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Die Frau der Schmerzen

Die italienische Schauspielerin Eleonora Duse wurde zu einem der ersten Weltstars der Bühne. Mit einem Gastspiel in St. Petersburg begann ihre internationale Karriere, die sie bald auch nach Wien führte. Ihre unglückliche Liebe zum Dichter Gabriele d’Annunzio und eine nie auskurierte Lungenkrankheit: Die Rolle der Schmerzensreichen war der Duse auf den Leib geschrieben - nicht nur auf der Bühne.

Von Ruth Fühner | 03.10.2008
    "No, no, no, no … Das war der größte Schrei, der in meinem Leben je an mein Ohr gedrungen ist - es war die Flamme eines Schreis …"

    So erlebt der Essayist Rudolf Kassner die Duse in Wien, Mitte der 1890er Jahre. Das Stück ist schlecht, der Autor ihm keine Erwähnung wert, aber die Frau mit dem Schrei ist auf dem Weg zur Legende zu werden: vom Aschenputtel zur Theater-Königin der Schmerzen.

    Am 3. Oktober 1858 hineingeboren in eine Familie italienischer Komödianten, spielt sie als Kind auf der Bühne Rollen, von denen sie kein Wort versteht. Dann, mit 15, die Erleuchtung: In der Arena von Verona spielt sie Shakespeares Julia.

    "Ach, die Gnade, der Stand der Gnade! Jedesmal, wenn es mir gegeben ist, den Höhepunkt meiner Kunst zu berühren, finde ich die unsagbare Hingebung. Ich war Julia …"

    In ihren eigenen Worten ist das nicht überliefert, nur in denen des Dichters Gabriele d’Annunzio, von dem sie sich später, so heißt es, seelisch misshandeln lässt. Noch tingelt sie mit einer reisenden Truppe durch die Provinz, da erlebt sie die berühmte Sarah Bernhardt auf der Bühne.

    Und Eleonora Duse greift nach den Sternen. Lässt nicht locker, bis sie dieselben Rollen spielt. Die leichtfertigen Salonschlangen, die opferbereiten Melodramatikerinnen, allen voran Dumas' Kameliendame.

    Aber was Eleonora Duse - bald als Chefin ihrer eigenen Truppe - aus den Paraderollen der Bernhardt macht, ist etwas völlig anderes. So anders, dass sie - von Kritikern wie Alfred Kerr oder dem Dramatiker George Bernhard Shaw - zum fast schon ideologischen Widerpart der älteren Kollegin aufgebaut wird.

    Wer an der Bernhardt die klassische Pose, die Virtuosität, die nervöse Koketterie verachtet, vergöttert im verinnerlichten Spiel der Duse, in ihrer schlichten Ungeschminktheit, das Fanal der Jahrhundertwende-Bewegung: zurück zur Natur.
    Und sie? Sie kultiviert den Mythos der Naiven, lässt zu, dass man glaubt, es flöge ihr einfach zu, dass sie auf der Bühne nach Belieben erröten kann, und sie verschweigt die Anstrengung, die sie ihre Kunst kostet.
    Dabei sucht sie ständig nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Sie stürzt sich auf die Nora und setzt Ibsen überhaupt durch beim italienischen Publikum. Hugo von Hofmannsthal sieht sie unter anderm in Wien als Ibsens Hedda Gabler. Käthe Gold liest aus seiner Hommage an "Die Duse im Jahr 1903":

    "Es hat etwas von einem bösen Traum, sie die Hedda Gabler spielen zu sehen. Es liegt eine Unheimlichkeit darin, die außerhalb des Stückes liegt, die grotesker, aufgeregter, phantastischer ist als das Stück selbst."

    Noch sind die modernen, selbstbewussten Frauen auf der Bühne rare Wesen, und der Duse, mit ihren umflorten Augen, der nie auskurierten Lungenkrankheit, der unglücklichen Liebe zu d’Annunzio, von dessen unspielbaren Stücken sie sich eine Revolution des Theaters erhofft - der Duse ist die Rolle der Schmerzensreichen auf den Leib geschrieben.

    Sie hasse das Theater, wird kolportiert. Aber loslassen kann sie es nicht. Geldsorgen treiben sie auf strapaziöse Tourneen, die über ihre Kräfte gehen. Ihre Ausstrahlung aber ist ungebrochen. In Amerika erlebt ein staunendes Publikum, wie sich eine 65-jährige in ein Mädchen verwandelt und langsam mit dem Stück wieder altert - obwohl sich an ihrer äußeren Erscheinung nichts verändert.

    Aber eines Abends lässt der Türschließer einer amerikanischen Provinzklitsche den Weltstar im Regen stehen. Am 21. April 1924 stirbt Eleonora Duse in Pittsburgh an einer Lungenentzündung. Für ihren Totengottesdienst in New York werden - als wäre es ihre letzte Vorstellung - Eintrittskarten ausgegeben.