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Die Geschichte des kirchlichen Gesangsbuch

In wenigen Wochen erscheint das neue katholische Gesangbuch, das Gotteslob. Mitgearbeitet hat daran auch das Mainzer Gesangsbucharchiv, welches weltweit einzigartig ist.

Von Jan Tengeler |
    Vor 500 Jahren, im Zuge der Reformation, wurden die ersten Gesangbücher gedruckt, zwischen 40.000 und 50.000 Titel sind seitdem erschienen in Auflagen zwischen überschaubaren 50 und fünf Millionen.

    "Nun freut euch, lieben Christengmein" gilt als eines der ältesten protestantischen Kirchenlieder. Entstanden 1523, gedichtet und komponiert von Martin Luther, gedruckt und veröffentlicht erstmals 1524 im Erfurter Enchiridion. Das gilt als erstes Lutherisches Liedbuch überhaupt und ist eines der ältesten deutschsprachigen Gesangbücher.

    Das Original war lange Zeit verschollen, erst vor wenigen Wochen ist es durch Zufall in einer Bibliothek im irischen Dublin entdeckt worden. Ein ungewöhnlicher Fund, denn das Enchiridion erschien im gleichen Jahr mit fast gleichem Inhalt bei zwei verschiedenen Erfurter Druckereien – vermutlich Konkurrenzunternehmen. Damals gab es einen regelrechten Wettlauf zwischen den Druckereien, um die Werke Luthers in Buchform herauszubringen. Die Reformation fand immer mehr Anhänger, die schmalen Büchlein, in denen nicht mehr als 30 Lieder versammelt waren, versprachen Ruhm und Geld.

    Der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke hat das Gesangbucharchiv in Mainz gegründet. Für ihn zeigt die Geschichte um das Erfurter Enchiridion, dass wirtschaftliche Interessen in einer Kulturgeschichte des Gesangbuchs genauso zu beachten sind, wie theologische Streitfragen.

    "Es gab keine Lizenzbehörde wie in der katholischen Kirche. Die meisten evangelischen Bücher sind Verlagsprodukte von Verlegern, die sich erhoffen, irgendwelchen Erfolg damit zu haben. Wenn man sich die zentralen Bücher anguckt, die die Entwicklung des Gesangsbuchs geprägt haben, dann ist das die Praxis Pietatis, das ist eine ganze Gesangbuchfamilie, die von 1650 an 100 Jahre erscheint. Über die die Paul-Gerhard-Lieder eingespeist werden. Die klassischen Ausgaben erscheinen in Berlin und gelten für Preußen und Brandenburg, dann kommt aber eine Breslauer Ausgabe dazu und eine Frankfurter, so verbreitet sich das allmählich, weil es ein tolles Buch ist."

    Tolle Bücher – davon lassen sich im Gesangbucharchiv in Mainz viele finden, derzeit rund 4000. Von kleinen Handbüchern, wie dem Erfurter Enchiridion, bis zu großen Kantonalien, die so schwer sind, dass man sie nur mit Mühe herumtragen kann.

    "Die lagen auf dem Pult und waren dafür da, dass Zehn bis Zwölf gleichzeitig daraus singen konnten. Da fehlt die Titelseite, das haben wir restauriert. Wir haben eine Exemplargeschichte, von dem, wie das benutzt wurde. Das sind spannende Sachen. Dann ist das Buch 200 Jahre für Religionsunterricht mit Kindern, Katecheseunterricht, benutzt worden. Darin wurde lesen und schreiben gelernt, man sieht die Spuren in den Teilen mit den zehn Geboten, die katechetisch besonders wichtig waren."

    Jedes Buch erzähle seine eigene Geschichte, die mehr oder weniger deutlich zu erkennen sei, so Hermann Kurzke.

    "Das ist hier eine Ausgabe mit einem typischen Einband. Man sieht das Volk Israel jubeln, wie die Ägypter gerade in der Flut ertrinken und Miriam mit der Pauke. Das ist eine der Urzone des Singens. Das sind zwei Stimmen eines vierstimmigen Liedes, das ist Alt und Tenor. Die fehlenden Stimmen gab es auch. Das war für prächtiges vierstimmiges Singen gedacht. So etwas gibt es nur evangelisch."

    Hermann Kurzke hält ein weiteres dickes Buch in den Händen, entstanden in den reichen protestantischen Regionen im Osten Deutschlands, bestückt mit den Liedern von Paul Gerhard, dem großen evangelischen Lieddichter aus dem 17. Jahrhundert.

    Im Archiv in Mainz sind die evangelischen Gesangbücher mit einem roten Marker versehen, die katholischen haben einen blauen. Rot überwiegt, denn die protestantische Kirchenliedtradition hat nicht nur die prächtigeren Bücher, sie hat auch deutlich mehr Bücher hervorgebracht.

    Der Grund ist in einer unterschiedlichen Theologie zu suchen: Mit Martin Luther wurde Singen zum Träger der Liturgie, während in der katholischen Liturgie die Musik und das Singen bis zum II. Vatikanischen Konzil lediglich begleitenden Charakter hatten. Konfessionelle Unterschiede wie diese betrachtet Hermann Kurzke mit wissenschaftlichem Interesse.

    "Zunächst sind wir eine universitäre Einrichtung, keine kirchliche. Wir leben von Forschungsgeldern und Drittmitteln. Wir haben wenig für die Kirchen gemacht. Jetzt gab es die Chance, dass ein neues katholisches Gesangbuch kommt und wir einen Expertenrat geben sollten. Für rund 100 Lieder vor dem 19. Jahrhundert sind wir gebeten worden, Liedgutachten zu schreiben, die Fassungsgeschichte textlich und die Melodiegeschichte zu dokumentieren. Und zum Zweiten durften wir einen Fassungsvorschlag machen, was wir für das Beste halten."

    Die Arbeit für das neue katholische Gesangbuch ist eine von vielen Aufgaben des Archivs in Mainz. Um die Geschichte bestimmter Lieder nachvollziehen zu können, fragen immer wieder große Editionen an. Zwischen langfristig angelegten Forschungsberichten – derzeit steht die Geschichte von Kirchenliedern im Exil auf der Agenda – sind es oft kleine Anfragen von Pfarrern oder Privatpersonen, die die Mitarbeiter des Gesangsarchivs beschäftigen. Christiane Schäfer betreut das Archiv derzeit.

    "Anfragen, die ich gerne beantworte, sind so: Die haben ein altes Lieblingslied, aber nur noch ein Strophenteil im Kopf. Man merkt, dass ihnen viel daran liegt. Wir haben verschiedene Möglichkeiten, wie man denen eine Freude machen kann. Das ist, was ich besonders schätze."

    Trotz der vielfältigen Aufgaben des Archivs in Mainz und obwohl es eine vergleichbare Einrichtung weltweit nicht gibt, führt die Gesangbuchforschung ein wissenschaftliches Schattendasein. Ansgar Franz ist katholischer Theologe und neben Hermann Kurzke und Christiane Schäfer die dritte treibende Kraft hinter dem Gesangbucharchiv. Sein Spezialgebiet ist die Hymnologie, für ihn ist die Gesangbuchforschung wesentlicher Bestandteil seiner Arbeit. Anders, als für viele seiner Kollegen.

    "Hymnologie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft. Für die große Theologie ist das, was sich hier manifestiert, nicht die hohe Dogmatik, nicht die kirchenamtliche Äußerungen, sondern es ist Gebrauchslyrik. Für die Germanistik, die sich mit Goethe und den Großen befasst. Das ist Volkskunde, wie man auf einen Bastei-Roman runterguckt. Für die Musikwissenschaft ist das auch nicht im Zentrum der großen Fragestellungen, das heißt, das Medium Gesang ist in allen an Hymnologie beteiligten Fächern eher am Rande. Aber es zeigt ihnen Ebenen, Änderungen von Mentalitäten, sozialen Gefügen, kulturellen Paradigmen wie kaum ein anderes Medium."

    Das Gesangbucharchiv der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz im Netz:
    www.gesangbucharchiv.de oder www.gesangbucharchiv.uni-mainz.de