Rainer B. Schossig: Noch gerade rechtzeitig vor Ostern hat das französische Parlament die Reform des heftig umstrittenen Kündigungsschutzes zurückgenommen. Die Protestfront hatte der Regierung ein Ultimatum bis Ostern gesetzt, um den Ersteinstellungsvertrag, CPE kurz, von Premierminister Dominique de Villepin zu stoppen. Das an Stelle des CPE beschlossene neue Gesetz sieht nun höhere Subventionen für Firmen vor, die junge Arbeitnehmer ohne Abschlüsse fest einstellen. Gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes waren in den vergangenen Wochen ja bekanntlich Millionen Franzosen auf die Straße gegangen. Ein politischer Erfolg nun, ein Pyrrhussieg für die Regierung oder eine Verschnaufpause? Zeit immerhin für uns, um die französischen Verhältnisse etwas einzusortieren. Vor der Sendung habe ich mit Christian Lahusen gesprochen. Er vertritt Politische und Kultursoziologie an der Hochschule in Siegen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Phänomen Protest. Herr Lahusen, Frankreich kehrt nun also zurück zur Normalität, aber gehört es nicht zur französischen Normalität, dass es in diesem Land immer wieder zu Explosionen des Protestes kommt?
Christian Lahusen: Zum Teil ist das richtig. Die französischen Proteste sind im Vergleich zu den deutschen etwas konfrontativer und das haben auch die Proteste gerade auch gegen die verschiedenen Versuche der französischen Regierung, Arbeitsmarktreformen, sozialpolitische Reformen durchzuführen, immer wieder gezeigt.
Schossig: Einer aktuellen Umfrage zufolge herrscht bei den Franzosen nach der Krise jetzt das Gefühl der Erleichterung, der Zufriedenheit vor. Aber viele Studenten, Schüler sagen auch, sie hätten Wut, sie wollten weiter protestieren, der Regierung noch mehr abtrotzen. Ist Frankreich jetzt gespalten?
Lahusen: Das glaube ich nicht. Also dass Proteste eine gewisse Eigendynamik an den Tag legen und dass man versucht, natürlich auf der erfolgreichen Welle der Proteste weiter zu reiten, das ist sicherlich richtig. Ich denke aber, dass Protestwellen eben, wenn man diese Metapher der Welle benutzt, auch eine gewisse Phase des Aufschwungs und des Abschwungs haben, und ich denke, dass mit dem Entgegenkommen der Regierung de Villepin auch die Hauptforderungen der Proteste erreicht werden und damit auch, denke ich, auf jeden Fall die Hochphase beendet sein sollte, zumal man ja auch bedenken muss, dass die Front, wenn man so will, ja durchaus unterschiedlich war. Es gab ja nicht nur Proteste gegen die Reform, sondern ja auch Proteste von Studierenden, die eigentlich in Ruhe weiter studieren wollten, die wieder zur Schule wollten. Da sind, wenn man so will, ja auch innerhalb der Studentenschaft und der Schülerschaft ja auch unterschiedliche Vorstellungen gegeben.
Schossig: Viele wollen ja auch Beamte werden, was ja wirklich eigentlich ein Paradox ist, weil man ja gegen den Staat protestiert und auch andrerseits dieses Grundgefühl der Angst vor Veränderung hat. Ist das eigentlich ein Kennzeichen - wir sprechen ja über Protestformen -, ein besonderes Kennzeichen dieser jüngsten Protestwelle gewesen?
Lahusen: Es ist ein Protest der Mittelschichten, das lässt sich so von den ersten Einblicken doch sagen, und sicherlich ist der öffentliche Dienst ein wichtiger Zielpunkt der Mittelschichten, zumal man auch weiß aus der Analyse von Protesten, dass, gerade wenn wir auf die Gewerkschaften sehen, die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstens immer, wenn man so will, an der vordersten Protestfront waren. Ich denke, hier ist natürlich auch der Bezug zum französischen Staat unmittelbar gegeben. Also der Ansprechpartner ist klar und damit auch, wenn man so will, der Arbeitgeber gegen oder für den man jeweils dann auch protestiert.
Schossig: Wenn man sich die Sache ansieht, dann waren dort ja sehr, sehr viele, sehr junge, politisch unerfahrene Menschen beteiligt. Könnte man auch von so etwas wie einer relativ naiven Suche nach dem Glück sprechen, was in solchen Protesten drinsteckt?
Lahusen: Es ist sicherlich so, dass viele sehr jung waren, viele auch zum ersten Mal protestiert haben, aber ich denke, dass selbst diese Jugendlichen, die ja aufgewachsen sind in einer politischen Kultur, in der Proteste nun mal auch zum politischen Alltag gehören, in der auf jeden Fall die Studierenden und die Schülerschaft gesehen haben, dass das zum Teil auch übliche Formen sind, ihre Unzufriedenheit auch auszudrücken, das würde ich jedenfalls, wenn man so will, als eine Grundeinstellung, Grundintention, die, wenn man so will, auch eine Ermutigung bringt, solche Protestformen auch zu wählen. Es ist ja auch so - das hat die vergleichende Forschung auch gezeigt -, dass die politische Kultur in Frankreich eine ganz andere ist als in Deutschland. Das kann man daran festmachen, dass viele Franzosen beziehungsweise ein größerer Durchschnitt der Bevölkerung ein größeres Misstrauen gegenüber der politischen Klasse, die tatsächlich auch als eine Klasse, als eine politische Klasse angesehen und kritisiert wird. Politische Situationen werden kritischer bewertet, die französische Demokratie wird schlechter bewertet, die eigenen Einflusschancen werden geringer erachtet. Also alle Elemente, die man einer politischen Kultur zuspricht, zeigen doch, dass die französische Bevölkerung wesentlich kritischer und entfremdeter gegenüber der Politik oder dem Staat ist, und das führt sicherlich auch dazu, dass Unzufriedenheit sich wesentlich konfrontativer und zum Teil auch, wenn man so will, radikaler äußert als in einem politischen System, in dem, wenn man so will, die Identifikationen und die eigenen Einflusschancen wesentlich besser gesehen werden.
Schossig: Ja, Herr Lahusen, nun sind wir schon mitten beim Vergleichen. Oskar Lafontaine, ja auch lange Zeit Mitglied der politischen Klasse in Deutschland, jetzt Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, der hat neulich gesagt: Wir brauchen französische Verhältnisse. Sie haben es jetzt schon etwas entwickelt. Könnten wir von dieser Entfremdung zwischen den Menschen und der politischen Klasse in Deutschland etwas lernen, so wie es sich in Frankreich darstellt, wie Sie eben geschildert haben?
Lahusen: Ja, das glaube ich gerne, dass Herr Lafontaine eine konfrontativere politische Landschaft sich wünscht für Deutschland. Zum Teil, denke ich, ist das am ehesten zu beobachten in den neuen Bundesländern, wo, denke ich, auch eine größere Entfremdung zu dem politischen Alltag, zu den politischen Institutionen zu erkennen ist. Gleichwohl kann man auch dort erkennen, dass die Protestformen niemals auch die Form angenommen haben bisher, wie es für Frankreich spezifisch ist. Also da, denke ich, bleiben Unterschiede erhalten.
Schossig: Proteste zeigen ja immer auch Risse oder verweisen auf Risse in der Gesellschaft. Immerhin ist es ja in den östlichen Bundesländern gelungen, große auch Integrationsleistungen zu vollbringen, zu realisieren mit den Bürgern der ehemaligen DDR.
Lahusen: Das ist richtig. Man muss eben auch bei den französischen Protesten sich daran erinnern, dass die Jugendarbeitslosigkeit in der Tat ein wesentlich größeres Problem ist. Gut, wenn man von den neuen Bundesländern spricht, dann wären da eigentlich ähnliche Bedingungen vorherrschend. Aber das Thema der Jugendarbeitslosigkeit ist in Frankreich, wenn man so will, ein ganz prominent diskutiertes Thema, das schon eine gewisse Tradition auch in den Medien hat. Das Bewusstsein der französischen Jugendlichen, hier eigentlich alleine gelassen zu werden und durch solche Gesetze, wenn man so will, auch noch gehindert zu werden, eine erträgliche Berufslaufbahn einzuschlagen, [das], denke ich, ist schon noch ausgeprägter als in Deutschland, wo das Thema Jugendarbeitslosigkeit niemals so gesondert politische Sprengkraft angenommen hat.
Schossig: Es gibt eine große französische Tradition des Protests. Sie beginnt vielleicht für unser Bewusstsein bei der großen Französischen Revolution 1789. Sie geht weiter über die kleineren Revolutionen im 19. Jahrhundert bis zur Pariser Commune. Sie hat dann 68 in Mai noch mal einen Höhepunkt gehabt. Auch wir haben ja in Deutschland eine gewisse Tradition seit 1945, seit 1949 schon, nämlich die Ostermarschbewegung, die ja ein politischer Protest ist. Ist der eigentlich spezifisch deutsch, auch in seiner historischen Rückwärtsgewandtheit, der etwa an den Paulskirchenprozess anknüpfte?
Lahusen: Historische Bezüge sind sicherlich gegeben, wobei ich behaupten würde, dass für Deutschland die Kontinuität gerade auch durch die jüngste deutsche Vergangenheit durchbrochen ist. In Frankreich, denke ich, ist es klar, dass diese große französische Tradition auch ganz explizit in den Protesten immer wieder aufflammt. Wenn man so will, der Republikanismus ist für viele Protestierende ein ganz wesentliches Element, vielleicht auch deswegen der Bezugspunkt auf den Staat, also diese prominente Orientierung am Staat ist ja letztendlich auch von der Hoffnung genährt, dass es möglich ist, Reformen auf den Weg zu bringen oder auch zu stoppen, die tatsächlich auch Probleme lösen. Also hier ist noch eine relativ große Hoffnung darin, dass die politische Klasse, wenn sie denn will, gute Politik auch für die gesamte Republik umsetzen kann. Also ich denke, diese historische Tradition ist gegeben. In Deutschland würde ich tatsächlich auch die Tradition, wenn es eine gibt, wesentlich kürzer fassen: Weimarer Republik, eher noch die Bundesrepublik Deutschland, und hier haben Sie die Ostermärsche angesprochen. Hier sieht man aber auch schon eine ganz andere Orientierung der Proteste. Es gibt in Deutschland eine Tendenz, wesentlich stärker konventionelle Protestformen zu wählen, also Petitionen, Anhörungen, Unterschriftslisten und dergleichen, aber ebenso auch demonstrative Protestformen, also Märsche, Demonstrationen und dergleichen, während in Frankreich konfrontative, zum Teil auch gewalttätige Proteste immer auch etwas stärker genutzt wurden. Hier kann man beispielsweise die Tradition eben der Besetzung von staatlichen Institutionen, zum Teil also auch Blockierung, auch Sachbeschädigung und dergleichen, das ist wesentlich spezifischer für die französischen Proteste. Das ist, wenn man das vergleicht auf die deutschen Verhältnisse, sicherlich auch gegeben, bei der Anti-AKW-Bewegung beispielsweise, aber auch hier kann man gleich sagen, schon wieder eine, wenn man so will, eine zivilisierte Form, eingehegte Form des Protestes sehen, wenn man auch gerade an die lange Diskussion denkt, zivilen Ungehorsam als eine doch sehr hochgradig geregelte und konventionalisierte Form von unkonventionellem Protest anzusehen.
Schossig: Zum Schluss noch mal die Frage, woher kommt es, dass hier in Deutschland die Rebellionslust relativ geringer ist als in Frankreich?
Lahusen: Das hat sicherlich zum einen mit der politischen Kultur zu tun. Hier spricht man in Deutschland doch von einer stark ausgeprägten bürgerlichen Vorstellung. Die Bürger haben eine größere Identifikation mit den politischen Institutionen, meinen auch, dass sie mehr Einfluss haben, auch wenn sie immer noch meinen, sie hätten geringen Einfluss, so doch etwas mehr, sehen sie die Sache positiver als ihre französischen Landsleute, die meinen, dass die Demokratie eine kläglich funktionierende Institution ist. Also hier ist die Hoffnung, dass das politische System arbeitet, größer, weshalb dann auch, wenn man so will, die Reaktionen, die Proteste nicht ganz so konfrontativ ausfallen. Dazu kommt eben auch der Hinweis darauf, dass politische Eliten in Deutschland eben auch gegeben sind, aber nicht tatsächlich so sich in Form einer politischen Klasse, einer großen Reihe von Familien, die sich doch relativ erfolgreich dann auch in wichtigen Positionen halten können über Generationen hinweg, wahrgenommen wird, sondern hier ist eine etwas größere Durchlässigkeit von politischen Eliten zu erkennen, womit also auch die Hoffnung besteht, dass der Aufstieg möglich ist. Und ein dritter Punkt hat sicherlich auch damit zu tun, dass in Deutschland die Kultur des ehrenamtlichen Engagements größer ist. Man engagiert sich eher und ist damit aber eben auch wiederum eingebunden, und diese Form der Einbindung ist natürlich auch eine Form, wie man Protest, möglichen Protest oder mögliche Unzufriedenheit kanalisiert und damit auch entschärft.
Christian Lahusen: Zum Teil ist das richtig. Die französischen Proteste sind im Vergleich zu den deutschen etwas konfrontativer und das haben auch die Proteste gerade auch gegen die verschiedenen Versuche der französischen Regierung, Arbeitsmarktreformen, sozialpolitische Reformen durchzuführen, immer wieder gezeigt.
Schossig: Einer aktuellen Umfrage zufolge herrscht bei den Franzosen nach der Krise jetzt das Gefühl der Erleichterung, der Zufriedenheit vor. Aber viele Studenten, Schüler sagen auch, sie hätten Wut, sie wollten weiter protestieren, der Regierung noch mehr abtrotzen. Ist Frankreich jetzt gespalten?
Lahusen: Das glaube ich nicht. Also dass Proteste eine gewisse Eigendynamik an den Tag legen und dass man versucht, natürlich auf der erfolgreichen Welle der Proteste weiter zu reiten, das ist sicherlich richtig. Ich denke aber, dass Protestwellen eben, wenn man diese Metapher der Welle benutzt, auch eine gewisse Phase des Aufschwungs und des Abschwungs haben, und ich denke, dass mit dem Entgegenkommen der Regierung de Villepin auch die Hauptforderungen der Proteste erreicht werden und damit auch, denke ich, auf jeden Fall die Hochphase beendet sein sollte, zumal man ja auch bedenken muss, dass die Front, wenn man so will, ja durchaus unterschiedlich war. Es gab ja nicht nur Proteste gegen die Reform, sondern ja auch Proteste von Studierenden, die eigentlich in Ruhe weiter studieren wollten, die wieder zur Schule wollten. Da sind, wenn man so will, ja auch innerhalb der Studentenschaft und der Schülerschaft ja auch unterschiedliche Vorstellungen gegeben.
Schossig: Viele wollen ja auch Beamte werden, was ja wirklich eigentlich ein Paradox ist, weil man ja gegen den Staat protestiert und auch andrerseits dieses Grundgefühl der Angst vor Veränderung hat. Ist das eigentlich ein Kennzeichen - wir sprechen ja über Protestformen -, ein besonderes Kennzeichen dieser jüngsten Protestwelle gewesen?
Lahusen: Es ist ein Protest der Mittelschichten, das lässt sich so von den ersten Einblicken doch sagen, und sicherlich ist der öffentliche Dienst ein wichtiger Zielpunkt der Mittelschichten, zumal man auch weiß aus der Analyse von Protesten, dass, gerade wenn wir auf die Gewerkschaften sehen, die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstens immer, wenn man so will, an der vordersten Protestfront waren. Ich denke, hier ist natürlich auch der Bezug zum französischen Staat unmittelbar gegeben. Also der Ansprechpartner ist klar und damit auch, wenn man so will, der Arbeitgeber gegen oder für den man jeweils dann auch protestiert.
Schossig: Wenn man sich die Sache ansieht, dann waren dort ja sehr, sehr viele, sehr junge, politisch unerfahrene Menschen beteiligt. Könnte man auch von so etwas wie einer relativ naiven Suche nach dem Glück sprechen, was in solchen Protesten drinsteckt?
Lahusen: Es ist sicherlich so, dass viele sehr jung waren, viele auch zum ersten Mal protestiert haben, aber ich denke, dass selbst diese Jugendlichen, die ja aufgewachsen sind in einer politischen Kultur, in der Proteste nun mal auch zum politischen Alltag gehören, in der auf jeden Fall die Studierenden und die Schülerschaft gesehen haben, dass das zum Teil auch übliche Formen sind, ihre Unzufriedenheit auch auszudrücken, das würde ich jedenfalls, wenn man so will, als eine Grundeinstellung, Grundintention, die, wenn man so will, auch eine Ermutigung bringt, solche Protestformen auch zu wählen. Es ist ja auch so - das hat die vergleichende Forschung auch gezeigt -, dass die politische Kultur in Frankreich eine ganz andere ist als in Deutschland. Das kann man daran festmachen, dass viele Franzosen beziehungsweise ein größerer Durchschnitt der Bevölkerung ein größeres Misstrauen gegenüber der politischen Klasse, die tatsächlich auch als eine Klasse, als eine politische Klasse angesehen und kritisiert wird. Politische Situationen werden kritischer bewertet, die französische Demokratie wird schlechter bewertet, die eigenen Einflusschancen werden geringer erachtet. Also alle Elemente, die man einer politischen Kultur zuspricht, zeigen doch, dass die französische Bevölkerung wesentlich kritischer und entfremdeter gegenüber der Politik oder dem Staat ist, und das führt sicherlich auch dazu, dass Unzufriedenheit sich wesentlich konfrontativer und zum Teil auch, wenn man so will, radikaler äußert als in einem politischen System, in dem, wenn man so will, die Identifikationen und die eigenen Einflusschancen wesentlich besser gesehen werden.
Schossig: Ja, Herr Lahusen, nun sind wir schon mitten beim Vergleichen. Oskar Lafontaine, ja auch lange Zeit Mitglied der politischen Klasse in Deutschland, jetzt Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, der hat neulich gesagt: Wir brauchen französische Verhältnisse. Sie haben es jetzt schon etwas entwickelt. Könnten wir von dieser Entfremdung zwischen den Menschen und der politischen Klasse in Deutschland etwas lernen, so wie es sich in Frankreich darstellt, wie Sie eben geschildert haben?
Lahusen: Ja, das glaube ich gerne, dass Herr Lafontaine eine konfrontativere politische Landschaft sich wünscht für Deutschland. Zum Teil, denke ich, ist das am ehesten zu beobachten in den neuen Bundesländern, wo, denke ich, auch eine größere Entfremdung zu dem politischen Alltag, zu den politischen Institutionen zu erkennen ist. Gleichwohl kann man auch dort erkennen, dass die Protestformen niemals auch die Form angenommen haben bisher, wie es für Frankreich spezifisch ist. Also da, denke ich, bleiben Unterschiede erhalten.
Schossig: Proteste zeigen ja immer auch Risse oder verweisen auf Risse in der Gesellschaft. Immerhin ist es ja in den östlichen Bundesländern gelungen, große auch Integrationsleistungen zu vollbringen, zu realisieren mit den Bürgern der ehemaligen DDR.
Lahusen: Das ist richtig. Man muss eben auch bei den französischen Protesten sich daran erinnern, dass die Jugendarbeitslosigkeit in der Tat ein wesentlich größeres Problem ist. Gut, wenn man von den neuen Bundesländern spricht, dann wären da eigentlich ähnliche Bedingungen vorherrschend. Aber das Thema der Jugendarbeitslosigkeit ist in Frankreich, wenn man so will, ein ganz prominent diskutiertes Thema, das schon eine gewisse Tradition auch in den Medien hat. Das Bewusstsein der französischen Jugendlichen, hier eigentlich alleine gelassen zu werden und durch solche Gesetze, wenn man so will, auch noch gehindert zu werden, eine erträgliche Berufslaufbahn einzuschlagen, [das], denke ich, ist schon noch ausgeprägter als in Deutschland, wo das Thema Jugendarbeitslosigkeit niemals so gesondert politische Sprengkraft angenommen hat.
Schossig: Es gibt eine große französische Tradition des Protests. Sie beginnt vielleicht für unser Bewusstsein bei der großen Französischen Revolution 1789. Sie geht weiter über die kleineren Revolutionen im 19. Jahrhundert bis zur Pariser Commune. Sie hat dann 68 in Mai noch mal einen Höhepunkt gehabt. Auch wir haben ja in Deutschland eine gewisse Tradition seit 1945, seit 1949 schon, nämlich die Ostermarschbewegung, die ja ein politischer Protest ist. Ist der eigentlich spezifisch deutsch, auch in seiner historischen Rückwärtsgewandtheit, der etwa an den Paulskirchenprozess anknüpfte?
Lahusen: Historische Bezüge sind sicherlich gegeben, wobei ich behaupten würde, dass für Deutschland die Kontinuität gerade auch durch die jüngste deutsche Vergangenheit durchbrochen ist. In Frankreich, denke ich, ist es klar, dass diese große französische Tradition auch ganz explizit in den Protesten immer wieder aufflammt. Wenn man so will, der Republikanismus ist für viele Protestierende ein ganz wesentliches Element, vielleicht auch deswegen der Bezugspunkt auf den Staat, also diese prominente Orientierung am Staat ist ja letztendlich auch von der Hoffnung genährt, dass es möglich ist, Reformen auf den Weg zu bringen oder auch zu stoppen, die tatsächlich auch Probleme lösen. Also hier ist noch eine relativ große Hoffnung darin, dass die politische Klasse, wenn sie denn will, gute Politik auch für die gesamte Republik umsetzen kann. Also ich denke, diese historische Tradition ist gegeben. In Deutschland würde ich tatsächlich auch die Tradition, wenn es eine gibt, wesentlich kürzer fassen: Weimarer Republik, eher noch die Bundesrepublik Deutschland, und hier haben Sie die Ostermärsche angesprochen. Hier sieht man aber auch schon eine ganz andere Orientierung der Proteste. Es gibt in Deutschland eine Tendenz, wesentlich stärker konventionelle Protestformen zu wählen, also Petitionen, Anhörungen, Unterschriftslisten und dergleichen, aber ebenso auch demonstrative Protestformen, also Märsche, Demonstrationen und dergleichen, während in Frankreich konfrontative, zum Teil auch gewalttätige Proteste immer auch etwas stärker genutzt wurden. Hier kann man beispielsweise die Tradition eben der Besetzung von staatlichen Institutionen, zum Teil also auch Blockierung, auch Sachbeschädigung und dergleichen, das ist wesentlich spezifischer für die französischen Proteste. Das ist, wenn man das vergleicht auf die deutschen Verhältnisse, sicherlich auch gegeben, bei der Anti-AKW-Bewegung beispielsweise, aber auch hier kann man gleich sagen, schon wieder eine, wenn man so will, eine zivilisierte Form, eingehegte Form des Protestes sehen, wenn man auch gerade an die lange Diskussion denkt, zivilen Ungehorsam als eine doch sehr hochgradig geregelte und konventionalisierte Form von unkonventionellem Protest anzusehen.
Schossig: Zum Schluss noch mal die Frage, woher kommt es, dass hier in Deutschland die Rebellionslust relativ geringer ist als in Frankreich?
Lahusen: Das hat sicherlich zum einen mit der politischen Kultur zu tun. Hier spricht man in Deutschland doch von einer stark ausgeprägten bürgerlichen Vorstellung. Die Bürger haben eine größere Identifikation mit den politischen Institutionen, meinen auch, dass sie mehr Einfluss haben, auch wenn sie immer noch meinen, sie hätten geringen Einfluss, so doch etwas mehr, sehen sie die Sache positiver als ihre französischen Landsleute, die meinen, dass die Demokratie eine kläglich funktionierende Institution ist. Also hier ist die Hoffnung, dass das politische System arbeitet, größer, weshalb dann auch, wenn man so will, die Reaktionen, die Proteste nicht ganz so konfrontativ ausfallen. Dazu kommt eben auch der Hinweis darauf, dass politische Eliten in Deutschland eben auch gegeben sind, aber nicht tatsächlich so sich in Form einer politischen Klasse, einer großen Reihe von Familien, die sich doch relativ erfolgreich dann auch in wichtigen Positionen halten können über Generationen hinweg, wahrgenommen wird, sondern hier ist eine etwas größere Durchlässigkeit von politischen Eliten zu erkennen, womit also auch die Hoffnung besteht, dass der Aufstieg möglich ist. Und ein dritter Punkt hat sicherlich auch damit zu tun, dass in Deutschland die Kultur des ehrenamtlichen Engagements größer ist. Man engagiert sich eher und ist damit aber eben auch wiederum eingebunden, und diese Form der Einbindung ist natürlich auch eine Form, wie man Protest, möglichen Protest oder mögliche Unzufriedenheit kanalisiert und damit auch entschärft.