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Die Fugger und Welser des Schwarzwalds

Dialogreich, mit feinen kleinen Milieu- und Charakterstudien unterfüttert, sind "Die Fabrikanten" ein verspieltes, vielstimmig erzähltes Capriccio über ein deutsches Phänomen, das Familienunternehmen. Sibylle Mulot hat eine schwäbische Fabrikantenfamilie in ihren letzten einhundert fünfzig Jahre porträtiert, der sie den jüdischen Namen Kahn gibt. Die Kahns dürfen zurückblicken auf fünfhundert Jahre erfolgreiches Unternehmertum in der Holzbranche

Von Beatrix Langner | 06.06.2005
    Dialogreich, mit feinen kleinen Milieu- und Charakterstudien unterfüttert, sind " Die Fabrikanten" ein verspieltes, vielstimmig erzähltes Capriccio über ein deutsches Phänomen. Das Familienunternehmen: Ein Auslaufmodell. Der deutsche Familienroman liegt dagegen im Bücherranking ganz vorn. Dass zwischen diesen beiden Sachverhalten irgendein Zusammenhang bestehen könnte, das legt die Lektüre dieses Romans durchaus nahe. Sibylle Mulot hat eine schwäbische Fabrikantenfamilie in ihren letzten einhundert fünfzig Jahre porträtiert, der sie den jüdischen Namen Kahn gibt. Die Kahns dürfen zurückblicken auf fünfhundert Jahre erfolgreichen Unternehmertums in der Holzbranche – "die Fugger und Welser des Schwarzwalds", wie sie genannt wurden.

    Eine Familie hat man, man kann sie sich nicht aussuchen, man wird hinein geboren. Das ist, unter gewissen Umständen, für diesen oder jenen, schon schwierig genug. Noch schwieriger, wenn es sich um eine Familie von Fabrikanten handelt, das heisst, eine Familie, die einen bürgerlichen Besitzstand repräsentiert: das Unternehmertum. Denn dann hat man nicht nur eine Familie, sondern die Familie hat einen, und zwar in lebenslangem Griff. Die Chronik des Unternehmens ist die Chronik der Familie. Sie muss um jeden Preis fortgesetzt werden, selbst um den Preis persönlichen Glücks. Neigungen, Begabungen, Leidenschaften unterliegen dem Gesetz der Erbfolge, wie es in dynastischen Fürstentümern der Fall war.

    Ein Familienroman im herkömmlichen Sinne sind "Die Fabrikanten" dennoch nicht; also keine alemannische Buddenbrook-Variation, obwohl die Kahns eine Filiale in Lübeck besitzen und eine Frau Mann als Nebendarstellerin auftritt – einer der berühmten ironischen Mulotschen Erzähleinfälle. Sibylle Mulot hat aus einer Fülle von Biografien und historischen Materials ein genealogisches Baukastensystem konstruiert, dessen einzelne Stimmen einander kampflustig ins Wort fallen. All diese Kahns, die den Fortbestand des Familienunternehmens durch kreative Anpassung an die Erfordernisse des jeweiligen Marktes sichern, haben eins gemeinsam: sie sind erfolgreich und durchsetzungsfähig. Hatte man mit Telegraphenmasten begonnen, so konnte man auch mit Holzbaracken für den Reichsarbeitsdienst und noch später mit Gartenpavillons Geld verdienen. Vom Holz zum Papier - nur ein kleiner Schritt. Von Nachttopfuntersetzern zu Bierdeckeln, von Bierdeckeln zu Toilettenpapier und Papierwindeln, von Kahn &Co. zur Kahn Werke AG. Es gab auch Maler, Schriftsteller, Musiker in dieser Familie. Aber sie kamen nicht an gegen Telegraphenmasten, Nachttopfuntersetzer und Bierdeckel.

    Das Kahn-Imperium wird auch von Lis, der letzten Kahn, den fälligen Tribut verlangen. Die Studentin, die sich zu Anfang der neunziger Jahre in Oslo bei einem Theaterworkshop verliebt und gerade ihre Zukunft entwirft, wird an ihren angestammten Platz zurückgerufen, bricht ihr Studium ab, verlässt ihren Liebsten und übernimmt in der schwäbischen Heimatstadt die hochverschuldete Wirtschaftsbuchhandlung des Vaters. Neben der Buchhandlung und einem liebhaberisch betriebenen Verlagsgeschäft ist von den Kahn-Werken allerdings nicht mehr viel übrig. Aus seiner einstigen Herrlichkeit ist der Kahn-Clan in die Niederungen deutscher Konjunkturlöcher gerutscht. Am Ende gehören die Kahn Werke der Bank; auch die Buchhandlung, für die Lis ihre Liebe und ihre Freiheit geopfert hat. Fünfzehn Jahre später hat Lis eine Vision, die Vision von einem Bücherhaus. Nicht für die Wirtschaftsbücher des Vaters, sondern für schöne bunte Bücher, mit denen vermutlich kein Mensch mehr Geld verdienen kann.

    So sind sie, diese Kahns. Abgesehen von der dynastischen Laune, alle erstgeborenen Kahns Ladislaus zu nennen bzw. Ladislawa, wenn es sich um ein Mädchen handelt, was die Übersichtlichkeit der Personnage etwas erschwert, zeichnet Mulot diese Familie als ein Panoptikum skurriler und liebenswürdiger Einzel-Individuen, ein fruchtbares Feld literarischer Charakterskizzen, in dem Eigenwilligkeit und familiäre Beziehungsarbeit der wichtigste Faktor im industriellen Wertschöpfungsprozess darstellen. In dieser temperamentvollen "familiären Betriebsführung" steckt eine nette kleine Wirtschaftsgeschichte im Taschenbuchformat, sozusagen das humanistische Gegenmodell zur industriellen Kapitalverflechtung, in dem unternehmerische Phantasie und persönliche Opferbereitschaft, Individualität und bürgerliche Hochkultur noch so schön zusammengingen. Ein Auslaufmodell, wie gesagt, das die bürgerliche Erwerbsfamilie für einen letzten Moment in den sanften Schein der Abenddämmerung taucht, bevor es sein klägliches Erbe antritt - Single-Haushalte, Ich-AGs und die Pilcherisierung des guten, alten Familienromans.

    "Die Fabrikanten"
    Von Sibylle Mulot
    (Diogenes Verlag)