Der Fall Sofri ist nur ein, wenngleich besonders augenfälliges Beispiel für die mysteriösen Gangeleien einer Justiz, von der Enszensberger einmal schrieb, nirgendwo habe sie sich weiter vom Verstand der Menschen entfernt als in Italien.
"Jeder, der dieses herzliche Land kennt, weiß, dass er sich hüten muss, mit der Justiz in Berührung zu kommen, es sei denn, er sei ein Krimineller. In diesem Fall ist ihr Zustand von unschätzbarem Vorteil." Das klingt pointiert, entspricht aber leider der Wirklichkeit. Die erst jüngst von der neuen italienischen Regierung erlassenen Gesetze sind der trifftigste Beleg: Die internationale Zusammenarbeit der Justizbehörden ist auf eine Weise erschwert worden, dass viele Prozesse sowohl gegen Mafiosi als auch islamistische Terroristen wie das Hornberger Schießen auszugehen drohen: Mit dem Freispruch der Angeklagten. Im selben Moment kündigt die Regierung härteste Strafen gegen Drogenabhängige an.
Sofris Buch spricht allerdings von der Vergangenheit, den Jahren zwischen 1988 und ' 92. Das meiste an seiner vor allem im zweiten Teil vorgenommenen Analyse des Gefängnisses in der italienischen Gesellschaft ist freilich noch heute aktuell. Der Titel: "Die Gefängnisse der anderen" ist kaum zufällig gewählt. Er weist darauf hin, dass der Philologe und Publizist Sofri, der 1997, ohne Beweise oder Indizien, lediglich aufgrund der Aussage des Kronzeugen Leonardo Marino zu zweiundzwanzig Jahren Haft wegen angeblicher Anstiftung zum Mord verurteilt wurde, nicht seinen Fall in den Mittelpunkt rückt. Das Buch lässt so ziemlich alles vermissen, was man sich von einem Tagebuch aus der Haft erwarten mag: Hier spricht einer nicht wehleidig, von dem, was er erlebt, sondern gefasst, höchstens bissig oder ironisch, hier schwingt sich keiner auf, um abzurechnen mit dem Staat und seinen Organen, die ihn verfolgen. Ja, es verblüfft der "distacco", wie man im Italienischen sagt, der Abstand, mit dem Sofri von seinen Erfahrungen spricht. Das Gefängnis, in dem er sitzt, ist zuerst immer das "Gefängnis der anderen", und so verbringt der Autor seine Tage vor allem damit, seine Mithäftlinge zu beobachten oder historische und aktuelle Gefängnisliteratur zu lesen und zu reflektieren. Dieser Abstand erlaubt dem Autor sprachliche Geschliffenheit und konzise Darstellung noch der Empfindungen ebenso wie erhellende Analysen, ja sogar die treffende Metaphorik, etwa wenn der soeben auf freien Fuß gesetzte Sofri bemerkt, dass sein Lebensgeist so schwach geworden sei, wie eine "Notkerze, wenn das elektrische Licht wieder angeht". Sofris Aufinerksamkeit für die Sprache ist geschärft, denn er weiß sehr wohl, dass sie es ist, in der sich die Erkenntnis wie auch ihr Gegenstück, die Verdrängung, ereignen. Sofri:
Die metaphorischen Definitionen der Freiheit machen mich immer unzufriedener und unleidlicher. Nicht nur, weil sie häufig an nutzlose Vertröstungen erinnern, also eine Art von Ausgleich eines ansonsten irreperablen Schadens darstellen sollen ...zum Beispiel, wenn ich Briefe erhalte, die sagen: "aber du, ja du bist in Wirklichkeit frei, auch wenn du im Gefängnis bist usw." Das alles ist absolut inakzeptabel. Der Körper und seine Unberührbarkeit, seine Bewegungsfreiheit sind die erste Voraussetzung jedes Diskurses über die Freiheit . ....Es gibt ja diese alte Metapher, in der man sogar vom Körper als Gefängnis spricht, das heißt, die Menschen haben sich selber, die eigene Seele, als etwas imaginiert, das sich von den Bedingungen des Körpers befreien müsste. Also stell dir die Situationen vor, in denen er doppelt gefangen ist. Einmal im metaphorischen und einmal im realen Sinn ....In jedem Fall meine ich, dass man die Metaphern nicht missbrauchen sollte.
Der erste Teil des Buches hebt mit der Verhaftung im Sommer 1988 an und umfasst die Zeit im Untersuchungsgefängnis sowie die ersten Wochen des verschärften Hausarrests. Sofri ist immer feinsinnig, etwa wenn er die italienische Gesellschaft mit dem Vers des erst sechzehnjährigen Manzoni charakterisiert: "Allzeit reuig, immerzu unverändert". Er ist diskret, wenn er das persönliche Leid in einem Witz aufhebt, wie dem vom Gefangenen, der auf die Tanznummer zweier von ihm dressierter Flöhe seine Zukunft setzt. Kaum freigelassen, will er das Flohwunder dem Kellner eines Lokals vorführen. "Sehen Sie die beiden Flöhe?", fragt ihn der ehemalige Sträfling. "Oh entschuldigen Sie bitte", antwortet der Kellner und mit einem Hieb seiner Serviette erschlägt er die Flöhe. Bemerkt Sofri: "Alle Witze beunruhigen mich. Dieser erzeugt bei mir eine Beklemmung". Den zweiten Teil, den Sofri, damals auf freiem Fuß, Anfang der 90er Jahre verfasste, analysiert das Gefängnis in der Zeit von "mani pulite", als viele der eben noch mächtigen Politiker und Industriellen für Wochen oder Monate, manchmal sogar Jahre, wegen Korruption im Knast einsaßen. Dass sie sich über unzumutbare Haftbedingungen beschwerten, kann bei Kenntnis der italienischen Gefängnisse kaum verwundern. Von Häme kann bei Sofri freilich keine Rede sein. Er schreibt: Die Gefangenen verharren "am Rande der Genugtuung und des plebejischen, rachsüchtigen Beifalls über den Ruin und die Enthebung jener von ihrem Thron. In dem Moment, da sie das Gefängnistor passieren, werden die Mächtigen ...zu unbeholfenen, ungeschlachten und ungeschickten Häftlingen, denen die einfachsten Regeln der Kunst des Überlebens beizubringen sind."
"Das Gefängnis ist eine Absenz von Schwerkraft", heißt es im Buch. Und was ist die Freiheit, zumal für einen, der erst im Jahre 2017 das Raumschiff Gefängnis verlassen kann? Sofri:
Die Freiheit ist das von der Utopie am weitesten Entfernte, wie alles das, von dem man besonders stark spürt, was es bedeutet, gerade wenn es fehlt, wenn man seiner beraubt ist ....das heißt, die Freiheit ist etwas, das man nicht einmal bemerken dürfte. Sie müsste wie die Luft sein, die man atmet. Nachdem wir bemerkt haben, dass auch die Luft, die wir atmen, vergiftet ist, fällt die Vorstellung ziemlich schwer. Aber die Freiheit müsste gewissermaßen eine natürliche Bedingung sein. Wie etwas, das einem erst im Moment des Verlustes bewusst wird. Also nichts Utopisches, sondern etwas absolut Topisches . ....Die Idee der Freiheit bleibt weiterhin eine der größten Ideen der Menschheit, und alle Verfallserscheinungen der Ideale, der Endzwecke, denen die Menschheit zu folgen versucht hat, haben ihre Ursache in der Verdunkelung dieser größten Idee, also der Tatsache, dass die Freiheit fundamental ist.
Wem weder die Freiheit als natürliche Bedingung noch ihr reales Gegenstück, das Gefängnis, gleichgültig sind, wer außerdem noch etwas über die Nachtseiten Italiens lernen will, der greife zu "Die Gefängnisse der anderen" von Adriano Sofri.
"Jeder, der dieses herzliche Land kennt, weiß, dass er sich hüten muss, mit der Justiz in Berührung zu kommen, es sei denn, er sei ein Krimineller. In diesem Fall ist ihr Zustand von unschätzbarem Vorteil." Das klingt pointiert, entspricht aber leider der Wirklichkeit. Die erst jüngst von der neuen italienischen Regierung erlassenen Gesetze sind der trifftigste Beleg: Die internationale Zusammenarbeit der Justizbehörden ist auf eine Weise erschwert worden, dass viele Prozesse sowohl gegen Mafiosi als auch islamistische Terroristen wie das Hornberger Schießen auszugehen drohen: Mit dem Freispruch der Angeklagten. Im selben Moment kündigt die Regierung härteste Strafen gegen Drogenabhängige an.
Sofris Buch spricht allerdings von der Vergangenheit, den Jahren zwischen 1988 und ' 92. Das meiste an seiner vor allem im zweiten Teil vorgenommenen Analyse des Gefängnisses in der italienischen Gesellschaft ist freilich noch heute aktuell. Der Titel: "Die Gefängnisse der anderen" ist kaum zufällig gewählt. Er weist darauf hin, dass der Philologe und Publizist Sofri, der 1997, ohne Beweise oder Indizien, lediglich aufgrund der Aussage des Kronzeugen Leonardo Marino zu zweiundzwanzig Jahren Haft wegen angeblicher Anstiftung zum Mord verurteilt wurde, nicht seinen Fall in den Mittelpunkt rückt. Das Buch lässt so ziemlich alles vermissen, was man sich von einem Tagebuch aus der Haft erwarten mag: Hier spricht einer nicht wehleidig, von dem, was er erlebt, sondern gefasst, höchstens bissig oder ironisch, hier schwingt sich keiner auf, um abzurechnen mit dem Staat und seinen Organen, die ihn verfolgen. Ja, es verblüfft der "distacco", wie man im Italienischen sagt, der Abstand, mit dem Sofri von seinen Erfahrungen spricht. Das Gefängnis, in dem er sitzt, ist zuerst immer das "Gefängnis der anderen", und so verbringt der Autor seine Tage vor allem damit, seine Mithäftlinge zu beobachten oder historische und aktuelle Gefängnisliteratur zu lesen und zu reflektieren. Dieser Abstand erlaubt dem Autor sprachliche Geschliffenheit und konzise Darstellung noch der Empfindungen ebenso wie erhellende Analysen, ja sogar die treffende Metaphorik, etwa wenn der soeben auf freien Fuß gesetzte Sofri bemerkt, dass sein Lebensgeist so schwach geworden sei, wie eine "Notkerze, wenn das elektrische Licht wieder angeht". Sofris Aufinerksamkeit für die Sprache ist geschärft, denn er weiß sehr wohl, dass sie es ist, in der sich die Erkenntnis wie auch ihr Gegenstück, die Verdrängung, ereignen. Sofri:
Die metaphorischen Definitionen der Freiheit machen mich immer unzufriedener und unleidlicher. Nicht nur, weil sie häufig an nutzlose Vertröstungen erinnern, also eine Art von Ausgleich eines ansonsten irreperablen Schadens darstellen sollen ...zum Beispiel, wenn ich Briefe erhalte, die sagen: "aber du, ja du bist in Wirklichkeit frei, auch wenn du im Gefängnis bist usw." Das alles ist absolut inakzeptabel. Der Körper und seine Unberührbarkeit, seine Bewegungsfreiheit sind die erste Voraussetzung jedes Diskurses über die Freiheit . ....Es gibt ja diese alte Metapher, in der man sogar vom Körper als Gefängnis spricht, das heißt, die Menschen haben sich selber, die eigene Seele, als etwas imaginiert, das sich von den Bedingungen des Körpers befreien müsste. Also stell dir die Situationen vor, in denen er doppelt gefangen ist. Einmal im metaphorischen und einmal im realen Sinn ....In jedem Fall meine ich, dass man die Metaphern nicht missbrauchen sollte.
Der erste Teil des Buches hebt mit der Verhaftung im Sommer 1988 an und umfasst die Zeit im Untersuchungsgefängnis sowie die ersten Wochen des verschärften Hausarrests. Sofri ist immer feinsinnig, etwa wenn er die italienische Gesellschaft mit dem Vers des erst sechzehnjährigen Manzoni charakterisiert: "Allzeit reuig, immerzu unverändert". Er ist diskret, wenn er das persönliche Leid in einem Witz aufhebt, wie dem vom Gefangenen, der auf die Tanznummer zweier von ihm dressierter Flöhe seine Zukunft setzt. Kaum freigelassen, will er das Flohwunder dem Kellner eines Lokals vorführen. "Sehen Sie die beiden Flöhe?", fragt ihn der ehemalige Sträfling. "Oh entschuldigen Sie bitte", antwortet der Kellner und mit einem Hieb seiner Serviette erschlägt er die Flöhe. Bemerkt Sofri: "Alle Witze beunruhigen mich. Dieser erzeugt bei mir eine Beklemmung". Den zweiten Teil, den Sofri, damals auf freiem Fuß, Anfang der 90er Jahre verfasste, analysiert das Gefängnis in der Zeit von "mani pulite", als viele der eben noch mächtigen Politiker und Industriellen für Wochen oder Monate, manchmal sogar Jahre, wegen Korruption im Knast einsaßen. Dass sie sich über unzumutbare Haftbedingungen beschwerten, kann bei Kenntnis der italienischen Gefängnisse kaum verwundern. Von Häme kann bei Sofri freilich keine Rede sein. Er schreibt: Die Gefangenen verharren "am Rande der Genugtuung und des plebejischen, rachsüchtigen Beifalls über den Ruin und die Enthebung jener von ihrem Thron. In dem Moment, da sie das Gefängnistor passieren, werden die Mächtigen ...zu unbeholfenen, ungeschlachten und ungeschickten Häftlingen, denen die einfachsten Regeln der Kunst des Überlebens beizubringen sind."
"Das Gefängnis ist eine Absenz von Schwerkraft", heißt es im Buch. Und was ist die Freiheit, zumal für einen, der erst im Jahre 2017 das Raumschiff Gefängnis verlassen kann? Sofri:
Die Freiheit ist das von der Utopie am weitesten Entfernte, wie alles das, von dem man besonders stark spürt, was es bedeutet, gerade wenn es fehlt, wenn man seiner beraubt ist ....das heißt, die Freiheit ist etwas, das man nicht einmal bemerken dürfte. Sie müsste wie die Luft sein, die man atmet. Nachdem wir bemerkt haben, dass auch die Luft, die wir atmen, vergiftet ist, fällt die Vorstellung ziemlich schwer. Aber die Freiheit müsste gewissermaßen eine natürliche Bedingung sein. Wie etwas, das einem erst im Moment des Verlustes bewusst wird. Also nichts Utopisches, sondern etwas absolut Topisches . ....Die Idee der Freiheit bleibt weiterhin eine der größten Ideen der Menschheit, und alle Verfallserscheinungen der Ideale, der Endzwecke, denen die Menschheit zu folgen versucht hat, haben ihre Ursache in der Verdunkelung dieser größten Idee, also der Tatsache, dass die Freiheit fundamental ist.
Wem weder die Freiheit als natürliche Bedingung noch ihr reales Gegenstück, das Gefängnis, gleichgültig sind, wer außerdem noch etwas über die Nachtseiten Italiens lernen will, der greife zu "Die Gefängnisse der anderen" von Adriano Sofri.