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Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg. Frankfurter Poetikvorlesungen

Der Mensch braucht Feinde, zumal der schreibende. In einer in sich gerecht gefügten Welt gibt es für ihn nichts mehr aufzuräumen, es sei denn, er rüttelt an den Grundfesten der Gesellschaft und provoziert den Einsturz einiger Gewissheiten. Im allgemeinen tun das nur jugendliche Helden, was das Problem aufwirft, wohin man all die vitalen Frührentner jenseits des 25. Lebensjahres stecken soll? Ein verschwindend kleiner Prozentsatz wandert in die Gefängnisse, die allermeisten lassen sich problemlos im bürgerlichen Leben recyclen, und nur ganz wenige Ausnahmen, die sich zurecht mit der Mehrheit anlegten - was die Mehrheit ungern zugibt -, erwartet ein unersprießliches Schicksal: Sie dürfen die Rolle des nützlichen, aber geächteten Rebells nie mehr verlassen. Schimmert irgendwo ein Hauch von Altersmilde durch, stehen sofort die früheren Gegner Gewehr bei Fuß: Der Feind, den ich mir schuf, sorgt dafür, dass ich nie aus den alten Verhältnissen entlassen werde.

Florian Felix Weyh |
    Von Altersmilde kann bei Rolf Hochhut nicht die Rede sein, und doch hat der ungebrochen wütende Gestus seiner Frankfurter Poetikvorlesungen - überall lauert Misswirtschaft, Lüge, Unterdrückung - etwas seltsam Gezwungenes. Unbestritten Hochhuts Verdienste im politischen Raum, als letzter Zeuge der Vor-Informationsgesellschaft, in der man über ein Theaterstück noch die Gesellschaft verändern konnte. Dass dies heute nicht mehr geht, kann der beinahe Siebzigjährige nicht verwinden und wird schon über die tägliche Zeitungslektüre irre an sich selbst. "Ich kann zuweilen wochenlang", gibt er in der dritten Vorlesung zu, "deshalb gar keine Zeitung ansehen, weil die Lektüre mich abdriften lässt zu immer neuen potentiellen Dramenstoffen." Eben keine Dramen, würde jeder Dramaturg oberlehrerhaft kritisieren, denn bis der Zeitungsstoff zu einem Stück geronnen ist, ist er längst kein Stoff mehr. Das Theater taugt nur zum politischen Skandal, solange die anderen Medien den heißen Stoff verschweigen. Hochhut, der beste Spiegel-Reporter aller Zeiten, der nie beim Spiegel arbeitete, ist ein Fossil - und war das schon, als er vor vierzig Jahren mit dem "Stellvertreter" debütierte. Sein Leitstern heißt Friedrich Schiller, seine theatralische Sendung liegt in der Verwirklichung der moralischen Anstalt - die das Theater zu keiner Zeit war und hoffentlich nie sein wird, denn wo Moral sich mit dem Anstaltsgedanken paart, liegt die schwarze Pädagogik mit ihren inquisitorischen Anmaßungen nicht weit. Und wie ihn in den Theaterstücken der Furor vorantreibt, nicht das kalte ästhetische Kalkül, sind seine fünf Frankfurter Poetikvorlesungen mit heißem Herz geschrieben. Auf Kosten der Stringenz: Hochhut breitet darin alles - aber wirklich alles - aus, was ihn rund ums politische Drama bewegt, aber eigentlich redet er nur von sich selbst. Von seinen Verwundungen und ihm ungerecht zugefügten Niederlagen, von der Einsamkeit seiner Stellung auf verlorenem Posten. Denn niemand von den jüngeren Dramatikern ist ihm je nachgefolgt - er würdigt sie auch keines Wortes -, und die Zeitgenossen aus der 68er-Fraktion haben stets an ihm herumgemäkelt, weil er die Fakten mehr liebt als den schönen Dialog. Und tatsächlich beweist Rolf Hochhut in diesen Vorlesungen ein weiteres Mal, dass er ein grandioser Archivar, ein Spürhund von Zitaten und Belegen ist, aber doch eher ein bescheidener Zuchtmeister der deutschen Sprache. Man mag gar nicht glauben, dass die vollgestopften Vorlesungsmanuskripte von 1996/97 wirklich in der ihnen zugebilligten Zeit vorgetragen werden konnten - wenn ja, bei wieviel Informationsverlust in den Studentenhirnen? -, und wenn es jemanden gibt, dem man nachträglich zum 70. Geburtstag das Abitur zuerkennen sollte, dann diesem Manne, der so offensichtlich unter der mangelnden Akzeptanz der intellektuellen Szene leidet.

    Die Feinde indes sind nach den großartigen Feldschlachten der frühen Jahre immer mickriger geworden. So muss Friedrich Nietzsche herhalten, weil sein Satz von der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" schön klingt, aber die Wahrheit verbiegt. In den letzten beiden Vorträgen sind es die Erben von Schriftstellernachlässen, an denen sich der letzte deutsche Kampfliterat aufreibt. Nein, wir erleben bei durchaus faktenreicher Essayistik - mit ermüdend langen Zitateinschüben - den betrüblichen Niedergang eines mürrischen Rechthabers. Im Zieleinlauf scheinen die Feinde von einst endlich gesiegt zu haben: Dem Empörer die Alterswürde abzuschneiden ist so ziemlich die sicherste Methode, sein Lebenswerk zu diskreditieren; am effektivsten tut er dies freilich selbst.