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Die gestohlene Lokomotive

"General" - hieß so nicht die gestohlene Lokomotive in Buster Keatons berühmtem Stummfilm? Doch gab es diese Lokomotive wirklich oder war es nur eine der vielen Hollywood-Stories? Wer fündig werden will, sollte sich an einer Bahnstrecke orientieren, die seit den frühen Tagen der Eisenbahn in Amerika auch heute noch Atlanta in Georgia mit Chattanooga in Tennessee verbindet.

Von Rudi Schneider |
    Lokomotiven gab es unzählige im "Wilden Westen". Jene Lokomotive, die in Buster Keatons Stummfilm von einer verwegenen Gruppe Yankees während des amerikanischen Bürgerkriegs 200 Meilen hinter den feindlichen Linien der Konföderierten gestohlen wurde, wurde weit über die Grenzen Amerikas bekannt. Wir befinden uns jetzt exakt an jenem Ort, wo der legendäre Diebstahl stattfand.

    Heute heißt dieser Ort Kenneshaw und liegt am nördlichen Stadtrand von Atlanta. 1862 hieß diese Bahnstation der Western & Atlantic Railroad Big Shanty. Und dort steht sie heute wieder, oder besser gesagt, immer noch, blitzblank aufpoliert, und Ava Wilkey ist die Kuratorin, die über sie wacht. Der Yankee, der die General entführte, erzählt Ava Wilkey, war James Andrews mit einer Gruppe von 21 Unionssoldaten in Zivil.

    "Er wollte die Lokomotive stehlen, um sie nach Chattanooga in Tennessee zu bringen, wo General Mitchel auf ihn wartete. Während der Fahrt sollte die Strecke hinter der Lok mehrfach unterbrochen werden, denn sie war eine wichtige Nachschubstrecke der Konföderierten. Chattanooga war der Knotenpunkt für fünf wichtige Eisenbahnlinien. Eine Unterbrechung der Hauptverbindung zwischen Atlanta und Cattanooga hätte den Krieg durchaus verkürzen können."

    Nachdem der Zug in Big Shanty stoppte um frisches Wasser zu fassen, nahmen die Crew und die meisten der Passagiere ein Frühstück im Lacy Hotel ein, das direkt an der Bahnstrecke lag. Währenddessen kuppelten James Andrews und seine Männer die Passagierwagen hinter den drei Güterwagen ab, bestiegen die Lok und gaben im wahrsten Sinne des Wortes "Volldampf".

    Der dreiste Diebstahl wurde bald entdeckt. Nachdem der Diebstahl bemerkt war, begann die legendäre Verfolgungsjagd unter Leitung des Zugschaffners William Fuller.

    In der wilden Verfolgungsjagd waren die Yankees ihrem Verfolger Schaffner Fuller immer einen Schritt voraus, bis ihnen nur wenige Meilen vor der Staatsgrenze von Tennessee, unweit von Chattanooga der Dampf ausging. James Andrews und seine Mannen flohen in die Wälder. Einige wurden gefangen und in einem Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt. Wie so oft in Kriegen war der Ausgang der Geschichte für die einen eine Niederlage und für die anderen ein Sieg. Die Lokomotive wurde noch während des Krieges durch eine Explosion stark beschädigt, aber nicht vollständig zerstört. Sie irrte durch die Geschichte und erlebte ihre Wiedergeburt genau 100 Jahre nach dem Bürgerkrieg, erzählt Haper Harris, der heute den Besuchern die aufregende Geschichte dieser Lok erzählt.

    "Die "General" wurde in den späten 60ern nach dem Ende der Hundertjahrfeierlichkeiten des Bürgerkrieges der Stadt übergeben. Die Maschine war anlässlich des Jubiläums in Louisville, Kentucky, technisch vollständig überholt worden. Sie fuhr damals im Rahmen der Feierlichkeiten immerhin noch 14.000 Meilen unter Dampf. Ich kann mich noch gut an jenen Tag erinnern, als sie hier ankam. Ich war 24 Jahre alt und schaute zu, wie sie in den Lokschuppen gerollt wurde. Ich dachte nicht im Traum daran, dass ich in meinem späteren Leben im Museum dieser Lokomotive arbeite."

    Das Licht der Welt im Reich der prächtigen Dampflokomotiven erblickte die "General" Mitte des 19. Jahrhunderts dreißig Meilen nördlich von New York.

    "Sie wurde 1855 in Petterson, New Jersey, gebaut. Der Staat Georgia hatte seinerzeit vier Lokomotiven bei Rogers bestellt. Ihre Namen waren Präsident, Senator, Chiefton und General. Sie kamen mit dem Schiff bis nach Savannah, wurden entladen und auf Schienen gesetzt. Dann fuhren sie von dort nach Atlanta zum Hauptquartier der Western Atlantic."

    Als Buster Keaton die Story des Lokomotivdiebstahls aufgriff, um seinen berühmten Stummfilm zu drehen, fragte er beim Staat Georgia an, ob er die Maschine in seinem Film verwenden dürfe.

    "Buster Keaton wurde zunächst erlaubt, die General für seinen Film zu benutzen. Es gab dazu ein Interview in Atlanta, wo er sein Projekt vorstellte. Die Kriegsveteranen hatten allerdings große Probleme mit der Vorstellung, dass über den historischen Lokdiebstahl, bei dem acht Beteiligte hingerichtet wurden, eine Komödie verfilmt werden sollte. Daraufhin verlegte Buster Keaton den Drehort nach Oregon, wo er auch andere Lokomotiven verwendete."

    Buster Keaton war übrigens nicht der einzige Filmproduzent, der sich für die "General" interessierte. Die MGM Studios in Hollywood wollten die Lokomotive in dem Oscar gekrönten Filmepos "Vom Winde verweht" einsetzen und hatten schon die Genehmigung des Staates Georgia. Die Sache wurde dann nur wegen der hohen Transportkosten von Georgia nach Los Angeles in Kalifornien aufgegeben.

    Es wird Zeit mit Harper Harris in den Führerstand der altehrwürdigen Lok zu klettern. Dampfloks haben eine Seele, sagen die Liebhaber solch alter Maschinen, denn sie haben so viel Sinnliches. Sie schnaufen und zischen, sie pfeifen, sie klingen.

    Sie riechen nach Öl, Dampf, Rauch und Holz und ihr äußeres Erscheinungsbild, die glänzenden Hebel und Stellräder im Führerstand sind eine Augenweide.

    Das ist beispielsweise der Hebel, der die Fahrtrichtung regelt.

    "Das ist der Tender mit dem Wassertank, der 1600 Gallonen fasst. Das reicht für 33 Meilen. Deshalb muss der Zug relativ oft anhalten und frisches Wasser aufnehmen. Auf dem Tender sind auch zwei Kubikmeter Holz. Mit einem Kubikmeter Holz verdampft man einen kompletten Tank Wasser."

    Wer diese Lok-Legende besucht, dem sei neben dem sinnlichen Erlebnis der Maschine auch eine der umfangreichsten Sammlungen amerikanischer Eisenbahngeschichte empfohlen.

    "Die Bibliothek umfasst mit ihrem Archiv 170 Kubikmeter Material. Das sind Bücher, Papiere, Manuskripte und Fotos. Die bedeutendste Sammlung, die wir haben, ist die "Southern Railway Collection"."

    Zu guter Letzt fand die Geschichte des Lokomotivdiebstahls, obwohl sie eigentlich gescheitert war, doch noch ein ruhmreiches Ende, als kein geringerer als Präsident Lincoln von der Aktion und ihrem Ausgang unterrichtet wurde.

    ""Lincoln dachte, es war wirklich eine tapfere Sache, dass diese Jungs 200 Meilen hinter den Linien der Konföderierten eine Lokomotive gestohlen haben. Er gab daraufhin Order, als höchsten militärischen Orden, den die Vereinigten Staaten vergeben, die Medal of Honor einzuführen. Und die Überlebenden dieses Lokomotivdiebstahls sollten die ersten sein, denen diese Auszeichnung zuteil wurde. Das macht diesen Lokomotivdiebstahl so bedeutend in der amerikanischen Geschichte."