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Die Gleichzeitigkeit der Dinge

Zwischen Västmanland im Schweden der 50er-Jahre und Oxford am Beginn des 21. Jahrhunderts spannt sich der Erzählrahmen des neuen Romans von Lars Gustafsson. Was nicht ganz korrekt ist. Für Gustafssons Erzähler, einen emeritierten Philosophieprofessor, liegen die schwedischen 50er-Jahre und die britischen des neuen Jahrtausends dicht nebeneinander, finden die Ereignisse hier wie da gleichzeitig statt.

Von Antje Strubel | 30.07.2009
    Der Professor beschäftigt sich bevorzugt mit Theorien zu Raum und Zeit. Auch seine Lebenszeit läuft wie ein Möbiusband ab, das man sich wie einen Ring vorstellen muss: ohne Anfang und ohne Ende.

    Der 70-Jährige lässt die Monate seines Erwachsenwerdens im schwedischen Västmanland Revue passieren. Die 50er-Jahre mit ihrer Einfachheit, Umständlichkeit, ihrer Nachkriegsarmut, der Restreligosität und den typischen Zweizimmerwohnungen mit Balkon im öden Kleinstadtalltag werden in der Übersetzung von Verena Reichel lebendig.

    Die Bilder und Eindrücke von damals besetzen Geist und Körper des alten Mannes, und es scheint ihm, als würde er alles erst jetzt wirklich erleben. Erst im Nachhinein gewinnen Ereignisse, die sich im Erleben des Jungen noch überschlagen hatten, Form und Gestalt. Der Professor liegt sinnierend auf seinem Bett wie einst Oblomov auf dem seinen und weiß, dass der 70-jährige Körper die Energie des heranwachsenden Jungen von damals nicht mehr aufbringen kann, dass aber die Leidenschaften nicht geringer geworden sind. Und es geht in "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme" vor allem um eine Leidenschaft, um die Leidenschaft für Frau Sorgedahl. Eine Frau Mitte 30, die für den Jungen mit ihrer offenen Lebensart aus dem Kleinstadteinerlei herausragte. Damals hatte der Erzähler die weißhäutige, weltgewandte Schöne offenbar nur angehimmelt. Er goss ihre Blumen, holte die Zeitung aus dem Kasten. Dem Siebzigjährigen wird sie zum körperlichen Ereignis. Das Erleben des Jungen scheint sich für ihn nicht nur zu intensivieren, sondern das Erlebte selbst verändert sich. Was andere schlicht Erinnerung nennen würden, nennt Gustafssons Erzähler den Beweis seiner Existenz. Die Ereignisse, die mit ihm als Jungen jetzt geschehen, beweisen ihm, dass er lebt, dass er in der Zeit ist, in einer Zeit übrigens, die ihn unsterblich macht. Denn diese Zeit hat keine Außenseite. So wie das Leben keine Außenseite hat. Man entkommt diesem Leben nicht, man weiß nicht, was außerhalb ist. Solange man lebt, wird man also unsterblich sein, befindet der Erzähler und sieht als endgültigen Beweis dafür die Frau, genauer gesagt: "den Schoß, der sich füllte und feucht wurde, ihre Seufzer und ihre rehartigen Schreie", wie es in literarischer Unbekümmertheit heißt, und den er zu allem Überfluss in einer Villa in Besitz nimmt, die "Das Paradies" genannt wird.

    Auf diese Szene läuft Gustafssons neuer Roman hinaus, auf eine Szene, die er als Junge offenbar nie erlebte, die der alte Professor auf seinem Bett aber nachträglich dank seiner Vorstellungsgewalt (oder der theoretischen Gleichzeitigkeit aller Dinge) erleben kann: Erst jetzt, viele Jahre später und Tausende Kilometer vom damaligen Ort des Geschehens entfernt, kann er mit Frau Sorgedahl schlafen. Er ist in seinem jugendlichen Körper, der im Körper des alten Mannes ist, und lässt sich von ihr verführen. An einem Sommernachmittag, oder war es ein Nachmittag im April, nimmt die schöne Frau Sorgedahl ihn im Taxi mit in ihre Villa, und erst jetzt ereignet sich, was sich der Junge in seiner Unerfahrenheit noch nicht plastisch hat ausmalen können. Auch der Erzähler braucht eine Weile und jede Menge Erzählaufwand, um schließlich zu dieser Schlüsselszene zu gelangen. Es ist ein gemächlich mäandernder Erzähler, einer, der das Ineinanderschachteln von Episoden und Ereignissen beherrscht, der sich gern beim Geschmack von Zimtbirnen, dem Klang des Wintersturms, bei verschneiten Straßen und dem sommerlichen Staub auf Schuhen aufhält. Dieser Erzähler ist nicht mehr ganz so hypochondrisch, nicht mehr ganz so voller Selbstzweifel, wie man ihn aus anderen, großen Romanen von Gustafsson kennt. Er ist milde geworden, selbstironisch, weniger sarkastisch. Manchmal hat er eine fast tänzerische Leichtigkeit, manchmal allerdings streift sein Humor die Grenze des Senilen.

    Der Roman beginnt mit einer Hypothese: der Erzähler, der behauptet, er habe nicht existiert. Der sich seine Existenz also, indem er erzählt, erst erschafft. Hier scheint die alte Frage nach der sinnstiftenden Kraft des Erzählens durch. Nur erzählend füllt man das Nichts, die Bedrohung, die das Leere darstellt, den sinnlosen Raum, der heute nicht mal mehr mit einer religiösen, bedeutungsstiftenden Macht zu füllen ist. Gustafssons Erzähler füllt diese Leere mit unzähligen Details und Episoden seiner Kindheit, ob es das fromme Raunen der Großmutter Tekla und ihrer Schwester ist oder die Beulenpest, die sich Studienrat Westerberg erstaunlicherweise noch in den 50er-Jahren zuzieht, ob es der Heizungskeller ist, in dem der Junge lange Winter mit seiner Clique verbringt, weil es keinen anderen Ort gibt, um sich zu treffen. Oder es geht um den unliebsamen Oberstudienrat Slipsten, der von dieser Jungsclique auf schleichend zermürbende Art fertiggemacht wird und schließlich in der Psychiatrie landet oder um die ersten sexuellen Erfahrungen, die der Junge im Sommerhaus seiner Eltern mit einem gesichtslosen jungen Mädchen aus ärmlicher Familie macht. Immer geht es um die Frage nach dem, was ihn damals als Jungen ausmachte und was demzufolge den alten Mann von heute ausmacht. Und nie verliert Gustafsson die zeitliche Dimension aus dem Blick, die Tatsache, dass Erinnerung und Gegenwart in diesem Universum immer gleichzeitig anwesend sind. Das Schlüsselereignis, der Sex mit der älteren Frau, unterfüttert die Episoden und wird von ihnen gleichzeitig immer wieder hinausgeschoben, verzögert. Auf diese Weise erfährt der erwachsene Sex eine ungeheuere Aufladung, obwohl er am Ende eine geringere Rolle spielt als all die Zimtbirnen, die Klempnernachbarn, der tote Kuhkadaver im Moor und die mysteriösen Geschichten der abergläubischen Mutter. Denn diese Kindheitsepisoden sind viel stärker daran beteiligt, der Existenz und damit diesem Buch einen Sinn zu geben, als der zwar heftige, aber kurze Liebesakt, der ihr Beweis sein soll. Und den zu erreichen es so quälend viel Hirnakrobatik braucht.