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Die franziskanischen Ideale und die Würde aller Kreaturen

Für Franziskus von Assisi war Armut Ausdruck tiefen Glaubens. Dazu gehörte sogar der Verzicht auf einen eigenen Willen. Sein Armutsideal sollte später die institutionelle Kirche sowie die gesamte christliche Gesellschaft prägen.

Von Rüdiger Achenbach | 21.03.2013
    "In der Nacht nach dem Palmsonntag floh Chiara degli Offreducci mit einer Dienerin aus ihrem Elternhaus in Assisi zur nahe gelegenen Kirche Portiuncula,"

    berichten die zeitgenössischen Quellen. Die nächtliche Flucht, der später als Klara von Assisi berühmten Heiligen, ereignete sich, wie einige Franziskusforscher heute vermuten, in der Nacht vom 18. auf den 19. März im Jahr 1212. Die damals Sechszehnjährige hatte durch Vermittlung ihres Vetters Rufino, der sich 1210 den Brüdern angeschlossen hatte, etwa ein Jahr zuvor Franziskus kennengelernt. Seit dieser Begegnung hatte sie die Vorstellung nicht mehr losgelassen, ebenso wie Franziskus und seine Brüder zu leben.

    Noch in derselben Nacht opferte sie ihre Haare, nach einigen schriftlichen Quellen soll sogar Franziskus ihr die Haare abgeschnitten haben, was eigentlich bei einem solchen Schritt der Jungfrauenweihe ins geistliche Leben nur dem Bischof zustand. Sie tauschte auch ihre Kleider gegen ein einfaches Gewand und wollte nun wie Franziskus und seine Brüder ein charismatisches, unstetes Wanderleben führen und die Menschen zur Buße aufrufen. Ulrich Köpf, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen:

    "Eine Lebensweise, wie sie Franziskus verwirklichte, war aber für eine Frau undenkbar; sie wäre auch von der Kirche nicht akzeptiert worden. Ein Zusammenleben mit den Brüdern kam noch weniger in Frage."

    Klaras großer Lebenswunsch wurde damit noch in derselben Nacht hinfällig. Auch wenn Franziskus es für sich und seine Gemeinschaft ablehnte, die alten klösterlichen Formen zu übernehmen, mussten Frauen im geistlichen Stand in strenger Klausur hinter Klostermauern leben und nach den Regeln Benedikts, die gesamte Zeit ihres Lebens eingeschlossen bleiben.

    Deshalb blieb Franziskus und seinen Brüdern nichts anderes übrig, als Klara und ihre Gefährtin sofort in einem nahegelegenen Frauenkonvent unterzubringen. Als nach einigen Wochen bereits mehrere junge Frauen, hauptsächlich aus Klaras Verwandtschaft, bereit waren, mit Klara in radikaler Armut zu leben, erklärte sich der Bischof von Assisi bereit, Klara und ihren Schwestern, die sich später Klarissen nannten, San Damiano als Kloster zu überlassen. Franziskus hat dann eigens ein Mahnlied für Klara und ihre Schwestern geschrieben, in dem er sie aufforderte, sich mit den für Frauen geltenden Einschränkungen im geistlichen Stand abzufinden.

    "Hört, ihr Armen, vom Herrn Gerufenen, schaut nicht auf das Leben draußen, das Leben des Geistes ist besser als jenes."

    Da Franziskus um diese Zeit seiner Bruderschaft den Namen "Fratres Minorum", also Minderbrüder, gegeben hatte, weil sie stets als Geringere der Niedrigkeit Christi folgen wollten, bezeichneten sich auch Klara und ihre Schwestern irgendwann als Minderschwestern, dies ärgerte Franziskus so sehr, dass er den Schwestern diese Bezeichnung von höchster kirchlicher Stelle untersagen ließ.
    Helmut Feld, Professor für Historische Theologie am Institut für europäische Geschichte in Mainz:

    "Bei dieser Gelegenheit sah er sich zu dem denkwürdigen Spruch veranlasst:
    Gott hat die Ehefrauen von uns genommen, und der Teufel hat uns die Schwestern besorgt."

    Trotz der lebenslangen guten Beziehung, die Franziskus zu Klara hatte, berichten die Legenden übereinstimmend, dass Franziskus immer einen großen Abstand zu Frauen hielt. Auch für seine Brüder verfasste er eine entsprechende Empfehlung:

    "Alle Brüder, wo immer sie seien und wo auch immer sie hingehen mögen, sollen sich hüten vor dem bösen Blick der Frauen und vor dem Umgang mit ihnen."

    Er sah in Frauen grundsätzlich eine Gefahr für zölibatär lebende Männer. Der Franziskus –Biograph Klaus Reblin:

    "Weswegen Franziskus wohl auch nie mit ihnen sprach, sondern immer nur zu ihnen, und auch das nur, ohne sie anzusehen."

    Für Franziskus war das Keuschheitsideal, das von Anfang an eine der tragenden Säulen des christlichen Mönchtums ist, auch eine verbindliche Lebensform für seine Bruderschaft. Und wie bei der Armut, wird auch dieses Ideal von ihm und seinen ersten Gefährten radikal gesteigert. Ähnlich verhält es sich bei Franziskus Auffassung von Demut und Gehorsam.

    "Herr, meine Brüder sind deshalb "geringere" genannt worden, dass sie sich nicht anmaßen, größerer zu werden. Ihre Berufung lehrt sie, unten zu bleiben. Gestattet auf gar keinen Fall, dass sie in den Hochklerus aufsteigen."

    Dazu Klaus Reblin:

    "Franziskus plädiert geradezu für eine Abstinenz gegenüber allem, was mit Herrschaft zu tun haben könnte. Das gilt zunächst intern, für den Bereich seiner Bruderschaft. In ihr soll es keine Herrschaft, keine Über- und Unterordnung geben."

    Da aber in der schnell heranwachsenden Bruderschaft gewisse Funktionen notwendig werden, akzeptiert Franziskus die Ämter der Guardiane und Minister, denn Guardian bedeutet "Beschützer" und Minister "Diener" und so wollte er diese Funktionen auch verstanden wissen. Er schreibt in die Regel der Gemeinschaft:

    "Die Brüder sollen keine Machtpositionen und kein Herrscheramt besitzen, vor allem nicht untereinander."

    Die Vorgesetzen sollen daher ihren Untergebenen grundsätzlich mit brüderlicher Liebe begegnen. In der Geschichte der Orden ist die franziskanische Regel dann auch die erste, die eine körperliche Züchtigung ausschließt.

    Neben der Forderung der Demut und Selbsterniedrigung innerhalb der Bruderschaft hatte dieses Ideal aber auch eine gesellschafts- und kirchenpolitische Dimension.
    Klaus Reblin:

    "Schon die Kirchengeschichtsforschung der Aufklärung und der Romantik hat drauf aufmerksam gemacht, dass Armut und Selbsterniedrigung eine viel unmittelbarere Kommunikation der Minderbrüder mit den kleinen Leuten im Mittelalter möglich machten."

    Als die Brüder Franziskus einmal fragten, wie denn der vollkommene Gehorsam in der Bruderschaft gelebt werden solle, nannte er ihnen ein Beispiel.

    "Nimm einen Leichnam und lege ihn hin, wo du willst. Er leistet mit keiner Bewegung Widerstand, er ändert seine Lage nicht und beschwert sich auch nicht, wenn du ihn einfach liegen lässt."

    Diese Form des radikalen Kadaver-Gehorsams ist für Franziskus eine besondere Art der Armut. Klaus Reblin:

    "Wer auf alle materiellen Güter verzichtet hat, aber darauf besteht, nach eigenem Gutdünken zu leben und zu entscheiden, der ist für Franziskus immer noch reich. Erst der vollkommen Gehorsame ist wahrhaft arm."

    Denn der Gehorsam als "innere Armut" ist die Preisgabe jedes eigenen Willens.
    Ungehorsam ist für Franziskus die Ursünde Adams. Deshalb will er mit den Idealen, die in seiner Bruderschaft gelten, auf die gesamte Kirche einwirken. Helmut Feld:

    "Einen solchen Kadaver-Gehorsam hatte es in den älteren, an der Benedikts-Regel orientierten Mönchsorden, nicht gegeben. Ein gravierender Unterschied besteht allerdings auch darin, dass die gleiche Selbsterniedrigung auch von den Amtsträgern erwartet wird. Wenn Franziskus von sich selbst, den Oberen des Ordens und den kirchlichen Amtsträgern die tiefste Selbstdemütigung verlangt, dann wird damit die hierarchische Struktur des Ordenswesens und der gesamten Kirche gewissermaßen konterkariert. Die extreme Gehorsamsvorstellung des Franziskus enthält somit, was die Struktur der mittelalterlichen Kirche und was deren Lehre betrifft, ein subversives, ein revolutionäres Instrument."

    Man wird davon ausgehen müssen, dass Franziskus bei den Fragen der Organisation der Bruderschaft unter dem Druck der Kurie stand, die großen Wert darauf legte, dass die Bruderschaft sich wie die älteren Ordensgemeinschaften organisierte, das heißt mit eindeutigen Befehls- und Verantwortungsstrukturen. Klaus Reblin:

    "Die Bezeichnung "Ordensoberhaupt"- caput religionis – für Franziskus etwa war eine Titulierung, die die Kurie Franziskus kurzerhand überstülpte, ob er damit einverstanden war oder nicht. Franziskus wäre es selbst nie in den Sinn gekommen, sich als Oberhaupt zu bezeichnen und dadurch von den anderen Brüdern zu unterscheiden und zu separieren."

    Er suchte aber auch nie den offenen Protest gegen Entscheidungen aus Rom.
    Deshalb war er auch bereit, die gewünschte hierarchische Struktur mit verschiedenen Leitungsfunktionen einzuführen. Allerdings war nicht zu übersehen, dass er diese Ordnungsstruktur nach seinen Vorstellungen gestaltete. Klaus Reblin:

    "Wenn die Brüder sich jetzt aber nicht mehr nur gegenseitig gehorchen, sondern auch einem Guardian oder Kustos parieren sollen, dann muss auch der kleine Bruder Franziskus einen Guardian haben, dem er zu gehorchen hat. Was bedeutet, dass das Ordensoberhaupt unter dem Generalsminister zu stehen kommt. Dadurch wird die von der Kurie angestrebte Gehorsamsordnung angenommen und gleichzeitig durchbrochen. Die Gehorsamspyramide von unten nach oben bleibt zwar formal bestehen, aber letztlich stellt Franziskus sie auf den Kopf, weil er als der Oberste "ganz unten" stehen will. Der wahre Gehorsam gewinnt so den Charakter einer Antiverfassung gegen die Ordnung, die Rom den Brüdern aufnötigt."

    Ein anderes Ideal, das Franziskus als Lebensform seiner Bruderschaft sehr am Herzen lag, war die "sancta simplicitas", die heilige Einfalt. Auch dieses Ideal war letztlich ein besonderer Ausdruck seines Verständnisse von radikaler Armut. Helmut Feld:

    "Entsprechend dem Ideal der "heiligen Einfalt" war Franziskus von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, der heiligen Theologie erfüllt. Alle Bücher, selbst die Bibel hielt er im Grunde für überflüssig."

    Wer wirklich arm sein wollte, der musste auch auf Bücher verzichten. Bücher waren etwas Wertvolles. Für ein liturgisches Gesangbuch bezahlte ein Universitätsprofessor zur damaligen Zeit ein halbes Jahresgehalt. Aber es ging Franziskus nicht nur um diesen finanziellen Aspekt. Veit Jakobus Dieterich, Professor an der evangelischen Fakultät der Universität Hohenheim:.

    "Franziskus durchschaut, dass der Besitz von Büchern und gelehrten Studien dazu führt, Machtpositionen in der Kirche aufzubauen. So gesellt sich zur materiellen Armut die geistige Armut. Und als Franziskus einmal gefragt wurde, warum er keine Bibel besitze, setzte er hinzu, er kenne das Evangelium Jesu Christi, das sei genug."

    So konnte Franziskus auch das einzige in der Bruderschaft vorhandene Neue Testament der Mutter eines Minderbruders geben, damit sie es verkaufen konnte, um ihre große Not zu lindern.

    Es wäre allerdings verfehlt, das besondere Verständnis des Franziskus von Demut, Gehorsam und heiliger Einfalt als subversive Angriffe auf die kirchliche Autorität zu deuten. Franziskus war kein Revolutionär. Für ihn bestand die wahre Nachfolge Christi in all den Idealen, die Ausdruck der radikalen Armut sind. In diesem Sinne wollte er auf die mittelalterliche Kirche einwirken und sie von innen heraus verändern.

    "Denn ich will durch Demut und Ehrfurcht zuerst die Prälaten bekehren. Wenn sie unser heilig mäßiges Leben und die Ehrfurcht ihnen gegenüber sehen, dann werden sie euch bitten, dass ihr predigt und das Volk bekehrt."

    Das Armutsideal, das Franziskus, wie er später in seinem Testament schreibt, von Gott bekommen hatte, sollte sowohl die Institution Kirche wie auch die gesamte christliche Gesellschaft prägen. Helmut Feld:

    "Er wollte die Kirche nicht nur reformieren, sondern er hielt deren Bekehrung für notwendig. Die Bekehrung der Kirche aber wollte er durch die Bekehrung der Prälaten erreichen."

    Bekehrung bedeutete für Franziskus dazu aufzufordern, den bisher gewohnten Lebensstil zu ändern, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Diese Umkehr hielt er bei den Oberpriestern der Kirche ebenso für notwendig wie bei allen anderen Menschen. Aber für Franziskus war das von Gott verheißene Heil keineswegs nur für die Menschen reserviert.

    Die richtige Einstellung zu einem gottgefälligen Leben war für Franziskus unbedingt mit dem tiefen Bewusstsein verbunden, sich den Kreaturen Gottes zugehörig zu fühlen. Der zentrale Kern seiner Botschaft war, dass Gott, der alle Wesen geschaffen, sie auch alle zur Erlösung und zum endgültigen Heil bestimmt hatte.

    Es gibt zahlreiche Erzählungen in den alten Biographien, die von der besondern Auffassung von der Natur bei Franziskus berichten. Er befreit gefangene Tiere, liest Würmer vom Wege auf, sorgt im Winter für Bienen, und er verbietet Bäume an den Wurzeln abzuhacken, damit sie wieder ausschlagen können. Wie weit sein Verständnis der Partnerschaft von Mensch und Kosmos geht, erkennt man besonders in seinem berühmten Sonnengesang, in dem er Gott auch für den Bruder Wind, die Schwester Wasser, den Bruder Feuer und sogar für den Bruder Tod dankt. Helmut Feld:

    "Er hat Tiere, Pflanzen, Sonne, Mond, Erde, Feuer, Wasser, Luft für beseelte und intelligente Wesen gehalten. Deswegen konnte er sie zum Lob Gottes aufrufen, deswegen konnte er den Vögeln predigen, deswegen konnte er alle Geschöpfe als Geschwister ansehen und sie als solche anreden. Man sieht: Die Ehrfurcht vor der Natur hat bei ihm nichts mit Schwärmerei und Überschwänglichkeit in romantischem oder modernem Verständnis zu tun, sondern sie entspringt vielmehr seiner Überzeugung, dass das Zeitliche, die sichtbare Materie, unmittelbar mit dem Ewigen zu tun hat; mit anderen Worten: dass das Leben aller Kreatur im Leben Gottes seinen Ursprung hat."

    Die Vorstellung von einer Herrschaft der Menschen über andere Wesen der Natur lehnt Franziskus ab. Denn alle Kreaturen wurden vom Schöpfer mit der gleichen Würde ausgestattet. Veit Jakobus Dieterich:

    "Franziskus steht mit seinem innigen Naturverhältnis nicht nur in seiner Zeit, sondern nahezu in der gesamten Geschichte des Christentums einzigartig dar."