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Die Geschichte einer schweren Krankheit

David Wagners neuer Roman "Leben" ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Die Geschichte um eine schwere Krankheit, den Kampf ums Überleben und die Frage nach der eigenen Identität weist viele Berührungspunkte zur Biografie des Autors auf.

von Wiebke Porombka | 11.03.2013
    "Kurz nach Mitternacht komme ich nach Hause. Das Kind ist bei seiner Mutter, die Freundin nicht da, ich bin allein in der Wohnung. Im Kühlschrank finde ich ein angebrochenes Glas Apfelmus, beginne zu löffeln und schaue dabei in die Zeitung, die noch auf dem Küchentisch liegt, ich lese etwas über Mücken und die Frage, warum sie bei Regen nicht von den fallenden Tropfen erschlagen werden. Noch bevor ich genau verstanden habe, wie sie überleben, kratzt mich etwas im Hals. Habe ich mich verschluckt? An Apfelmus?

    Ich stehe auf, gehe ins Bad, sehe in den Spiegel und finde nichts Besonderes, alles wie immer, ich bin ein wenig blass vielleicht. Weil ich aber nun schon im Badezimmer bin, will ich mir auch die Zähne putzen, ich will ja bald ins Bett – spüre im selben Augenblick aber, dass ich mich gleich übergeben muss. Ich drehe mich um, beuge mich über die Badewanne, da schwappt es schon aus mir heraus. Als ich die Augen öffne, wundere ich mich über das viele Blut in der Wanne. Langsam fließt es Richtung Abfluss."


    Der junge Mann weiß, was dieses Blut bedeutet. Er weiß, dass in seinem Hals Krampfadern geplatzt sind, er weiß, dass er nun nach innen blutet, dass er verblutet, wenn er ohnmächtig wird und wenn er es nicht mehr schafft, den Krankenwagen zu rufen, dass er sterben wird, wenn es den Notärzten nicht gelingt, die Blutung zu stoppen. Der Roman von David Wagner heißt "Leben". Er beginnt an der Schwelle zum Tod.

    Seit er zwölf Jahre alt ist, leidet Protagonist – und leidet auch der Autor David Wagner selbst –, unter einer aggressiven Form von Autoimmunhepatitis. Eine Krankheit, bei der das Immunsystem die eigene Leber angreift und chronische Entzündungen verursacht. Er verbringt eine Jugend in Behandlungszimmern und unter ständiger Einnahme von Medikamenten. Und immer wieder hat der Arzt den jungen Mann davor gewarnt, dass die Krampfadern in seinem Hals eines Tages werden platzen können. Nun ist dieser Tag gekommen.

    "Indikation: Anamnestisch bekannte gastrointestinale Blutung. Anamnestisch bekannte Varizenerkrankung.
    Medikation: 100 mg i.v. Propofol. (...)
    Therapie: In einer Höhe von 34 cm bis 39 cm von der Zahnreihe werden sechs Gummibandligaturen gesetzt, die Blutung kommt unter endoskopischer Therapie zum Stillstand."


    Als der junge Mann erwacht, ein Schlauch steckt in seiner Nase – kann man zunächst nicht ganz sicher sein, dass er sich tatsächlich in einer Klinik befindet, den Körper an Geräten angeschlossen. Er ist in einem Schwebezustand, irgendwo zwischen Bewusstsein und Traum, zwischen Leben und Tod, er riecht Bergluft, hört einen gluckernden, halb vereisten Waldbach, treibt mit einer Luftmatratze aufs Meer. Am Strand stehen, aufgereiht, die toten Verwandten und Freunde, winken ihn, locken ihn ans Ufer.

    Er verliert das Ufer aus den Augen, schläft wieder ein. Als er das nächste Mal erwacht, sieht er – unscharf, weil er seine Brille nicht hat – Monitore und Kabel um sich herum. Eine Intensivstation. Oder gleitet er doch in einem Raumschiff durchs All?

    Unendlich mühsam, langsam und zaghaft findet der jungen Mann zu Bewusstsein zurück. Aber er wird noch fast zwei Jahre im Krankenhaus bleiben müssen. Stunden und Tage, in denen er denkt, wartet und notiert, was er beobachtet.

    "Das ist diese komische Situation, dass man da liegt und nicht weiß, ob man weiterlebt oder nicht, und dann sieht man plötzlich das eigene Leben so sonderbar aufleuchten oder das, was war, und versucht, da irgendeinen Sinn zu finden.

    Das Krankenhaus, das ist ja auch so ein Zwischenreich, und auf dieses Zwischenreich kam es mir an. Es gibt ja auch diese Türen-Symbolik, dass diese Türen sich öffnen und man weiß ja manchmal gar nicht, sind die jetzt tot oder lebend, die da kommen und ihn besuchen. Die Toten sind eben dann wieder da, wenn man so nah am Tod ist."

    David Wagner hat sein Buch in kleine, kaum halbseitenlange Abschnitte unterteilt. Jeder dieser kleinen, durchnummerierten Abschnitte ist wie eine neue Tür, die sich öffnet, eine Erinnerung hereinlässt, eine Szene oder einen Menschen aus der Vergangenheit, oft sind es Verstorbene, mal ist es auch ganz real eine Ärztin oder Schwester, die Blutdruck misst, ihm den Rücken wäscht. Die weißen Stellen zwischen den Abschnitten sind wie kurzen Absenzen, in denen der Patient das Bewusstsein verliert, oder die Momente, in denen die Erinnerung an das Immergleiche des Krankenhausalltags verblasst.

    Die körperliche Genesung schreitet zwar Stück für Stücke voran, der junge Mann beginnt langsam wieder Püriertes zu essen, tastet sich unter großen Anstrengungen den Krankenhausflur entlang. Aber er ist unendlich müde. Immer wieder auch: lebensmüde. Nur die Gedanken an sein Kind vermögen, seinen Lebenswillen aufrecht zu halten, helfen, die Phasen der Depression zu überwinden.

    Zu Überleben für ein Kind – fast eine Zauberformel, die bei David Wagner aber eine dunkle Rückseite hat: Die eigene Mutter starb, als der Ich-Erzähler zwölf Jahre alt war, beinahe in der Phase also, als seine eigene Krankheit ausbrach. Ohne dass es ausgesprochen werden muss, eröffnet sich im Schreiben über die verstorbene Mutter eine zutiefst traurige Spiegelgeschichte: Der Erzähler will weiterleben, für das eigene Kind. Seine Mutter hat das, für ihn, nicht schaffen können.

    Der Wille allein reicht nicht. Dass er, um weiterzuleben, wieder auf die Liste müsse, sagt ihm sein Arzt. Der junge Mann – und auch David Wagner selbst – kann nur durch eine neue Leber, durch eine Organtransplantation weiterleben. Der junge Mann hat Glück, der Anruf kommt: Es gibt eine Spenderleber. Und mit ihr die Chance auf ein neues Leben.

    David Wagner beschreibt in seinem Roman nicht nur den langen, schmerzhaften und bis zuletzt unwegsamen Prozess, auf dem diese Transplantation schließlich gelingt. Das Nachdenken über die Transplantation wird auch zu einer grundsätzlichen Reflexion darüber, was es bedeutet, weiterleben zu dürfen, weil ein anderer Mensch, ein Unbekannter, sterben musste. Und es wird zu einer Reflexion über Identität, über die Frage danach, wie sich durch das fremde Organ nicht nur das Körpergefühl, sondern womöglich auch das eigene Selbst, das Ich, verändert. Oder zumindest die Vorstellung von diesem Ich.

    "Es ist eine ganz banale Frage: Wie viel müsste man denn auswechseln, um ein ganz anderer zu sein? Es ist die Frage, was für Konzepte von Selbst man hat. Und wenn man ein biochemisches Modell hat, dann verändert sich der Körper durch eine neue Leber schon sehr, weil die Leber ja für wahnsinnig viele biochemische Prozesse verantwortlich ist, Proteine produziert, die das Gehirn beeinflussen. Und wenn ich jetzt glaube, dass Ich wird im Gehirn durch Proteine und biochemische Botenstoffe erzeugt, dann ist das Ich plötzlich auch ein bisschen anders.

    Diese Vorstellung: Ah ja, vielleicht denkt jetzt ein anderer in mir. Oder vielleicht denkt etwas anderes in mir. Das sind natürlich so Fragen, die kann man auch sonst immer haben. Was ist das eigentlich, was man hier denkt? Oder: Was bestimmt mich? Die sind natürlich dann noch mal ganz anders angestoßen und haben so eine andere Dimension. Und dann kann man sich natürlich einbilden, dass der andere, die andere in einem weiterlebt."

    Der Umschlag von Wagners Roman zeigt die Röntgenaufnahme eines Körpers. Der Roman selbst vermag weitaus mehr: Er erzählt ebenso sachlich wie gnadenlos genau über eine physische und psychische Grenzerfahrung. Er erzählt darüber, was eine Krankheit mit einem Körper macht, ohne dass der entblößte, versehrte, hilflose Körper dabei je etwas Würdeloses bekommen würde. Und zugleich verhandelt der Roman auf fast irritierend stille, unaufgeregte Weise die existenziellen Themen des Daseins: das Wissen um die eigene Endlichkeit. Die Frage nach der eigenen Identität. Die Schuld des Überlebens, während andere sterben. Und immer wieder geht es auch um den Schmerz, den wir mit uns tragen, über diejenigen, die uns verlassen haben. Nicht zuletzt ist "Leben" auch ein engagiertes Buch: Ein Appell für Organtransplantation und für das Spenden von Organen.

    Es gibt einige Passagen und Motive in David Wagners neuem Roman, die man schon in früheren Texten und Büchern so oder ähnlich gelesen hat. Die gesammelten skurrilen Todesmeldungen etwa, die bei Wagner zu kleinen Gedichten werden, gab es bereits in einem eigenen kleinen Band. Die Schilderung über das Platzen der Krampfadern in seinem Hals ist in anderer Form im Jahr 2008 im "Merkur" erschienen. Wer Wagners bisherige Romane gelesen hat, weiß auch um den Verlust der Mutter.

    Mit "Leben" nun hat Wagner eine Essenz dessen geschrieben, was sich als Spur durch sein bisheriges Werk gezogen hat. Es ist nicht ganz einfach, eine angemessene Vokabel zu finden für das, was Wagner damit gelungen ist. Dieser Roman ist ebenso traurig wie erschreckend präzise, ebenso nachdenklich wie notwendig, und – auch wenn es absurd klingen mag – er ist auf eine beglückende Weise sanftmütig und schön.

    Vermutlich ist es nur durch die Strenge der Form, durch die feine Komposition von Wagners Sprache möglich, die Ungeheuerlichkeit des nahen Todes in Worte zu fassen. Und vermutlich macht auch nur die ästhetische Distanz, in die Wagner das Geschehen zu rücken vermag, möglich, dass man als Leser diese Ungeheuerlichkeit begreifen kann. Und dass man sie erträgt.

    "Natürlich ist das auch meine Geschichte, aber trotzdem ist das natürlich auch leicht verändert. Oder, indem ich das erzähle, erfinde ich die Geschichte auch. Und in dem Moment ist das ein Protagonist. Wenn ich das nicht so hätte wegschieben können, hätte ich das nicht so erzählen können.

    Was ich immer wusste, die ganze Zeit über, ich muss das machen oder ich muss das aufschreiben, weil, so habe nur ich das erlebt und so kann nur ich das aufschreiben. Und ich habe wirklich so eine Art Verpflichtung gefühlt, das aufzuschreiben. Das wird ja im Buch immer auch thematisiert, diese Verpflichtung gegenüber demjenigen, der einem ein Organ und damit das Leben geschenkt hat. Und das ist die Geschichte, die da drin steckt. Ja, es ist vielleicht auch ein bisschen ein Frei-Schreiben davon."

    David Wagner: Leben
    Roman
    Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013
    288 Seiten 19,95 Euro
    Der Schriftsteller David Wagner
    Der Schriftsteller David Wagner (Susanne Schleyer)