Samstag, 20. April 2024

Archiv


Die Frage nach der Heimat

Für ihren Roman "Tauben fliegen auf" hat die Autorin Melinda Nadj Abonji den Deutschen Buchpreis bekommen. In dem Werk beschreibt sie eingänglich die Geschichte der Familie Kocsis, die, aus Jugoslawien stammend, einen Neuanfang in der Schweiz wagt.

Von Walter van Rossum | 10.10.2010
    Vojvodina? Mein Gott, wo liegt das nun schon wieder?

    "Erzählen Sie uns doch etwas über die Verhältnisse in Ihrem Land, sagt Herr Berger, als ich die beiden Kaffees für die Schärers hinstelle, Herr Berger, der nach seiner Pfeife langt, die gestopft werden will. Sie müssen wissen, dass das Fräulein aus dem ungarischen Teil des Balkans stammt, wissen Sie, da, wo es sicher auch bald chlöpft, knallt, Vojvodina, so heißt die Region, und sie war bis vor kurzem eine autonome Provinz, nicht wahr? (die Bergers, die sich letzte Woche höflich erkundigt haben, von welchem Teil des Balkans wir herkämen. Aus dem Norden von Jugoslawien, südlich von Ungarn, antworte ich, und Ungarn ist die Rettung, jeder kennt einen ungarischen Zahnarzt, und den Aufstand von 1956 hat man noch gut in Erinnerung, da man in der Folge die Sympathie mit den Aufständischen bekundete, indem man Tonnen von abgetragenen Kleidern endlich sinnvoll entsorgen konnte; man kennt die Puszta, Béla Bartók, ach, die feurige Musik, die uns doch allen so viel gibt!) ( ... ), und ich stelle jetzt den hellen Milchkaffee mit Assugrin wieder auf den Tisch, Frau Berger, die sich inzwischen gesetzt hat. Ja wirklich?, und Tognoni ( ... ) hat plötzlich ein Interesse an ihr, die ich bin, das wusste ich gar nicht, sagt Herr Tognoni mit einer kleinen Glut in den Augen, ich dachte Sie seien aus Russland, wer hat mir das nur erzählt? ( ... ) (und wahrscheinlich würde Herr Tognoni, Herrn und Frau Berger und die Schärers das, was ich von meinem Land erzählen wollte, nicht interessieren, es wäre gut möglich, dass sie mich etwas verlegen und mitleidig anschauen würden: Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren – und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wuchsen, den Staub, den Dreck)"

    Da also kommt sie her, die Familie Kocsis – und die Kocsis das sind: Vater, Mutter und die beiden Töchter Ildiko und Nomi. Aus der Vojvodina, jener einst zu Ungarn gehörenden, dann später zu Jugoslawien geschlagenen Region, in der Ungarisch gesprochen wird. Doch die Kocsis leben bereits seit 1970 in der Schweiz. Sie haben nicht nur die Ausreise aus Jugoslawien geschafft, sondern auch die Einreise in die Schweiz. Und mit verbissener Arbeit bringen sie es erst zu einem kleinen Wäschereibetrieb und dann sogar zu einem ansehnlichen Café-Restaurant am Zürichsee, in einem Städtchen an der sogenannten Goldküste, die ihren Namen dem immensen Reichtum verdankt, der sich an den Gestaden angesiedelt hat.

    Die Kocsis sind, was man so einfache Leute nennt. Hinter der Aufstiegswut des Vaters steckt auch ein wütender Antikommunismus, verständlich, schließlich hatten die Kommunisten seinem Vater so zugesetzt, dass er früh starb. Seitdem will Miklos Kocsis es einfach allen zeigen. Und bei den Besuchen in der fernen Heimat prahlt er gerne mit seinen Schweizer Errungenschaften, dem dicken Auto, den ausstaffierten Töchtern. Da staunt die arme Verwandtschaft auf dem Lande.

    "Als wir nun endlich mit unserem amerikanischen Wagen einfahren, einem tiefbraunen Chevrolet, schokoladenfarben, könnte man sagen, brennt die Sonne unbarmherzig auf die Kleinstadt, hat die Sonne die Schatten der Häuser und Bäume beinahe restlos aufgefressen, zur Mittagszeit also fahren wir ein, recken unsere Hälse, um zu sehen, ob alles noch da ist, ob alles noch so ist wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor. Wir fahren ein, gleiten durch die mit majestätischen Pappeln gesäumte Straße, die Allee, welche die Kleinstadt vorankündigt, und ich habe es nie jemandem gesagt, dass mich diese zum Himmel strebenden Bäume in einen schwindelerregenden Zustand versetzen."

    Und da sind wir mittendrin im Seelengebiet von Ildiko, der älteren Tochter und der Erzählerin des Romans. Und wir sind mittendrin im hinreißenden Sound dieser Geschichte: einem rhythmischen Parlando – halb Bericht, halb beiseite gesprochen, wenn nicht: nach innen. Stets suchend, stets treibend. Klar und gleichzeitig grübelnd. Es ist die Stimme einer jungen Frau, die im Alter von fünf Jahren in der Schweiz ankommt, wo die Eltern schon seit einigen Jahren schuften und endlich die Nachzugsgenehmigung für ihre beiden Töchter erhalten haben. Es ist gewiss auch die Stimme von Melinda Nadj Abonji, deren äußere Lebensdaten erhebliche Ähnlichkeiten mit denen ihrer Heldin Ildiko aufweisen.

    Dieses Buch handelt von Heimat. Und Heimat ist für die kleine Ildiko in erster Linie die Vojvodina, das Haus ihrer Großmutter, wo sie ein paar Jahre ohne Eltern, aber mit ihrer jüngeren Schwester lebt, das ist die Verwandtschaft, ein Heer von Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, wuchtigen Patriarchen, gütigen Frauen. Es geht wild zu, wenn die Herren mal wieder den Schnäpsen reichlich zusprechen und dann Politisches ansprechen, Töchter werden verdammt und im Stall treibt es nicht nur das liebe Vieh. Nein, das ist beileibe keine heile Welt. Ganz abgesehen von den Dramen des Historischen. Doch Heimat ist kein Bündel von Anekdoten, Heimat ist keine Substanz. Heimat geht so:

    "Der weiche Singsang meiner Großmutter, das nächtliche Gequake der Frösche, die Schweine, wenn sie aus ihren Schweinchenaugen blinzeln, das aufgeregte Gegacker eines Huhns, bevor es geschlachtet wird, die Nachtviolen und Aprikosenrosen, derbe Flüche, die unerbittliche Sommersonne und dazu der Geruch nach gedünsteten Zwiebeln, mein strenger Onkel Móric, der plötzlich aufsteht und tanzt.

    So habe ich nach langem Überlegen geantwortet, als mich Jahre später ein Freund gefragt hat, was denn Heimat für mich bedeute, und wesentliche Dinge sind mir in dem Moment gar nicht eingefallen. Erstens das relativ unbekannte, aber eigentlich weltbeste Getränk namens Traubisoda, das bestimmt auch von Johannes Paul II. gesegnet worden ist und ich so fraglos mit Heimat verbinde, dass ich es zu nennen vergessen habe. Und zweitens etwas, das sich nicht so leicht auf den Begriff bringen lässt, die Erinnerung nämlich an Nomi, wie sie mit ihrer Quengelei Vater und Mutter nervte, damals im Sommer 1980, als sie, kurz nachdem wir angekommen waren, alles von Mamika wissen wollte, nicht nur alles, sondern sofort alles; die Quengelei meiner Schwester, so verstand ich plötzlich, war vergleichbar mit meinen geheimen rasend, rasend schnell durchgeführten Inspektionen; weil wir beide die Angst hatten, nichts mehr mit unserer Heimat zu tun zu haben, wollten wir die Zeit einholen, in der wir nicht da waren."


    Heimat hat man nicht. Heimat begegnet einem manchmal, wenn man in der Fremde lebt. Und so ist das auch bei Ildiko. In der Schweiz lebt es sich gut, doch sie bleibt eine Fremde. Anfangs ist es die Sprache, später ist es das unabwaschbare Aroma des Migranten und dann noch vom Balkan. Die kennen doch keine Aufklärung. Man kann nun wirklich nicht sagen, dass man den Kocsis übel mitspielt in dem Städtchen am Zürichsee. Sie bekommen ihre Chance und sie nutzen sie. Nach einigen Jahren und einer Art Aufnahmeprüfung erhalten sie anstandslos die Schweizer Staatsbürgerschaft und bleiben doch Fremde – wie man ihnen mal derb, mal leise zu verstehen gibt. Und so fühlen sie sich auch: auf Bewährung.

    "Wir müssen besser werden, sagt Mutter an einem Tag Ende Februar, schneller vor allem, und jetzt wird auch alles besser in der neuen Besetzung, sagt sie, wir fangen nochmals neu an, ja?, und wir besprechen, wer wem hilft während den heiklen Zeiten, und die heiklen Zeiten sind zwischen neun und halb zehn, während der Mittagszeit von zwölf bis eins und nachmittags so gegen halb vier bis etwa halb fünf; wir sitzen zu Hause am Wohnzimmertisch, essen saure Gurken, scharfe Salami, Brot, Joghurt, Mutter, die während dem Essen eine Liste schreibt mit den wichtigsten Punkten, die wir beachten müssen, Service, im Büffet, in der Küche, Nomi, die meint, wir sollten es nicht übertreiben, auch wenn nicht alles perfekt geklappt habe, sei unser Start doch ganz gut gewesen. Genau, Nomi hat Recht, sagt Vater und schneidet mit dem großen Fleischmesser hauchdünne Scheiben von der Salami (und ich würde Vater am liebsten sagen, wie gern ich ihm zusehe, wenn seine Hände so ruhig und sorgfältig arbeiten), Mutter, die nach einer Scheibe langt, uns dann alle der Reihe nach anschaut und einen Satz sagt, den sie in der nächsten Zeit noch ein paar Mal sagen wird, von dem ich nicht weiß, wie ich ihn verstehen soll: Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten."

    Es geht viel Hin und Her in diesem Buch – zwischen Schweiz und Vojvodina, zwischen realen Reisen nach Serbien und Erinnerungsreisen, zwischen Heimat, Heimatrealitäten und Fremde. Nie versucht Abonji, Gemütsmenschen der Vojvodina gegen erstarrte Schweizer auszuspielen. Die einen stellen das Personal ihres Herzenstheaters, die anderen die Statisten des Realitätstheaters. Es ist nicht leicht, sich da auszukennen. Nur Halbsinner der Integrationsrhetorik dürfen so tun, als wüssten sie Bescheid. Dagegen setzt Abonji auf Konfusion – die ist nicht nur realer und humaner, sie ist auch viel interessanter. Wieso schwärmen die Platzhirsche ohne sogenannten Migrationshintergrund eigentlich pausenlos von Globalisierung, ohne die geringste Ahnung vom Verlust, und warum brechen sie beim Anblick des Fremden gleich in aggressive Panik aus? Wütend machen Ildiko nicht die kleinen, artig kaschierten Aggressionen der Schweizer, sondern die existenzielle Fettleibigkeit. In der Sprache ihrer Mutter: ein Schweizer hat immer schon ein menschliches Schicksal. Außerdem können wir dem Buch entnehmen, dass es aufregender ist, kein angestammtes Schicksal zu haben. Insofern ist die Geschichte auch eher ein Abenteuerroman als ein Opferbericht.

    "Svájcha, hatten Sie manchmal gesagt, Vater und Mutter seien in der Schweiz, in einer besseren Welt. Und wissen Sie, wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? "Besser" bedeutete für mich einfach "mehr". Mehr von allen guten Dingen, die ich kannte. Vater und Mutter lebten in einem Land, in dem es mehr Schweine gab, mehr Hühner, mehr Gänse, da musste es Unmengen von Weizen geben, Mais, Sonnenblumen, der Klatschmohn wuchs überall. In den Speisekammern hingen unzählige Würste, große wohlriechende Schinken, die Einmachgläser türmten sich auf den Regalen, in der Schweiz gab es sicher nicht nur freitags Palatschinken, sondern jeden Tag; trotzdem bedeutete es mir nichts, wenn Sie sagten, dass Mutter und Vater Nomi und mich bald abholen würden. Ich ging raus in den Garten, um den Satz rasch zu vergessen."

    Als ob die Vojvodina nicht schon genug den Stürmen der Geschichte ausgesetzt war – in den 90er Jahren gerät sie unvermeidlicherweise in den Strudel der jugoslawischen Wirren. Abonji enthält sich politischer Spekulation, aber sie erzählt, wie im Zeichen ethnischer Heimatkategorien alle Heimat vernichtet wird.

    "Und Dragana klemmt das belegte, bestrichene Toastbrot in den Toaster, Dragana und ich, zwei Tiere, die sich in die Augen schauen, wir, die wir Todfeinde sein müssten, weil Dragana bosnische Serbin ist oder serbische Bosnierin? und ich zur ungarischen Minderheit in Serbien gehöre (der Irrsinn, der sich weiter dreht, in meinem Kopf, in allen Köpfen), und es ist absurd und absolut möglich, dass einer meiner Cousins desertiert, weil er als Ungar nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass ihn einer von Draganas Cousins erschießt, weil er bei der jugoslawischen Volksarmee kämpft und Deserteure erschossen werden; es kann aber auch sein, dass einer von Draganas Cousins desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt, als bosnischer Serbe nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass dann mein Cousin Draganas Cousin erschießt, weil mein Cousin nicht desertiert ist, für die jugoslawische Volksarmee kämpft, um vielleicht sein eigenes Leben zu retten; aber möglicherweise werden beide erschossen, von einem Muslimen, einem Kroaten, einem Blindgänger, von einer Mine zerfetzt, irgendwo, an einem unbekannten Ort, im Niemandsland, während wir hier zusammen Brötchen streichen, in unserer Küche."

    Bekanntlich hat Melinda Nadj Abonji für ihren Roman den Deutschen Buchpreis 2010 gewonnen. In der Begründung der Jury heißt es: "So gibt das Buch Tauben fliegen auf das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europa im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen hat." Das sagt nicht nur wenig über den Roman, das sagt auch nichts über die Qualitäten dieses Romans, geschweige denn, warum er der beste deutschsprachige Roman dieses Jahres sein soll.

    Wahrscheinlich wissen die Juroren, dass sich dergleichen nur schwer plausibel begründen lässt, und haben lieber gleich ganz drauf verzichtet. Ich muss übrigens zugeben, dass ich nach der Lektüre der ersten 40 bis 50 Seiten dachte: das ist ein schönes Buch, ein gutes Buch, ein kluges Buch – doch ein großes? Aber bald verfiel ich dem kunstvoll schlichten Sirenengesang dieses Romans und glaube, dass man es nicht so schnell vergessen wird. Aber so wie die Jury ihr Votum begründet hat, klingt es ein wenig nach der aktuellen literarischen Antwort auf Thilo Sarrazin. Doch glaubt doch wohl niemand, dass man mit feiner Prosa den Rassismus eines Cashmere-Bengels in die Knie zwingen, noch das steinerne Herz der Xenophobie erweichen könnte.

    Nein, beharrlich unterläuft dieser Roman die Logik solcher Diskurse – so es denn darin überhaupt Logik gibt. Eher wohl nur Sprachregelung, läppische Sprachregelung. Allein der Begriff der Integration ist ein Windwörtchen erster Güte. Wer soll denn eigentlich worin integriert werden? Wie Mark Terkessidis kürzlich in seinem Buch "Interkultu"r schrieb, wissen wir wohl selbst längst nicht mehr, was Deutschsein denn sei und dass "die verbreiteten Ideen vom Deutschsein" so altbacken seien, dass selbst die Einheimischen ihre Lebensweisen darin nicht mehr unterbringen können. Doch Abonji diskutiert nicht, sie erzählt, sie erzählt von der großen, der grotesken und großartigen Gemengelage des Realen, sie erzählt von Differenzen und vom Recht auf Differenz. Dieser Roman artikuliert mehr als eine Kritik am Ungeschick mitteleuropäischer Ausländerpolitik, er erzählt vom Recht darauf, der Schweiz nicht seine Seele zu opfern.

    "Die direkte Demokratie, meine eigenwillig komische Vorstellung, damals, als ich in der Primarschule davon gehört habe, wir sind das Sinnbild der Urdemokratie, sagte mein Lehrer, und weil er "wir" sagte, gehörte ich natürlich auch dazu, obwohl "wir" damals noch einen jugoslawischen Pass hatten, ich also noch keine Papierschweizerin war, wie man später da und dort sagen würde. Mein Primarlehrer hatte nichts gegen Ausländer, wie er einmal sagte, für ihn zähle nur die Leistung, das gehöre dazu, zu einem Menschen, der urdemokratisch eingestellt sei, gleiche Chance für alle, mein Lehrer, der sicher damit zu tun hatte, dass ich mir die direkte Demokratie als ein Heer vorstellte, viele, wehrhafte Soldaten, die in Reih und Glied standen, mit einem unbestechlichen Gesicht, weil sie etwas verteidigen müssen, nämlich die Idee, dass alle die gleiche Chance haben."

    Ildiko hat ein Studium begonnen, dann übernehmen die Eltern das Café Mondial am Zürichsee und sie stellt das Studium erst mal hintan. Eines Tages macht ein Gast sie darauf aufmerksam, dass sich auf der Toilette wohl ein Malheur ereignet habe. Es war aber doch viel mehr und etwas anderes als ein Malheur. Jemand hatte nicht nur daneben geschissen und seine dreckige Unterhose hinterlassen, sondern mit Scheiße was von Scheißausländern an die Wand geschmiert. Da kommt der jungen Frau die Galle hoch. Und endlich bricht sich etwas Bahn, als Ildiko Anzeige erstatten will, doch die Eltern vehement dagegen sind.

    "Setz dich, sagt Mutter, ich muss dir etwa sagen, Mutter immer noch am Personaltisch sitzend, und ich, die stehen bleibt, in der Küchentür, klebe am Türrahmen, mit allem aufhören, mit dem Studium, meinem Russischkurs, den Samstagabenden im Wohlgroth, vor allem aber aufhören mit der Arbeit hier, im Mondial, verschwinden aus dieser Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln (vielen Dank und auf Wiedersehen!), nicht immer ähnlicher werden der Tapete, dem Teppich, der Wanduhr, der Vitrine, und das Essen, es schmeckt nicht mehr nach uns, nein, ich, die sich nicht setzt, will keine Wild[Speise]karte schreiben – Ildi, die so schön und korrekt schreibt -, will verschwinden aus diesem halbierten Leben, diesem Alltag. In dem der Dienstleistungsbetrieb zum Schicksal wird, "mundtot" geht mir durch den Kopf, ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es mal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch."

    Der Roman scheint lange Zeit zu kreisen von Heimat zu Fremde, von Kindheit zu Erwachsenenleben, doch in Wahrheit ist es von Anfang an eine Suchbewegung. Und am Ende haben wir es mit einem fast schon klassischen Bildungsroman zu tun, der davon erzählt, wie man sein Schicksal in die Hand nimmt – und das heißt eben nicht, dass man seine Rolle abarbeitet, sich einem zudachten Schicksal anpasst.

    Die Schweizer Schriftstellerin hat eine Geschichte erzählt, die wir aus Reportagen längst zu kennen scheinen. Doch sie erzählt sie eben so, dass wir merken, sie geht nicht in den geläufigen Problemtönen auf. Das ist das, was Literatur kann: Wirklichkeiten aufbewahren, die unsere Realitätsvermessungen überspringen. Und Melinda Nadj Abonji kann es.

    Melinda Nadj Abonji: "Tauben fliegen auf". Jung und Jung Verlag, Salzburg 2010. 317 Seiten, 22 Euro
    Melinda Nadj Abonji: "Tauben fliegen auf"
    Melinda Nadj Abonji: "Tauben fliegen auf" (Jung und Jung)