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Die Geschichte der Wirtschaftsprüferin

Nur wenige Schriftsteller kommen in Frankreich ohne Brotberuf aus: So reist auch der 32-jährige Benjamin Berton jeden Morgen mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Le Mans nach Paris. In der Zentrale der französischen Sozialversicherung, wo er arbeitet, gibt es etliche Exemplare jener Spezies, die er in seinem dritten Roman "Am Pool" beschreibt: die Spezies der leitenden Angestellten.

Von Christoph Vormweg | 07.02.2007
    Als Führungskräfte stehen sie unter einem besonderen Erfolgsdruck wie das Beispiel von Éléonore Caribou zeigt, einer Wirtschaftsprüferin im Sektor Finanzen. Warum aber hat Benjamin Berton eine Frau zur Heldin seines Romans gemacht?

    " Das war die logische Folge aus meinem ersten Buch "Wildlinge", der Beschreibung eines jungen Mannes. Dieses Mal sollte es eine Frau sein - auch weil ich den Wunsch hatte, die gegenwärtige Frauenliteratur, aus der die so genannte "Chicklit" hervorgegangen ist, zu parodieren: die Art also, wie dort das Leben der Frauen beschrieben wird, ihre Liebschaften und Gefühle. Doch es gab auch noch einen prosaischeren Grund: Ich war zum ersten Mal mit einer Frau zusammengezogen. Ich wollte also den Paaralltag beschreiben, all die Wunderlichkeiten, die ein normaler, heterosexueller Mann empfinden kann, wenn er seine Gefährtin, Freundin oder Frau beim Epilieren beobachtet, beim Schminken oder Waschen. Für mich war das damals, obwohl ich schon einige Erfahrungen hinter mir hatte, Science-Fiction. Es hat mich einfach erstaunt und überrascht zu sehen, welche Zwänge auf den Frauen lasten, um feminin zu sein, schön, kokett. "


    Besonders lastend sind diese Zwänge, wenn das Selbstbewusstsein angeknackst ist: so wie bei Éléonore Caribou jedes Jahr zu Beginn des Frühlings. Dann fühlt sich die 27-jährige ausgebrannt, unattraktiv, leer.

    Der Lebensüberdruss hat sie im Griff, weil ihr das Leben nach und nach zwischen den Fingern davon rinnt. Zu Füßen des Sockels, auf den ihre Eltern sie gestellt haben, wächst der kleine Haufen abgelegter Träume und droht sie zu begraben. [...] Éléonore Caribou ist Single und hat seit vier Monaten keinen Sex mehr gehabt. Manche ihrer Freundinnen haben ihre Bedürfnisse so lange unterdrückt, dass sie frigide geworden sind, während ihre Nettoeinkünfte sich auf den Bausparkonten ansammelten.

    Benjamin Berton kommt ohne Umschweife zur Sache. Sein Stil ist direkt, eingängig, schnörkellos. In seinem Roman "Am Pool" beschreibt er den Preis, den aufstrebende Führungskräfte für ihre Machtposition bezahlen müssen. Doch sind die Tage des Zweifels auch bei Éléonore die Ausnahme. Normalerweise glänzt die Fassade, funktioniert der Raubtierinstinkt. Das zeigt sich während des Kurzurlaubs an der Mittelmeerküste, mit dem sie sich wieder in die Spur bringen will. Im Ferienhaus ihres Ex-Freundes trifft sie auf neoliberale, zynisch-ultracoole, macht- und geldbesessene Karrieristen zwischen 25 und 30. Am Swimmingpool stellen sie ihren "Sex-Appeal" zur Schau und registrieren lustvoll die körperlichen Schwächen der anderen.

    " Das ist natürlich eine Parodie, die politisch ausgerichtet war. Ich wollte die Selbstgefälligkeit gewisser Leute vorführen, für die allein die Arbeit zählt. In dem beschriebenen Milieu ist das Privatleben nämlich zweitrangig. Ich wollte also mit den Mitteln der Satire eine Existenzform kritisieren, die in meinen Augen sinnlos ist. "

    "Classes affaires" ist der Originaltitel von Benjamin Bertons Roman "Am Pool". Es geht um Klassenangelegenheiten, um Liebesaffären, um Geschäfte. Urlaub bedeutet nicht, dass man ausspannt. Immer heißt es, die eigene Macht zu demonstrieren und neue, lukrative Kontakte zu knüpfen. Horizontale Eroberungen sind da so wichtig wie exquisite Räusche. Mit einem Wort: Schlüssellochbedürfnisse befriedigt Benjamin Berton zu Genüge. Denn Machtmenschen kennen keine Hemmungen - auch nicht die Frauen unter ihnen:

    " Das war der Gegenstand des Romans und eine der wichtigsten Lehren aus meiner Entdeckung der Weiblichkeit: Die Frauen sind genau solche Mistviecher wie die Männer. Die Vorstellung, sie seien zärtlich, sanft und menschlich und könnten keiner Fliege etwas zu Leide tun, ist offensichtlich ein überkommenes Trugbild. Wenn sich Frauen als Beraterinnen in Männermilieus, in den Machtzentren großer Unternehmen behaupten müssen, dann sind sie zumindest zu den gleichen Gemeinheiten fähig wie die Männer. Die Männer besitzen nicht das Monopol auf Boshaftigkeit. Die Protagonistin in meinem Buch hat Mordgelüste - auch wenn es sich da nur um Privatangelegenheiten handelt. Das sind Dinge, die sich genauso in den Köpfen von Männern wie von Frauen abspielen können. Ich wollte also die Komplexität der weiblichen Seele wiedergeben - wenn man so sagen kann "


    Der Hunger nach Erfolg, nach Selbstbestätigung und Macht wird bei Benjamin Bertons Protagonisten von keinerlei moralischen Hemmschwellen mehr gebremst. Aufgeilend ist - wie die Exzesse auf einer High-Society-Fete zeigen - letztendlich allein die Grausamkeit, das nackte Beherrschen und Quälen. Wir sind demnach dabei, "zur Stufe der Tierheit zurückzukehren, zum gegenseitigen Verschlingen". Nun ist diese Sicht der Dinge alles andere als neu. Doch wird das Bild vom Raubtier in den Hierarchien von Benjamin Berton detailreich aktualisiert. Er reaktiviert eine Art soziologischen Blick, der in der französischen Romanliteratur zur Seltenheit geworden ist. Mit anderen Worten: der Roman "Am Pool" unterhält nicht nur durch seine tabulose Darstellung der Dekadenz der Arrivierten, ihrer Sprechdurchfälle und aufgeblasenen Gelüste. Er seziert auch den Zustand unserer neoliberalen westlichen Mittelschichten, den drohenden Ausverkauf der Moral hinter den Fassaden der political correctness.

    Ob die Wirtschaftsprüferin Éléonore Caribou ihr "underfucked"-Image noch einmal los wird und sich im Haifischbecken behaupten kann, sei an dieser Stelle aber nicht verraten.


    Benjamin Berton:
    "Am Pool"
    (Verlag DuMont)