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Die ''genialen Italiener''

Thomas Migge berichtet | 08.08.2003
    Oliviero Toscani ist 1,87 Meter groß. Er wurde in Mailand geboren und ist Fotograf geworden. Ich und ein Genie? ! Ich weiß nicht. Sicherlich bin ich ein privilegierter Mensch.

    Toscani ist nicht nur Italiens berühmtester Werbefotograf. Weltweit hat er in seinem Beruf Standards gesetzt. Standards der Provokation, die Schule machten, die tausendfach imitiert wurden und werden. Dank seiner fotografischen Neuheiten wurde er reich. Reich und berühmt. So berühmt, das er in seiner Heimat als "genio", als Genie bezeichnet wird.

    Ich hatte nur das Glück, die richtigen Lehrer gefunden zu haben und in Zürich Kunst studieren zu können. Genie oder nicht Genie. Ich glaube, darum kümmere ich mich nicht. Das Genie und der Erfolg sollten auf jeden Fall das Ergebnis einer Arbeit sein.

    Eine Arbeit und einen internationalen Erfolg kann Oliviero Toscani vorzeigen. Deshalb wird auch sein Name in einer nagelneuen Enzyklopädie zu finden sein, die in diesem Herbst erscheinen wird. Das staatliche polygraphische Institut in Rom hat bereits mit dem Druck dieser Enzyklopädie begonnen. Der Titel des in Schweinsleder gebundenen Werkes lautet: "Italia terra d'eccellenza", zu deutsch in etwa: Italien, Land der Unübertrefflichkeit. Ein Titel, der an andere Zeiten erinnert. An Zeiten, in denen ein Benito Mussolini öffentliche faschistische Gebäude mit Spruchbändern in Marmor zieren ließ - wie zum Beispiel das quadratische Kolosseum im römischen Stadt EUR, ein urbanistisches Großprojekt des Duce. Auf diesen Spruchbändern war immer wieder die Rede vom "italienischen Genius", der, einzigartig in der Welt, diese dominiere und ihr den Weg in die Zukunft vorgebe. Es gab während des Faschismus einen ganzen Forschungszweig, der sich ausschließlich dem Hervorheben des italienischen Genialität widmete, um auch auf diese Weise den Vorsprung der italischen Rasse anderen Völkern gegenüber nachzuweisen. Dass ausgerechnet die amtierende italienische Regierung in die Fußstapfen des Duce tritt, findet der Schriftsteller Erri De Luca unerhört:

    Ich gehöre nicht zu diesen Leuten und will auch gar nicht dazu gehören. Mir ist es unbegreiflich, dass man heute, wo wir alle versuchen, Europäer zu werden, ein Lexikon des italienischen Genius herausgibt. Das zeigt, wie rückwärtsgewandt diese Regierung ist. Vielleicht will unser Regierungschef auch nur sich selbst ein Denkmal setzen. Das ist doch verrückt.

    Tatsache ist, dass der Ideengeber des unter Italiens Intellektuellen umstrittenen Projekts Silvio Berlusconi heißt. Er soll die Autoren der Enzyklopädie höchstpersönlich und in größter Bescheidenheit angewiesen haben, ihn nicht in das Werk aufzunehmen. Rund ein Dutzend Historiker aus den Bereichen Geschichts- und Geisteswissenschaften, Forschung und Wirtschaft erhielten die Aufgabe, dieses einbändige Werk zu verfassen. Ein interessantes Werk, denn neben den bekannten Genies wie Leonardo da Vinci, erfährt man, dass es Italiener waren, die viele uns heute alltägliche Gegenstände erfunden haben. Den Euro, so ist in der Genie-Enzyklopädie nachzulesen, erfand Gasparo Scafur, der 1852 eine einheitliche Währung für ein politisch und wirtschaftlich vereintes Europa vorschlug. Der Italiener und Heilige San Paolino erfand die Kirchenglocke und Galileo Galilei das Thermometer. Claudio Strinati, oberster Hüter der römischen Kulturgüter, beriet die Autoren der Enzyklopädie in Sachen Kunst:

    Die Leser dieses Werks werden viele unbekannte Namen entdecken. Zum Beispiel Filippo Ugolini, der die Ampel erfand, oder Emilio Oliviero, der die erste Seilbahn entwarf. Oder Alessandro Cruto, der Erfinder der Glühbirne. Die sind doch dem großen Publikum unbekannt.

    Italien: ein Land der Genies. Kurios ist, dass Italien als Land für die Autoren der Enzyklopädie bis in die ferne Antike zurückreicht - als es noch gar keine Italiener im modernen Sinn gab. Unter dem Stichwort "Zahnersatz" ist beispielsweise zu lesen, dass die Etrusker die Erfinder dieses nützlichen Gegenstandes waren. Was aber Etrusker mit Italienern zu tun haben, das erklärt die Enzyklopädie nicht. Bis in eine nicht näher bestimmte Antike reicht auch die Erfindung von Speiseeis zurück. Festgelegt wird auch - und das, obwohl es solche Dinge bereits bei den alten Ägyptern gab - dass das Präservativ 1855 von Gabrielle Falloppio entwickelt wurde. Die Enzyklopädie des Genius all'italiana: Eine Idee der Regierung Berlusconi, die ganz im Zeichen der von ihr vorangetriebenen neokonservativen und nationalistischen Kulturerneuerung steht. Dass man auf faschistische Vorbilder für diese Kulturerneuerung setzt, verwundert, muss aber auf die Einflüsse des wichtigsten Koalitionspartners von Berlusconi zurückgeführt werden: der Partei Alleanza Nazionale, die sich - wie man sieht vergeblich - darum bemüht, ihre neofaschistische Vergangenheit abzuschütteln.

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