, sich vor seinem Vater zu verstecken. In einem unzugänglichen Geheimplatz, einem winzigen Felsvorsprung hinter der moosbewachsenen Klostermauer, direkt über dem Steilhang, mit Blick auf den Fluss sitzt der kranke Junge frierend im eisigen Wind zwischen wilden Rosenbüschen und durchlebt in Fiebervisionen Szenen seines Kinderlebens. Wiederum übermannt ihn die Scham und das Mitleid mit seinem Vater, wie einst als dieser ihm das Fischen beibringen wollte und dabei vor seinen Kameraden kläglich versagte.
In seine Träume verspinnt der Junge auch die Gespräche von zwei anderen namenlosen Menschen, die auf dem Berg zusammengetroffen sind: dem Mann mit der dicken Wolljacke und der Frau im schwarzen Regenmantel, zwischen denen eine spannungsvolle Anziehung entstanden ist. Der Mann will die vom Leben gebeutelte Frau, die in stummen Zwiegesprächen mit Gott ihren Glauben sucht und ins Kloster eintreten will, für das irdische Leben - vielleicht ein gemeinsames Leben mit ihm -zurückgewinnen. Nur leicht angedeutet und offen wie in Tschechows Prosa leuchtet zwischen den beiden die Möglichkeit von Nähe und Wärme und erfüllterem Leben auf und verlischt wieder.
In den inneren Monologen und philosophischen Dialogen offenbaren diese vom Zufall zusammengeführten Menschen Momente ihres bedrückenden Lebenswegs, von dem sie geprägt sind: der engagierte aber eigenbrödlerische, verschlossene Arzt Snetkow, der als Kind von Militärs auf einem geheimen Raketenstützpunkt in der Steppe aufgewachsen ist; die verzweifelte Frau, die - verlassen von dem Mann, dem sie verfallen war, nach einer Abtreibung und schweren Depressionen - Trost im Kirchengesang findet; der Vater des Jungen, dem der dramatische Selbstmord seines Nebenbuhlers ein ruhiges Eheglück unmöglich macht.
Es geht allein um die privaten Schicksale dieser einsamen, müden, in ihrem Unglück isolierten Menschen. Und doch ist die Zeit, in der sie leben, nicht etwa ausgeblendet. Die Jahre der Perestrojka werden hier, in der Provinz, als Wegbrechen aller Sicherheiten, als Zeit des Niedergangs und Chaos erfahren.
Dmitriew entwickelt seine berührenden Szenen, die schlaglichtartig die Gefühlswelt von russischen Menschen unserer Tage erhellen, aus einer herben und doch poetisch-sinnlichen, manchmal verstörenden Sprache. Über der Szenerie liegt eine unendliche Schwermut. Das Bild des gekappten Glockenturms mit den schwarzen Wolken schreiender Dohlenschwärme, die graubraune Kirchenkuppel, die "wie eine riesige, eingerissene Lunge im Wind röchelt und heult" und der breite Strom mit seiner in der Ferne gleißenden Flußbiegung, wohin das Kind in seinem Todestraum von einem anderen Leben getragen wird, gewinnen anrührenden Symbolcharakter.
Andrej Dmitriew, der in seinen langen Erzählungen die Schicksalsfäden seiner Figuren immer wieder aufnimmt und miteinander verschränkt, hat alle Voraussetzungen dazu, mit seiner ungeschönten, harten und trotzdem menschenfreundlichen Prosa wie in Russland so auch bei uns seinen Leserkreis zu finden.
Die ganze bunte Vielfalt des heutigen russischen literarischen Lebens, in dem es nebeneinander die Weiterführung der unterschiedlichsten Literaturtraditionen wie auch den radikalen Bruch mit diesen gibt, wird bei uns nicht wahrgenommen. Und natürlich ist gerade in Russland die realistische Traditionslinie weiterhin lebendig und wird viel gelesen. Dazu gehört zum Beispiel ein so guter Autor wie Andrej Dmitriew, der seine Prosa sehr bewußt den bei uns von der Kritik privilegierten Modeströmungen entgegensetzt. Dmitriew versucht in seinen Büchern mit großer Ernsthaftigkeit, die chaotische, sinnentleerte Lebenswirklichkeit von heute mit den Verfahren des psychologischen Realismus - fragmentarisch, offen, aus der Innensicht seiner Personen, mithilfe ihrer bruchstückhaften, ratlosen Dialoge - zu erfassen. Ihn interessieren Leben und Schicksale von russischen Menschen unserer Zeit, ihr Denken und Fühlen, ihre von Jahrzehnten der Sowjetherrschaft und dem alles verändernden Umbruch der letzten Jahre geprägten Stimmungen, genau das also, worüber auch bei uns viele, die die russische Literatur lieben, gern mehr erfahren möchten.
Der Kurzroman "Die Flußbiegung"- er stand 1998 auf der short list für den renommierten Booker-Preis - führt im Verlaufe nur eines langen Tages im Jahr 1989 die bewegenden Schicksale mehrerer Menschen zusammen. Irgendwo in der abgelegenen nordrussischen Provinz liegt auf einem Berg mit einer berühmten Klosterkirche, in der die mittelalterlichen Fresken unaufhaltsam von Feuchtigkeit zerfressen werden, ein Sanatorium mit Schulinternat für TBC-kranke Kinder. Der Vater eines 8j ährigen Jungen kommt dorthin, um seinen Sohn nach Hause zu holen, damit das Kind seine Ehe mit der wegen eines schrecklichen Schicksalschlags psychisch gestörten Mutter kitten hilft. Der zuständige Arzt weiß, dass dem Kind die extrem schwierige Familiensituation gesundheitlich schaden wird und überredet den Jungen dazu, sich vor seinem Vater zu verstecken. In einem unzugänglichen Geheimplatz, einem winzigen Felsvorsprung hinter der moosbewachsenen Klostermauer, direkt über dem Steilhang, mit Blick auf den Fluss sitzt der kranke Junge frierend im eisigen Wind zwischen wilden Rosenbüschen und durchlebt in Fiebervisionen Szenen seines Kinderlebens. Wiederum übermannt ihn die Scham und das Mitleid mit seinem Vater, wie einst als dieser ihm das Fischen beibringen wollte und dabei vor seinen Kameraden kläglich versagte.
In seine Träume verspinnt der Junge auch die Gespräche von zwei anderen namenlosen Menschen, die auf dem Berg zusammengetroffen sind: dem Mann mit der dicken Wolljacke und der Frau im schwarzen Regenmantel, zwischen denen eine spannungsvolle Anziehung entstanden ist. Der Mann will die vom Leben gebeutelte Frau, die in stummen Zwiegesprächen mit Gott ihren Glauben sucht und ins Kloster eintreten will, für das irdische Leben - vielleicht ein gemeinsames Leben mit ihm -zurückgewinnen. Nur leicht angedeutet und offen wie in Tschechows Prosa leuchtet zwischen den beiden die Möglichkeit von Nähe und Wärme und erfüllterem Leben auf und verlischt wieder.
In den inneren Monologen und philosophischen Dialogen offenbaren diese vom Zufall zusammengeführten Menschen Momente ihres bedrückenden Lebenswegs, von dem sie geprägt sind: der engagierte aber eigenbrödlerische, verschlossene Arzt Snetkow, der als Kind von Militärs auf einem geheimen Raketenstützpunkt in der Steppe aufgewachsen ist; die verzweifelte Frau, die - verlassen von dem Mann, dem sie verfallen war, nach einer Abtreibung und schweren Depressionen - Trost im Kirchengesang findet; der Vater des Jungen, dem der dramatische Selbstmord seines Nebenbuhlers ein ruhiges Eheglück unmöglich macht.
Es geht allein um die privaten Schicksale dieser einsamen, müden, in ihrem Unglück isolierten Menschen. Und doch ist die Zeit, in der sie leben, nicht etwa ausgeblendet. Die Jahre der Perestrojka werden hier, in der Provinz, als Wegbrechen aller Sicherheiten, als Zeit des Niedergangs und Chaos erfahren.
Dmitriew entwickelt seine berührenden Szenen, die schlaglichtartig die Gefühlswelt von russischen Menschen unserer Tage erhellen, aus einer herben und doch poetisch-sinnlichen, manchmal verstörenden Sprache. Über der Szenerie liegt eine unendliche Schwermut. Das Bild des gekappten Glockenturms mit den schwarzen Wolken schreiender Dohlenschwärme, die graubraune Kirchenkuppel, die "wie eine riesige, eingerissene Lunge im Wind röchelt und heult" und der breite Strom mit seiner in der Ferne gleißenden Flußbiegung, wohin das Kind in seinem Todestraum von einem anderen Leben getragen wird, gewinnen anrührenden Symbolcharakter.
Andrej Dmitriew, der in seinen langen Erzählungen die Schicksalsfäden seiner Figuren immer wieder aufnimmt und miteinander verschränkt, hat alle Voraussetzungen dazu, mit seiner ungeschönten, harten und trotzdem menschenfreundlichen Prosa wie in Russland so auch bei uns seinen Leserkreis zu finden.