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Die Geschichte unvorstellbarer Gewalt erzählen

Bergen im Kreis Celle in der Lüneburger Heide, Ortsteil Belsen: Hier befand sich ein Konzentrationslager, in dem zigtausend Juden und andere Gefangene zu Tode kamen. Heute ist von den Baracken nichts mehr zu sehen, nur ein großes Holzkreuz, einige Gedenksteine und das im vorletzten Jahr eröffnete Dokumentationszentrum erinnern daran, dass hier der Holocaust zuhause war. Doch wie wird das Erinnern weitergehen, wenn die Zeitzeugen gestorben sind?

Von Jochen Stöckmann |
    An die 10.000 Leichen lagen zwischen den Holzbaracken, als das Konzentrationslager Bergen-Belsen im April 1945 befreit wurde. Die Menschen waren hinter Stacheldraht verhungert oder von Seuchen dahingerafft worden. In aller Eile wurden sie in Massengräbern bestattet, die Unterkünfte wegen der Seuchengefahr abgebrannt, Zäune und Wachtürme eingeebnet. Und noch im selben Jahr beauftragte die Besatzungsbehörde einen deutschen Experten, das zum jüdischen Friedhof erklärte Lagergelände umzugestalten. Es war derselbe Landschaftsarchitekt, der 1935 den Sachsenhain bei Verden als Nazi-Kultstätte hergerichtet hatte:

    "Es gibt eine schriftliche Stellungnahme von ihm, er wolle "die Sensation Bergen-Belsen", wie er es wörtlich nannte, begraben und einen Schlussstein setzen. Dazu gehörte zweifellos, dass er die wenigen Möglichkeiten, die noch vorhanden waren, aufgrund der landschaftlichen Situation über die Geschichte informiert zu werden, dass er die hemmungslos beseitigt hat."

    Der Architekturhistoriker Joachim Wolschke-Bulmahn hat in einem Expertengremium die Umgestaltung der Gedenkstätte begleitet: Das trügerische Idyll mit Birkenwäldchen und Wacholderbüschen ist als historische Spur der Nachkriegszeit durch ein Panoramafenster am Ende eines 200 Meter langen Riegel aus Sichtbeton zu sehen, erst nach dem Gang durch die Dauerausstellung, also im Wissen um das Geschehene. Die schlichte Architektur markiert auch eine Wende in der Erinnerungspolitik. Das wird deutlich im Vergleich mit der allzu frisch "rekonstruierten" österreichischen Gedenkstätte Mauthausen. Mit nagelneuem Anstrich erinnern alte Holzbaracken an skandinavische Ferienhäuschen, kritisiert die Historikerin Heidemarie Uhl:

    "Im Grunde genommen sind ja Gedenkstätten durchaus Orte, an die man insofern gerne geht - und das ist ja auch die Erwartung - als man als moralisch geläuterter Mensch wieder herauskommt. Wenn man das kritisch-ironisch sehen wollte, müsste man die Frage stellen: Sind das die moralischen Wohlfühlanstalten?"

    Noch in den siebziger Jahren konnte man auch hierzulande diesen Eindruck haben: Vor den Gedenksteinen versammelten sich Häftlingsorganisationen, umrahmt von einem Kranz roter Fahnen ähnelte das einem Heldengedenken mit umgekehrten, ideologisch erstarrten Vorzeichen. Und auf staatlicher Ebene begnügte sich so mancher Minister mit der politisch korrekt dahergesagten Chiffre "Bergen-Belsen". Dann aber traten die Opfer in den Mittelpunkt. In Bergen-Belsen wird das mit Videosäulen deutlich, mit Film-Interviews von Überlebenden. Diese Form der "testimonies", der dokumentarisch gesicherten Zeitzeugnisse, hat ein Pionier der Holocaust-Forschung entwickelt, der Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman von der Yale University:

    "Wir machen oral history oder oral documentation gerade weil die offizielle Geschichte oder professionelle Geschichtsschreiber diese Quelle nicht gut benutzt haben."

    Das empathische Hinhören, Respekt für jede einzelne Stimme eines Holocaust-Überlebenden erlegt die Geschichte selbst den Nachgeborenen auf: Schließlich wollte die SS mit ihrem Terrorsystem genau diese Individualität ausradieren. Mit diesem Zivilisationsbruch sollte der einzelne Mensch zur Nummer degradiert werden, aufgelistet in einer bürokratischen Mordstatistik. Forschen allein nach Aktenlage verbietet sich also. Aber auch die Dominanz der Fotografie in einer bildersüchtigen Gesellschaft, die Reduzierung der Geschichte auf wenige Bilder - sozusagen "Ikonen des Schreckens" - wird gebrochen. Thomas Rahe, Mitarbeiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen:

    "Wie macht man dem Besucher deutlich, dass das, was man hier an materiellen Zeugnissen hat - ein Tagebuch beispielsweise, Zeichnungen, eine Stickerei, die im Lager entstanden ist - wie bringt man das in Deckung mit den Bildern, die alle Besucher ja im Kopf haben: wo Leichenberge zu sehen sind oder Bulldozer, die abgemagerte nackte Leichen in Massengräber schieben."
    Mit lauten oder verwirrend bunten Multimedia-Inszenierungen in dramatisch inszenierten Architektur-Labyrinthen, in Holocaust-Museen amerikanischer Machart kann das nicht gelingen. In Bergen-Belsen wird stattdessen die Geschichte unvorstellbarer Gewalt, unzähliger Mordtaten erzählt. Für Habbo Knoch, den Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, bedeutet das: bedächtiges Sprechen, mit Pausen und gestischem Intermezzo, ein langsames Erinnern gegen jede schnell konsumierbare Fernsehästhetik.

    "Der Holocaust ist nichts, was durch einen großen optischen Eindruck vermittelbar ist, das braucht die Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen. Das ist das Bild der Person, das ist der originale Ton, die Sprache, in der die Überlebenden sich im Interview geäußert haben. Da stecken so viele Nuancen, so viele Interpretationsmöglichkeiten drin, die wir dem Besucher in Bergen-Belsen auch ganz bewusst damit eröffnen wollen."