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Die ganze Wunderwelt der Nanotechnik

Andreas Eschbach erzählt in seinem Roman "Herr aller Dinge" die Geschichte eines visionären Maschinenbauers, die zugleich die Geschichte eines grandiosen Scheiterns und einer einzigartigen Liebe ist. Eine kluge Meditation über das Wesen des Geldes und darüber, wie Menschen den Maschinen, die sie zu ihrem Heil ersonnen haben, anheim fallen können.

Von Hartmut Kasper | 30.01.2012
    Zu Beginn hängt alles in der Schwebe: Der junge Hiroshi Kato sitzt im Garten der französischen Botschaft auf der Schaukel. Er ist ein kluger Kopf; die Mutter Japanerin, der Vater Amerikaner. Auf der Schaukel neben ihm sitzt Charlotte Malroux, die Tochter des französischen Botschafters in Japan.

    Die beiden sind Freunde, seit Hiroshi dem Mädchen eine Puppe repariert hat. Hiroshi ist gut darin, Dinge zu reparieren, sie wieder heil zu machen. An diesem Morgen erklärt Hiroshi, dass ihm eine Idee gekommen sei, eine große Idee, etwas, das man als in aller Bescheidenheit den größten Heilsplan aller Zeiten nennen könnte.
    Hiroshi sagt, er wisse, was man tun müsse, damit alle Menschen reich sind.

    "Schaukel doch!", rief sie. "Ich glaub dir eh nicht!"
    "Du wirst schon sehen."
    "Ich weiß, was du dir ausgedacht hast. Du denkst, wenn man einfach nur genug Geldscheine druckt, dann sind alle Menschen reich", schrie Charlotte, (….). "Aber das funktioniert nicht. (…) Davon wird einfach alles nur teurer, denn es gibt ja nicht mehr Sachen, nur weil es mehr Geldscheine gibt!"
    Hiroshi warf ihr einen verächtlichen Blick zu- "Das weiß ich selber", rief er.
    (…)
    "Du wirst schon sehen", rief Hiroshi noch einmal. (…) Wenn ich groß bin, mach ich das."
    "Was denn'"
    "Dass alle Menschen reich sind. Aber echt reich. Dass jeder alles hat, was er will. Und so viel er will. (…) Aber weißt du, was ich mich frage?"
    "Was'"
    Warum vor mir noch niemand draufgekommen ist, wie man das machen muss!", schrie Hiroshi. "Es ist nämlich unglaublich einfach!"


    Ganz so leicht ist es natürlich doch nicht. Dabei ist die Grundidee tatsächlich schlicht: Hiroshi plant, eine Maschine zu bauen, die sich selbst vervielfältigen und ihre Vervielfältigungen zweckmäßig abwandeln kann: Eine Maschine, die Maschinen baut, Kaffeemaschinen zum Beispiel, Flugmaschinen, Autos und Raumstationen.
    Und diese Idee lässt ihn nicht mehr los.

    "Ja, er hat es sozusagen als Ruf empfunden, die Idee, die Grundidee, die Gedanken, die ihm gekommen sind, die Träume, die er hatte, die ihm geholfen haben, seine erste Maschine zu konstruieren, in Kombination mit seiner großen Liebe, aus der nicht viel wird.
    Hiroshi ist jemand, der getrieben wird von einer Vision. Wohin ihn die hinführt, hat er ja vorher nicht gewusst."

    Mit Charlotte, der großen Liebe, stellt Eschbach seiner Hauptfigur Hiroshi eine kongeniale Partnerin zur Seite. Während Hiroshis Visionen in die Zukunft führen, hält Charlotte in einzigartiger, märchenhafter Weise Verbindung mit der Vergangenheit:

    "Ich habe so etwas wie eine besondere Gabe", erklärte sie ernst. (…) Wenn ich Dinge anfasse, dann weiß ich, was mit ihnen passiert ist. Ich weiß, wie alt sie sind, wem sie gehört haben und was das für Leute waren, denen sie gehört haben. Was sie erlebt haben, wovor sie Angst gehabt haben und so weiter."

    Für Charlotte sind alle Dinge menschengesättigt, erfüllt von menschlicher Geschichte. Eines Tages berührt sie in einem Museum ein Messer aus Obsidian. Und dieses Messer eröffnet ihr wahre Abgründe der Historie. Es ist nämlich um Jahrzehnttausende, wenn nicht Jahrhunderttausende älter als die bekannte Menschheitsgeschichte. Es ragt als Relikt einer vorgeschichtlichen Menschheit, einer Menschheit vor der Menschheit in Charlottes Gegenwart.

    Inspiriert von dieser Berührung mit der Vergangenheit beginnt Hiroshi, seine Vision ins Werk zu setzen. Die Maschinen, die er erbaut, sind Nano-Maschinen. Mikroskopisch klein, sind ihre Werkstoffe die bloßen Atome. Zeit vergeht, aber es gelingt Hiroshi nach und nach, seine Idee betriebsfähig zu machen: Die Nano-Maschinen, die Naniten, könnten nicht nur Kaffeemaschinen und Autos, sie könnten auch den Kaffee selbst, sie können Gold erzeugen, Raketen und Raumstationen bauen.
    Kurz: Sie vermögen die Welt noch einmal zu erschaffen. Das einzige, was sie nicht beherrschen, sind sie selbst. Sie brauchen einen Steuermann. Und dieser Steuermann ist natürlich niemand anders als Hiroshi Kato, der damit zum Herrn aller Dinge geworden ist.

    Hiroshi plant und arbeitet im industriellen Maßstab. Unter seinen Geldgebern macht sich zunehmend Entsetzen breit: Angenommen, eine dieser Maschinen der neuen Genesis würde funktionieren – wer würde eine zweite kaufen? Der Besitzer des Prototyps könnte seine zweite, dritte, millionste verschenken. Sämtliche Rohstoffe würden endlos recycelt; nicht nur Geräte, auch Kleidung, Edelmetalle, Nahrungsmittel stünden zur endlosen Verfügung. Wer, der alles hat, sollte noch Geld verdienen oder ausgeben wollen, wofür? Die eine und erste Maschine würde die Geld- und Weltwirtschaft, wie wir sie kennen, beenden.

    "Ich versuche immer, das Geld zu verstehen, und wundere mich immer, warum wir es nicht verstehen. Anders als bei Paläoanthropologie oder Neurologie ist das Geldwesen ja zu hundert Prozent eine menschliche Schöpfung. Und wir haben es trotzdem nicht im Griff. Wir verstehen es nicht einmal, was es mit uns tut, wie es funktioniert, welchen Gesetzmäßigkeiten es gehorcht, wie sich diese Regelwerke entwickeln. Darüber könnte ich verzweifeln."

    Wird nur ein Beruf bleiben, der nicht nanotechnisch beherrscht wird? Bleibt nur die Kunst nanotechnisch unberührt – oder wird es auch den Nano-Automatendichter geben? Gedichtsmaschinen?

    "Das würden wir nicht wollen. Die Künste sind ja die Tätigkeiten, mit denen wir uns selbst ausdrücken, unsere Individualität. Da macht es wenig Sinn, das maschinell zu reproduzieren. Der Roman schreibende Computer – es gibt natürlich solche Versuche, die sich durch unterschiedliche Raffinesse auszeichnen, vor allem aber dadurch, dass die computererzeugten Texte bis hierher in Vergleichstests immer als die langweiligsten empfunden wurden."

    Gegen Ende des Romans entfaltet sich tatsächlich die ganze Wunderwelt der Nanotechnik.
    Hiroshi Katos Naniten könnten den Globus umgestaltet. Katos Geschichte aber behält ihre private Dimension. Sie wird zur Heils- und Heilandsgeschichte, zur Geschichte eines Erlösers und einer Erlösung.

    Charlotte nämlich ist an Krebs erkrankt. Nach einigen grauenhaften Chemotherapien zieht sie sich zu einem Sterben in Würde zurück, umgeben von nichts als von menschengemachten Dingen.
    Eines Tages taucht unverhofft Hiroshi auf.

    "Es geht mir gesundheitlich nicht gut, das hast du vielleicht gesehen."
    "Ich weiß", sagte Hiroshi. ".Deswegen bin ich gekommen.
    "Um mich noch einmal zu sehen."
    "Nein", sagte er. "Um dich zu heilen."
    "Mich zu heilen'" Sie schüttelte den Kopf, spürte einen Anflug von Ärger. "Das kann niemand mehr."
    "Doch. Ich kann es. (…) Lass uns anfangen. Ich würde gern das Bett ein wenig vorziehen, sodass ich am Kopfende sitzen kann, ist das okay'"
    Charlotte nickte, fühlte sich ein wenig überrumpelt. "Was willst du überhaupt machen'"
    "Dir die Hände auflegen, schlicht gesagt"


    Wenn Hiroshi die Hände auflegt, dann nicht, um metaphysische Kräfte zu übertragen, sondern um seinen unsichtbaren therapeutischen Maschinen den Übergang von seinem Leib in den der Todkranken zu ermöglichen.

    Während die Myriaden mikroskopisch kleiner Heiler und Pfleger unterwegs sind, erzählt Hiroshi ihr die Geschichte der ersten Menschheit, die, wie es scheint, ebenfalls in der Nanotechnik ihr Heil gesucht, stattdessen aber etwas gefunden hat, was mit Hölle noch sehr milde umschrieben ist.
    Hiroshi Kato entschließt sich entgegen allem Brauch, aus der Geschichte – und sei es der Vorgeschichte – zu lernen.

    "Wer ist der Herr aller Dinge – das ist ja eigentlich ein Begriff, der Gott meint. Das ist ein Satz, der der Hauptfigur irgendwann zu Bewusstsein kommt, im Moment der Erkenntnis, in dem er merkt, dass ihm eine Macht zuteil geworden ist, die zu groß ist für ihn."

    Also schafft er den bislang einzigen Quell nanotechnischen Wissens ab: sich selbst.
    Hiroshi begeht Selbstmord. Vielleicht aber liegt genau hier das einzige Manko der Erzählung: dass die Figur mit ihrem Opfergang, in ihrer Selbstlosigkeit so makellos erscheint wie Winnetou und Old Shatterhand. Und mit ihrer Entrückung ins Reich der Idealgestalten verliert der Roman für einen Moment die Bodenhaftung, aus der er bis dahin seine Spannung bezogen hat.

    Immerhin gibt es so kein Happy End. Wozu aber auch ein Happy End? Wir haben die Geschichte eines visionären Maschinenbauers und Weltverbesserers gelesen und seines grandiosen Scheiterns, die Geschichte einer einzigartigen Liebe; eine hoch kluge Meditation über das Wesen des Geldes, und die Fabel davon, wie Menschen den Maschinen, die sie zu ihrem Heil ersonnen haben, anheim fallen können.

    Eschbachs Roman ist eine abenteuerliche, höchst unterhaltsame Lektion in Demut, die aus der Erkenntnis wächst, dass und warum es nicht lohnt, der Herr aller Dinge zu sein.


    Andreas Eschbach: Herr aller Dinge
    Roman, Gustav Lübbe Verlag. Köln 2011, 688 Seiten. 22 Euro
    Hörbuch gelesen von Mattias Koeberlin. 8 DCs mit 574 Minuten