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"Die Gesellschaft wurde nachhaltig erschüttert"

In der ägyptischen Liga wird seit fast zehn Monaten nicht mehr gespielt, Fans machen Verbandspolitik, der Tod von mehr als 70 Fußball-Anhängern wird weiter vor Gericht verhandelt. Kurzum: Es ist eine verworrene Situation.

Von Bastian Rudde | 18.11.2012
    In Reiseführern über Ägypten ist Port Said eher eine Randnotiz. Eine Hafenstadt, wo der Suez-Kanal ins Mittelmeer mündet. Doch am 1. Februar dieses Jahres blickt die ganze Welt dorthin.

    "Tausend Verletzte, über 70 Tote. Es sind furchtbare Bilder, die uns heute Abend aus Ägypten erreichen. Aus einem Fußballstadion, in dem es heftige Ausschreitungen und Kämpfe gegeben hat."

    74 Menschen sterben an diesem Abend, hauptsächlich Ultra-Fans der Gastmannschaft von Al Ahly. Sie werden erschlagen, erstochen, erdrückt. Seitdem ruht der Spielbetrieb in der ersten ägyptischen Liga – auf Druck der Ultras. Sie sehen in Port Said einen Racheakt der Übriggebliebenen aus dem Regime Hosni Mubaraks. Eine Vermutung, die mitten hinein führt in die ägyptische Revolution und in die Frage, was dieser Verein Al Ahly aus Kairo eigentlich für das Land bedeutet. Jan Busse, Experte für Fußball in Ägypten.

    "Es war der erste Verein, der ausschließlich von und für Ägypter gegründet wurde. In der Hinsicht spielt Al Ahly auf jeden Fall eine zentrale Rolle für die ägyptische Bevölkerung und die Frage, ob man Fan ist von Al Ahly ist oder eines anderen Vereins hat fast schon religiöse oder politische Bedeutung."

    Außerdem ist der Verein der erfolgreichste Landes, hat gestern zum siebten Mal die afrikanische Champions League gewonnen. Die Ultra-Fans von Al Ahly, die sich fast nie in westlichen Medien äußern, sind für ihre Leidenschaft auf der Tribüne berüchtigt.

    James Dorsey, Autor und Wissenschaftler, beschäftigt sich seit Jahren mit ägyptischen Ultras. Er beschreibt sie so.

    "Sie sind meistens jung, männlich, weniger gebildet, oft arbeitslos oder unterbeschäftigt. Sie waren die einzige Gruppe, die sich jahrelang körperlich gegen die Unterdrückung des Mubarak-Regimes gewehrt hat. So haben sie viele, zehntausende Anhänger gewonnen."
    Als sich ganz Ägypten Anfang 2011 von den Fesseln Mubaraks befreit, gehen die Ultras vorneweg, bringen das Stadion auf die Straße. Heute gelten sie hinter den Muslimbrüdern als zweitstärkste zivile Kraft. Doch 30 Jahre Mubarak haben Spuren hinterlassen: in der Politik, in der Polizei und auch im ägyptischen Fußball, wo Experten zufolge immer noch viele mubaraknahe Funktionäre sitzen. Von diesen Überbleibseln des Regimes fühlen sich die Ultras von Al Ahly in Port Said in eine Falle gelockt. Schlägertrupps sollen angeheuert worden sein, auf den Fernsehbildern ist zu sehen, wie die Polizei untätig herum steht. Port Said – politisch gewollt? Für Jan Busse ein nachvollziehbarer Verdacht.

    "Insgesamt spricht auf jeden Fall vieles dafür, dass das alte Regime eine offene Rechnung mit den Ultras von Al Ahly begleichen wollte und dieses Spiel in Port Said zum Anlass dafür genommen hat."

    Ob dies tatsächlich so war, soll derzeit ein Gericht klären. Bis die Ultras wissen, ob sie von diesem Prozess Gerechtigkeit bekommen, blockieren sie die Wiederaufnahme des Ligabetriebes. Mitte Oktober setzten sie durch, dass er fristlos ausgesetzt wird. Außerdem verlangen sie, dass die Polizei reformiert wird und nicht mehr für die Bewachung von Fußballspielen zuständig ist, setzen sich für das Ende von Korruption und Vetternwirtschaft ein. Zwei Kandidaten, die sich zum neuen Präsidenten des ägyptischen Fußballverbandes wählen lassen wollten, zwangen zum Rückzug. Als zu groß empfanden sie deren Nähe zum früheren Regime. Die Konsequenz der Ultras schafft im ägyptischen Fußball aber auch neue Probleme, erzählt James Dorsey.

    "Die Vereine stehen unter finanziellem Druck. Die Spieler auch. Es gab schon eine Demonstrationen von Spielern für die Aufhebung der Liga-Sperre. Und es gab auch die ein oder andere Handgreiflichkeit zwischen Spielern und Fans."

    Eine komplizierte Situation also – und sie wird noch komplizierter, wenn man ausschließlich auf die Fans von Al Ahly blickt. Bei der Blockade der Liga sind sie die treibende Kraft, in der afrikanischen Champions League jedoch wollen sie ihren Verein spielen sehen – weil sie den Sieg den Opfern von Port Said widmen wollen, so ihre Begründung. Andere Klubs können aber nur in einem Wettbewerb Geld verdienen, ihre Fans können nur dort ihrer Leidenschaft nachgehen. Auch deshalb ist es ungewiss, wie sich der ägyptische Fußball entwickeln wird. Für Jan Busse steht fast zehn Monate nach Port Said aber eines fest.

    "Port Said hat auf jeden Fall nicht nur den ägyptischen Fußball, sondern auch die ägyptische Gesellschaft nachhaltig erschüttert und diese Erschütterung wirkt bis heute nach."