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Die ganze Wucht des Lebens

Nino Haratischwili hat sich vor allem als Theaterregisseurin profiliert. Auf der Frankfurter Buchmesse stellte die in Tiflis geborene Autorin ihren zweiten Roman "Mein sanfter Zwilling" vor. Ihr Werk wurde mit dem Preis der Hotlist für die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen auszeichnet.

Von Lerke von Saalfeld | 21.10.2011
    So, wie die 28-jährige Schriftstellerin Nino Haratischwili in ihren Theaterstücken immer wieder durch jähe Wendungen und dramatische Zuspitzungen die Zuschauer überrascht, so kühn hatte sie auch vor zwei Jahren ihren ersten Roman "Juja" angelegt, so gespickt mit Überraschungen ist auch ihr zweiter Roman, der soeben in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen ist. Pathos, Aufgewühltheit, unerhörte Begebenheiten durchziehen auch diesen Roman, aber die Autorin hat einen sehr anderen Weg der Darstellung gewählt:

    "Ich glaube, dass ich nach einem anderen Ansatz gesucht habe als bei 'Juja', zumal ich auch dieses Thema mit Georgien noch einmal aufgreifen wollte, und da es bei dem ersten Roman nicht der Fall ist, dachte ich, bei dem zweiten darf ich das, ohne dass es gleich wieder in die Georgien-Schublade kommt. Und dann war es halt klar, dass diese Geschichte sich irgendwie auf eine Familiengeschichte, eine Liebesgeschichte konzentriert, und dass es einen anderen Aufbau, eine andere Sprache braucht. Ich hab dann beschlossen, dass der Stoff am Besten in einer Reduktion angesiedelt wäre, dass ich Dialoge gern hab, auch in der Belletristik, dass ich gern Umgangssprache höre; oder wie sprechen die Figuren, nicht nur der Autor oder die Autorin."

    Sodass sich die Person durch die Sprache selbst charakterisiert.

    "Genau, das finde ich eine tolle Möglichkeit, dass die Figuren selber zu Wort kommen und in ihrer Sprache sich definieren können. In der Belletristik, anders als in der Dramatik, hat man als Autor eine Überposition, weil man immer noch zusätzlich über die schreiben kann, die verschiedenen Situationen noch mal verschieden beleuchten kann. Ich find das ganz schön, rein geschmacklich, wenn die Figuren noch mal selber zu Wort kommen."

    Zu Wort kommen in diesem Roman vor allem Stella und Ivo, die wie symbiotische Geschwister miteinander aufgewachsen sind, aber keine Geschwister sind, die bei der Großmutter Tulja an der Ostsee leben, aber diese Großmutter ist nicht die eigentliche Großmutter, wie vieles in diesem Roman nur "eigentlich" ist und in Wirklichkeit eine andere Realität verbirgt, die nur langsam, qualvoll und beklemmend ans Licht kommt. Die Familie ist zerborsten, denn es liegt eine große Schuld zwischen den Personen, über die nicht gesprochen wird. Stella ist nun Mitte dreißig, hat sich gut bürgerlich-"ordentlich" verheiratet, hat einen Sohn und will die Vergangenheit abstreifen. Da taucht plötzlich nach sieben Jahren Abwesenheit Ivo wieder auf und bringt alles durcheinander. Die gewonnene Selbstsicherheit von Stella bricht zusammen, denn sie weiß, sie lebt mit ihrem Mann Mark ein falsches, ein geborgtes Leben; sie ist tief irritiert, was Ivo von ihr will.

    "Das ist das, was Stella nicht begreift, das ganze Buch über, und erst zum Schluss - leider einen Tick zu spät - versteht, dass es diesmal bei ihm um so eine Art Heilung oder Klärung von etwas geht und dadurch, dass es in der Vergangenheit nie möglich war, bei keinem dieser Familienmitglieder und vor allem nicht bei den Zweien, wird davon ausgegangen, dass es wieder um eine Destruktion geht, dass es irgendetwas wieder kaputtmachen wird. Man glaubt einfach nicht mehr an so etwas wie Geheiltwerden oder dass etwas endgültig geklärt werden kann. Er möchte, dass sie selber herausfindet, dass sie selber draufkommt, was er eigentlich will. Das ist leider auch der fatale Fehler, weil sie es leider zu spät erkennt, zu sehr misstrauisch ist, wie alle anderen auch aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit und alles was sie durchgestanden haben, und es einfach keine Früchte getragen hat, zumindest nicht die, die sie sich gewünscht hätten."

    Was diese Familie ver- und zerstört hat, schält sich erst ganz am Ende des Romans in Rückblenden heraus und soll hier auch nicht verraten werden, aber es ist ein Ereignis, das mit aller Wucht das Leben der betroffenen Menschen durcheinandergebracht und verändert hat. Ivo scheint äußerlich immer noch der attraktive junge Mann zu sein, der unbekümmert und abenteuerlich als Journalist durch die Welt reist, bei allen Anerkennung findet und sein Leben zu meistern scheint. Stella wird dagegen immer welker und trauriger. Sie liebt Ivo und sie hasst ihn; auch er fühlt sich an sie gebunden, demütigt sie jedoch, geht grob und verletzend mit ihr um. In die Gegenwart werden die Bilder der gemeinsamen Vergangenheit eingeblendet, das behütete Heim bei der Großmutter Tulja zu der alle flüchten, wenn sie Kummer haben und Unterschlupf suchen. Stella kann durch das Auftauchen von Ivo ihr gewohntes Leben nicht mehr weiterführen, auch wenn sie ihren Sohn innig liebt. Sie merkt, wie sie in der Familie ihres Mannes zur Außenseiterin wird, wie ihr früheres Dasein an der Seite von Ivo wieder Besitz von ihr ergreift. Während Ivo einen festen Plan verfolgt, gerät sie aus der Bahn.

    "Was geschieht eigentlich mit einem Menschen, vor allem mit einer Frau, die mitten aus einem funktionierenden Leben plötzlich aussteigt, unabhängig von deren gemeinsamer Geschichte jetzt einfach zu sagen, okay, ich kann nicht mehr so weiter funktionieren, ich kann im klassischen Sinne keine Mutter mehr sein, ich kann nicht mehr arbeiten, ich kann niemands Ehefrau sein, ich weiß gerade überhaupt nicht mehr, wer ich bin, was ich bin ohne die Projektion der anderen. Das war der Ausgangspunkt, was mich interessiert hat: Bei ihr vor allem dieses Thema von Kontrollverlust, weil gerade in der Gesellschaft, in der wir leben sehr stark mit Leistung, mit Erfolg gearbeitet wird, man muss halt was schaffen - ich empfinde das oft überfordernd für viele Menschen. Ich hab mich dafür interessiert, was passiert, wenn man sagt, nein, hier stopp, ich biete keine Projektionsflächen, ich bin jetzt einfach draußen. Natürlich hängen an ihrem Leben noch viele andere mit dran, die damit nicht klarkommen. Ivo, was das betrifft, einerseits idealisiert sie ihn, andererseits hasst sie ihn. Es ist ja oft bei Schuldgeschichten so eine Art Zwangsehe bei denen, weil die nicht wirklich loskommen, weil sie ihn auch manchmal hasst, weil er immer so grob ist oder sich entzieht oder egoistisch sein Ding durchzieht und sie immer diejenige ist, die quasi rausgeschmissen wird oder aus ihrem Leben aussteigen muss."

    Der Roman ist unterteilt in zwei Kapitel "Hier" und "Dort". "Hier" - das ist Hamburg, wo Stella mit Familie lebt, das ist Niendorf an der Ostsee, wo Stella und Ivo bei der Großmutter Tulja einst aufwuchsen; "Dort" - das ist Georgien, wohin Ivo nach seinem plötzlichen Auftauchen Stella von ihrer Familie weglockt, um ihre gemeinsame Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Ivo hat dort ein Rechercheprojekt über eine Familie, über die er bereits viel Material in seinem Computer zusammengetragen hat. Stella schaut sich heimlich seine Dokumente an und beginnt zu ahnen, worauf Ivo es abgesehen hat. Reizvoll an diesem Kapitel ist, Stella kommt als Fremde in eine fremde Stadt, in ein fremdes Land, das die Autorin bestens kennt, denn sie ist dort aufgewachsen. Lange hatte Nino Haratischwili eine Scheu, Georgien in ihre Dramatik oder ihre Prosa einzuarbeiten. Sie wollte dort nicht falsch verortet werden, wollte jeden Anklang von Folklore vermeiden. Warum sie es dennoch gewagt hat ihr, Heimatland, das noch immer von den schweren Wunden des Bürgerkriegs gezeichnet ist, in das Romangeschehen einzubeziehen?

    "Weil das auch sehr stark etwas mit meiner Realität zu tun hat, weil ich mich immer zwischen diesen zwei Welten bewege und immer wieder versuche, einen Mittelweg zu finden. Immer wenn ich zu stark hier ankomme, mich dann doch eine Sehnsucht antreibt, ich dann doch immer wieder hinfahre; wenn ich zu lange dort bin, dann halte ich es dort nicht aus, fahre wieder zurück und so weiter und so fort. Das war halt so naheliegend, weil es einfach meine Realitäten sind. Ich fand es interessant, eine persönliche Tragödie zu nehmen und auf der anderen Seite eine Tragödie, die dann irgendwann persönlich wird, aber politisch eine Tragödie eines Landes dem entgegenzustellen. Ich fand es interessant wenn diese Frau, die ein riesengroßes Problem hat, der ihr Leben entgleitet, ihre Familie, die sie zurücklässt, an einem fremden Ort eintauchen zu lassen, wo sie mit der Tragödie eines Landes konfrontiert wird, die aber trotzdem extreme Parallelen zu ihrem Leben aufweist."

    Eingebettet in die politische Landschaft Georgiens, eingebettet in menschliche Zerwürfnisse, die durch den Krieg bedingt sind, erfährt Haratischwilis Stoff eine neue Dimension der Dramatik. Deutschland und Georgien sind nicht vergleichbar, aber:

    "Ich fand es halt spannend, diese persönliche Geschichte in diesen Kontext zu setzen und zu gucken, gibt es da Parallelen, kann man sich als Mensch solch verschiedener Kulturen, solch verschiedener Hintergründe irgendwo auch begegnen oder findet man Gemeinsamkeiten. Ich bin mir sicher, dass man es auf jeden Fall immer findet, und ich glaub, ab dem Moment, wo es bei einem persönlich andockt, dann wird es auch spürbar und klar, dann kann man sich dazu verhalten - es ablehnen oder etwas tun, handeln. Und sei es auch nur, dass man darüber nachdenkt. Das war für mich wichtig, dass Ivo und Stellas Geschichte noch einmal in einen andren Kontext gesetzt werden kann. Es war die Frage, ob das geht."

    Es ist Nino Haratischwili gelungen. Ihr Roman erzählt eine bewegende, aufwühlende Geschichte über den Verlust und die Zerstörung von Glück und die immer wieder hilflosen Versuche, der Macht des Schicksals zu entkommen. Ivo kommt durch einen tragischen Autounfall in Georgien ums Leben, Stella hat vielleicht die Chance zu einem Neuanfang.

    Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling. Frankfurter Verlagsanstalt, 379 Seiten, 22,90 Euro