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Die Gebrüder Wittgenstein

Prokofjews viertes Klavierkonzert für die linke Hand gibt Lea Singers neuem Roman seinen Titel. Prokofjew schrieb das Stück für den Virtuosen Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg einen Arm verlor. Paul und sein Bruder, der Philosoph Ludwig Wittgenstein stehen im Mittelpunkt der Erzählung.

Von Gabriela Jaskulla | 24.07.2009
    Wien, Paris, Brioni und das sibirische Omsk. Die Jahrhundertwende. Der Untergang Habsburgs. Der Erste Weltkrieg. Der Nationalsozialismus. Die romantische Schule. Brahms. Ravel. Britten und Prokofjew. - Die Münchner Autorin Lea Singer will mit ihrem "Konzert für die linke Hand" eine große Bühne bespielen, auch wenn es scheinbar nur um einen Solisten geht:

    "Das hat schon in meiner Jugend angefangen. Als ich zum ersten Mal ein Konzert für die linke Hand hörte - da war das Prokofjews Viertes, was auch ausschließlich für die linke Hand geschrieben ist und eben ein Auftragswerk für Paul Wittgenstein. Und ich habe mich während meines Studiums sozusagen in Fußnoten immer mehr dem Thema angenähert und bekam immer mehr Lust darauf, es zu verstehen und diesen Menschen zu verstehen."

    Prokofjews viertes Klavierkonzert, Opus 53, in B-Dur. Glücklich waren beide nicht - der Komponist wo wenig wie sein Interpret. Aber was hieß schon Glück bei den Wittgensteins. Der Unternehmer Karl Wittgenstein mit seiner Frau "Poldi", dazu die neun Kinder - alle hochmusikalisch, alle hoch neurotisch. Ein berühmter Philosoph darunter - Ludwig - einer mit einem tragischen Musikerschicksal - Paul. Sie sind so verschieden wie unversöhnlich miteinander verstrickt - verstrickt auch in ihrem Verhältnis als Juden zu einer zunehmend antisemitisch eingestellten Gesellschaft.

    "Beim deutschen Turnverein, wo Paul und Ludwig vor ein paar Jahren zur Bewerbung angetreten waren, hatte es geheißen: 'Gern, aber wir nehmen nur Nichtjuden auf.' Ludwig hatte genickt, gelächelt und das Anmeldeformular entgegengenommen. Paul hatte es ihm aus der Hand geschlagen, es zerknüllt, auf den Boden geworfen und darauf getreten."

    Lea Singer: "Ich glaube, dieser Bruderkampf, der ist natürlich sehr spannend, weil jeder sich durch den anderen definiert. Ich bin selbst eine von drei Geschwistern, und ich weiß, inwieweit das, was hinderlich erscheint am anderen, auch hilft, den Platz in der Welt zu finden, der einem dann gehört."

    Das Unglück in Hause Wittgenstein ist ein Glück für die Autorin. Hier kommen der gelernten Musikwissenschaftlerin einmal nicht Sachverstand und literarische Beflissenheit in die Quere. Der Text fließt, wenn die Autorin sich lässt. Besonders deutlich wird das in ihren Beschreibungen von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, an dem Paul und Ludwig wie so viele als Freiwillige teilnehmen. Paul wird verwundet. Der Pianist verliert seinen rechten Arm und gerät in Gefangenschaft in Sibirien. Der Tross der Gefangenen, die Reise in Schmutz und Verzweiflung rückt Singer durchaus in die Nähe solcher Virtuosen wie Michael Ondaatje, dessen "Englischer Patient" auf ähnliche Weise beeindruckend war.

    "Der Himmel hatte sich verfinstert, als der Zug dort hielt, wo Paul auf einem angerosteten Schild Omsk entzifferte. Die Insassen fielen aus dem Wagen. Sie hatten die aufrechte Haltung verlernt. Ein Eissturm empfing sie. Endstation sagte einer, als sie die Halle durchquerten. Vor einem Heiligenbild an der Wand beteten ein paar Frauen, aus deren starren Lammfellmänteln bunt geblümte Röcke hervorschauten. Die Frauen starrten die zerlumpten Männer an, drei versuchten, ihnen Brot zuzustecken, doch in ihren Gesichtern wollte Paul kein Mitleid erkennen.

    (...) Omsk, eine nackte Stadt, in der sich offizielle Gebäude mit ihrer Säulenwucht brüsteten, fettleibige Klöster mit verdreckten Sahneschnörkeln sich breitmachten, Plätze gähnten."


    Lea Singer: "Früher habe ich mich immer gewundert, wie Künstler - wir können da Franz Marc nehmen - mit fliegenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg zogen. Ich habe das nie verstanden. Schreibend, über Paul nachdenkend, habe ich zum ersten Mal nachvollziehen können, was die dazu trieb, in diesem irrwitzigen Patriotismus sich freiwillig zu melden und glücklich zu sein, sobald sie eingezogen wurden, um an die Front geschickt zu werden. Das hat natürlich eine große Bedeutung für Pauls Entwicklung. Deshalb ist dieser Passus wahrscheinlich länger geworden, als ich es ursprünglich plante."

    Leider lässt Lea Singer nicht immer so locker. Zu oft folgt sie einem starren Programm. So gleichen die häuslichen Szenen in Wien unnötig komplizierten Familienaufstellungen, die Vielzahl von Namen und Kosenamen macht unwillig. Landschaftsbeschreibungen kommen über Klischees nicht hinaus: Dann zirpen auf Brioni naturgemäß die Zikaden. Wenn zwei miteinander ins Bett gehen, "zeigt sich die feuchte Seite der Liebe", tun sie es nicht, werden sie "heimgesucht von den Lemuren unbefriedigter Gelüste". Umständlich werden Dinge nicht einfach gesagt, sondern "vermeldet", und der Tiefpunkt ist erreicht, wenn die Ermordung des Kanzlers Engelbert Dollfuß in einer Montage mit einer dieser vermaledeiten Liebesszenen parallel geschnitten wird: Während der Kanzler, so Singer, "auf einem Sofa mit Gobelinbezug verblutet", hinterlässt "das Paar, das nackt auf einem ebenfalls mit Gobelin bezogenen Sofa lag, ebenfalls eine Blutspur".

    So etwas kann einer versierten Autorin wie Lea Singer eigentlich nur im Moment ehrgeiziger Verkrampfung unterlaufen. Weil sie alles will, übersieht sie das Naheliegende: dass sich der Vater-Sohn-Konflikt, den Paul mit seinem Vater Karl ausfocht, in den Beziehungen zu den Komponisten fortsetzte, die er mit Aufträgen versah. Gegen Ravel, Britten und Korngold rebellierte Paul mit der Macht des Mäzens und der ohnmächtigen Liebe eines Sohnes. In den Beschreibungen der Musikgrößen und vor allem in den pointierten Dialogen mit ihnen zeigt sich dann wiederum der ganze Sprachwitz der Autorin. Mögen sie auch überzeichnet sein - erhellend sind die Bilder allemal, so wie die bösesten Gemälde von Max Beckmann. Paul Hindemith etwa erscheint als "Babyface":

    "Paul berichtete von seinen Aufträgen an Labor, auch von dessen Klaviertrio, das er im vergangenen Jahr uraufgeführt hatte.
    'Ist dies sein letztes Werk?', fragte Hindemith.
    'Aber nein ...'
    'Schade', kam es aus dem Säuglingsgesicht.
    'Was vermissen Sie bei Labor?', erkundigte sich Paul.
    'Den Einfall', strahlte Hindemith. Dann kratzte er sich an der Wange."


    Als hätte das unbewusst eine Rolle gespielt, endet Lea Singers biografischer Roman ganz folgerichtig schon mit der Emigration Pauls im Jahr 1939 in die USA, wo er noch 22 Jahre lebt. Er heiratet seine jugendliche Geliebte, die blinde Pianistin Hilde Schania, und befreit sich von seinem Übervater, in dem er selbst Verantwortung übernimmt. Er pflegt ein entspannteres Verhältnis zur Musik, er ist sogar mit dem heiklen Ravel versöhnt.

    Über neurotisch Hochbegabte, über die schmerzvolle Suche nach einer Heimat in der Musik ist in diesem Roman vieles zu erfahren. Er gleicht ein bisschen einem rotbackig verlockenden Paradiesapfel: Beim Öffnen noch verheißungsvoll anzuschauen, ist es überaus mühsam, an seine wenigen Kerne heranzukommen. Diese erweisen sich dann jedoch wieder als überraschend saftig und kraftvoll.

    Lea Singer: Konzert für die linke Hand
    Verlag Hoffmann und Campe