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"Die Gräben sind nicht unüberbrückbar"

Trotz erheblicher Differenzen in der Familien-, Energie- und Steuerpolitik hält es Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg für denkbar, dass sich Union und Grüne auf eine Koalition einigen. Das Problem seien allerdings die Wähler.

10.10.2013
    Dirk Müller: Es ist noch nicht ganz vollbracht, sie sollen bald zusammensitzen, in wenigen Stunden. Aber das ist ja auch schon etwas, Schwarz und Grün. CDU/CSU und die Alternativen, wer hätte das noch gedacht vor wenigen Jahren. Das Wahlergebnis macht nicht alles, aber vieles möglich. Die Grünen sind skeptisch vor diesen Sondierungsgesprächen, die meisten Unionspolitiker auch. Aber es gibt auch Stimmen, wie Günther Beckstein zum Beispiel, ausgerechnet der frühere Ministerpräsident von Bayern, die da sagen, Schwarz-Grün, das sollte, das könnte gehen. Schwarz-Grün auch unser Thema in unserem Gespräch mit Politikwissenschaftler Professor Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg. Guten Tag.

    Everhard Holtmann: Guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Herr Holtmann, an Sie die Frage: Warum denn nicht?

    Holtmann: Ja, denn zunächst mal muss man ja feststellen, das deutsche Parteiensystem ist in Bewegung geraten, und diese Flexibilität, das heißt auch die Anpassungsbereitschaft an Koalitionsoptionen, die man vorher, vor dem Wahlgang doch nicht für möglich gehalten hat, die ist im Grunde genommen durch das jetzige Wahlergebnis eher gewachsen. Aber diese Flexibilität ist nicht nur ein Ausdruck von Wahlarithmetik, sondern sie spiegelt im Grunde genommen auch den Wandel der gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, ob man nun mit einer Partei zusammengehen will oder nicht, wider. Was ist denn passiert? – Wenn wir mal die letzten Jahrzehnte Revue passieren lassen, so wird man sagen können, die Anhängerschaften beider Parteien, also der Unionsparteien auf der einen und der Grünen auf der anderen Seite, sind ja längst nicht mehr so stark durch konträre wirtschaftliche Interessenlagen und durch gegeneinander scharf abgesetzte sozial-strukturelle Milieus gekennzeichnet. Das heißt, hier sind die gesellschaftlichen Konfliktlinien stärker eingeebnet worden. Man darf auch daran erinnern: In den frühen 80er-Jahren, also zu dem Zeitpunkt, als die Grünen zum ersten Mal auf der bundespolitischen Ebene erfolgreich waren, da war ja der typische Grünen-Wähler häufig erwerbslos beziehungsweise Studierender. Das hat sich ja in der Tat erheblich geändert. Die Wählerschaft der Grünen reicht heute bekanntlich weit hinein in gut verdienende Mittelschichten mit einem hohen Anteil Selbständiger. Fazit: Die sozialstrukturellen und auch die sozialkulturellen Gräben, die in den 80er-Jahren noch sehr hoch beziehungsweise tief gezogen waren, die sind erkennbar erheblich eingeebnet, und das spiegelt sich auch in den auf beiden Seiten wachsenden Bereitschaften, zusammenzugehen, wider.

    Müller: Herr Holtmann, übertragen wir das auf den parteipolitischen Kontext. Sie haben es ja schon angedeutet. Wer ist denn dort verantwortlich für diese Weichspülerei?

    Holtmann: Nun, die Weichspülerei – ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist. Denn wenn man sich die Unterschiede in den Politikfeldern bei Politikkonflikten anschaut – Ihre Berliner Korrespondentin hat eben ja auf die Asyl- und Steuerpolitik, die Einwanderungspolitik vielmehr verwiesen -, dann ist es ja keineswegs so, dass hier nach dem Wahlgang nun alles völlig weiß gewaschen wäre. Da gibt es ja nach wie vor erhebliche Differenzen in der Familienpolitik, auch in der Energiepolitik, in der Steuerpolitik, und damit würde es – man muss ja im Konjunktiv reden -, würde es bei Koalitionsgesprächen sicherlich darauf ankommen, hier Kompromisszonen auszuloten. Aber ich gehe eigentlich davon aus, dass letztendlich diese Policy-Differenzen, wie wir als Politikwissenschaftler sagen, nicht unüberwindbar sind.

    Müller: Sagen Sie, wenn wir ein Stichwort nehmen, was auch häufig bei uns in der Redaktion hier diskutiert wird: Mindestlohn. Da haben auch die Journalisten, die Beobachter viel Wert darauf gelegt. "Das ist ein großer Unterschied", wurde gesagt, zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Dabei besteht der Unterschied, um das jetzt verkürzt wiederzugeben, zwischen tariflich fixiertem Mindestlohn, was wir in 13 Branchen jetzt haben, und gesetzlich festgeschriebenem Mindestlohn. Das heißt, das sind ja auch keine großen Differenzen. Dennoch wird das schon so dargestellt, als seien das ja noch Riesengräben, die kaum zu überwinden sind. Auch die SPD bringt das jetzt in diese vermeintlichen Verhandlungen, Sondierungen mit der Union ein, falls es die dann noch mal gibt. Ist es wirklich so, dass es noch Gräben gibt?

    Holtmann: Es gibt sicherlich inhaltliche Gräben und es ist auch keine Bagatelle, ob man nun auf die tarifliche Vereinbarung setzt, wie das Union und vorher FDP bevorzugt haben, oder aber, ob man einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn vorgibt. Das ist einesteils eine Frage der damit freigesetzten Handlungszwänge, auch für die Beteiligten, und zum anderen: Dann haben wir noch gar nicht über die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns geredet. Aber auch hier: Mir scheint, die Gräben sind nicht unüberbrückbar. Vielleicht kommen auch Lösungsmöglichkeiten von dritter Seite ins Spiel, Stichworte: In Großbritannien etwa, da gibt es eine unabhängige Kommission, die von Mal zu Mal den dann gesetzlich normierten Mindestlohn neu festsetzt. Also da gibt es durchaus auch Spielräume, finde ich, für fantasievolle Lösungen. Die könnten dann genauso die Sondierungsgespräche auch der CDU/CSU mit der SPD prägen.

    Müller: Wir haben heute Morgen im Deutschlandfunk und das eben noch mal kurz wiederholt in einer Einspielung Günther Beckstein gehört (CSU), früherer Ministerpräsident von Bayern. Ausgerechnet Günther Beckstein hat gesagt, er kann sich das durchaus vorstellen. Wenn wir auf die handelnden Personen blicken, wird die Kanzlerin die geringsten Probleme mit dieser Grünen-Option haben.

    Holtmann: Nun, das denke ich auch. Die Kanzlerin wird, wenn es denn tatsächlich ernst würde mit einer solchen Option, sicherlich in der ihr eigenen Weise Wege finden, damit sehr pragmatisch umzugehen und gleichzeitig ihre eigene Machtoption, die ja auch durch fast 42 Prozent Wählerstimmen der Unionsparteien gedeckt sind, auch gegenüber dem Koalitionspartner, zumal wenn dieser kleiner ist, auszuspielen. Aber einen anderen Akteur oder eine andere Ebene haben wir noch gar nicht erwähnt: Das sind die Anhängerschaften und auch die Mitgliederschaften insbesondere der Grünen. Denn den Vorwahl-Umfragen von September zufolge war ja Schwarz-Grün nicht sonderlich populär. Man darf daran erinnern: Anfang September haben gerade mal acht Prozent aller Bundesbürger gesagt, das kann ich mir gut vorstellen. Bei den Unionswählern waren es zu diesem Zeitpunkt nur noch 13 Prozent. Und die grüne Basis ist bekanntermaßen nicht unbedingt unionsaffin. Also auch da müsste ja noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Andererseits: Das Beispiel Hamburg einer relativ, wenn auch kurzlebigen schwarz-grünen Zusammenarbeit auf Länderebene hat ja gezeigt, dass auch das letztlich gehen kann.

    Müller: Jetzt haben wir über die Union geredet; reden wir noch einmal kurz zum Schluss über die Grünen. Jetzt gibt es zum Teil dort neues Personal. Wer hat denn jetzt dort das Sagen, wer hat da die Kraft, die Partei gegebenenfalls auf diesen Kurs einschwören zu können?

    Holtmann: Es wird viel darauf ankommen, ob und inwieweit man den Kompromiss der Strömungen, also Fundis und Realos, ob man hier sich auch in der neu gewählten Führungsspitze wiederfindet, ob man den auch mit ungebrochener Kraft in Sondierungsgespräche übertragen kann. Das wissen die Grünen sicherlich selbst auch, dass sie sich dort nicht auseinanderdividieren lassen dürfen, und Versuche von Unionsseite, etwa der CSU, Trittin zu einer Unperson in solchen Verhandlungen zu erklären, das halte ich für eine, sagen wir mal, koalitionspolitische Ersatzhandlung, die nicht erfolgreich sein wird, denn natürlich wird sich niemand bei solchen Gesprächen vorschreiben lassen, wen er mitbringen darf und wen nicht.

    Müller: Also Trittin ist immer noch wichtig?

    Holtmann: Ich denke, dass Jürgen Trittin wie übrigens auch sein Pendant Steinbrück auf Seiten der SPD in dieses Verhandlungsteam eingebettet ist, und er verkörpert ja auch eine Strömung innerhalb der Partei. Die ist zwar durch das Wahlergebnis nicht unbedingt gestärkt worden, aber sie ist ja immerhin noch da. Und die Grünen, gerade weil sie durch das Wahlergebnis reduziert worden sind, werden ja alles daran setzen, sich nicht intern zu zerlegen.

    Müller: Danke nach Halle an Politikwissenschaftler Professor Everhard Holtmann. Ihnen noch einen schönen Tag.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.