"Schicksal ist ein Teil des Lebens."
"Schicksal bedeutet, dass man gewisse Dinge, die man nicht ändern kann, akzeptiert so wie sie auftreten."
"Schicksal ist das, wie der Name schon sagt, was geschickt wird, was man sich nicht aussucht, was man nicht planen kann und vorhersagen kann. Oder anders gesagt, die Frage "Abschaffung des Schicksals", wie es in dem Tagungsthema ist, halte ich eigentlich für eine rhetorische Frage. Das Schicksal kann man nicht abschaffen. Da müsste man das Leben abschaffen."
Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod bedeuten Schicksal und Chance. Gleichzeitig suggeriert unsere Gesellschaft, dass bei entsprechender Planung auch diese schicksalhaften Gegebenheiten kontrolliert werden können.
Das ist ein Trugschluss - wie im Grunde jeder weiß. Thematisiert wird das selten, in der Medizin kaum. Doch das Bedürfnis ist da, auch unter Ärzten.
"Ich darf Sie ganz herzlich begrüßen zu unserem ersten Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin."
Die Auftaktveranstaltung einer ganzen Reihe von geplanten Symposien ist gut besucht. Über 300 Teilnehmer haben sich angemeldet, wenn der Termin auch etwas unglücklich gewählt ist. Aber das konnte Giovanni Maio, Ethikprofessor an der Universität Freiburg, bei der Planung des Kongresses vor eineinhalb Jahren wirklich nicht ahnen.
"Ich freue mich sehr, dass unserer Einladung so viele gefolgt sind, trotz schicksalhaftem Fußball von heute. Ich hoffe aber, dass wir heute Nachmittag trotz dieses Schicksalhaften nicht ganz alleine hier vortragen werden."
In einem Punkt sind sich die Teilnehmer einig: Die Medizin hat sich gewandelt. Heute können Krankheiten behandelt werden, die vor einigen Jahrzehnten noch das sichere Todesurteil bedeuteten. Dazu zählen zum Beispiel die Blutwäsche bei Nierenerkrankungen oder die Möglichkeit einer Organtransplantation. Das war früher anders:
"Ganz früher hat man die Krankheiten gesehen als Folge von höheren Einwirkungen, letzten Endes von Schicksalen, die den Menschen betreffen, hat sie nicht weiter analysieren können, konnte sie auch nicht verstehen."
Erklärt Prof. Josef Zentner, Leiter der Allgemeinen Chirurgie an der Universitätsklinik Freiburg.
"Und mit der Hinwendung der Medizin zur Naturwissenschaft konnte man nun diese Krankheiten auf körperlicher Ebene erklären, das heißt, man hat jetzt rationell Untersuchungsmethoden entwickelt, wie man diese Krankheiten klären kann, hat sie dann auch zu verstehen versucht. Und das macht ein völlig neues Bild der Krankheit. Die Medizin sieht die Krankheit beschränkt auf die körperliche Ebene, das heißt, sie sieht es relativ eindimensional während früher das doch mehrdimensional als Schicksalsgefüge insgesamt gesehen wurde. Heute wird es mehr eindimensional auf die körperliche Ebene projiziert und auch so interpretiert."
Das hat wiederum erhebliche Konsequenzen für den Patienten und sein Verhalten gegenüber der Medizin.
"Auch der Patient selbst stellt jetzt seine körperlichen Symptome, seine körperlichen Beschwerden in den Vordergrund und erwartet von der Medizin, dass diese körperlichen Probleme gelöst werden. Der Nobelpreisträger Watson, der die Helix entwickelt hat, hatte mal gesagt, 'Krankheiten sind nichts als veränderte Gene'. Er hat also diese Krankheiten auf molekularbiologische Grundlagen reduziert. Und wenn der Patient das hört, 'Krankheiten sind veränderte Gene', das heißt, rein auf körperlicher Ebene, dann wird er zur Medizin sagen, ja bitte, dann repariert mir diese Gene, und dann bin ich wieder gesund. Das heißt, heute ist das Modell Medizin und Arzt und Patient – Beziehung ein völlig anderes als früher. Es ist mehr eine Beziehung auf körperlicher Ebene."
Anstelle einer personalen Vertrauensbeziehung entwickelt sich eine rein funktionale Ebene. Wie bei der Reparatur eines Autos wird der kranke Mensch reduziert auf den "Blindarm auf Zimmer 39". Auf der anderen Seite erwartet der verschnupfte Patient ein zügiges Ende seiner immer wieder auftretenden Erkältung und keine Gesprächsintervention über eine grundsätzliche Lebensstiländerung.
"Das ist eben das Wechselspiel zwischen Medizin und Gesellschaft oder Arzt und Patient, das heißt, die Medizin liefert die Voraussetzungen für diese Entwicklung, indem sie sich von der Mehrdimensionalität in die eindimensionale Körperebene bewegt, und der Patient folgt dem und erwartet auch genau das. Und das kommt dann eher in die Richtung Leistungserbringer zu Konsumenten."
Oder - wie es der Medizinethiker Giovanni Maio - ausdrückt:
"Es ist im Grunde auch ein Machbarkeitsglaube, der der Medizin härent ist, weil die Medizin sich als eine Technik versteht, und in der Verbindung von Technik und Ökonomie haben wir eine Verstärkung dieses Machbarkeitsglaubens und eine Verstärkung dieser Orientierung an Funktionen und optimalen Prozessen. Und man vergisst dabei, dass die Inhalte selber nicht vorhersehbar sind."
Sprecherin
Die Verbindung zwischen Technik und Ökonomie prangern engagierte Mediziner wie der Frankfurter Chirurg Dr. Bernd Hontschik an: Das Gesundheitssystem verkomme immer mehr zu einer Gesundheitswirtschaft. Das Budget für Arzneimittel werde immer größer, das Patientengespräch im Verhältnis dazu schlecht bezahlt. Rezept statt Gespräch, sei dann häufig das Ergebnis. Bernd Hontschik ist ein vehementer Verfechter der Humanmedizin. Das heiße nicht, dass er keine Medikamente verschreiben würde. Aber sie sollten ihre Wirksamkeit in evidenzbasierten Studien nachgewiesen haben. Evidenzbasierte Studien sind der Goldstandard in der Medizin. Ein Medikament oder Verfahren muss seine Wirksamkeit nach bestimmten Kriterien empirisch nachgewiesen haben.
"Ich finde es wichtig, dass da, wo die Medizin auf die Naturwissenschaften zurückgreift, und wenn es nach mir ginge, wäre das ja nur zum Teil der Fall, nicht so überbordend wie bei uns, wenn das evidenzbasiert passieren würde, ja. Also es kann nicht jeder Scharlatan, jeden Quatsch für jede Krankheit von sich geben und unters Volk werfen. Das muss schon irgendwie Sinn und Verstand haben und das verstehe ich unter evidenzbasiert, und soweit gefällt mir das auch."
In der Humanmedizin - so Bernd Hontschik - ist die Evidenzbasierung nur ein Teil dessen, was ein Arzt macht.
"Die ärztliche Arbeit passiert in der Arzt – Patient – Beziehung. Da kann man nichts evidenzbasieren, da muss man dafür sorgen, dass die Ärzte Zeit haben, dass die Ärzte keine ökonomischen Sorgen haben bei der Behandlung ihrer Patienten, dass die Patienten sich darauf verlassen können, dass sie medizinisch korrekt beraten werden und keine ökonomischen Interessen im Hintergrund sind, und dass die Ärzte eine gute kommunikative Ausbildung haben, um mit all den schwierigen Dingen, mit denen sie ihre Patienten konfrontieren, auch zurecht zu kommen. Das ist alles nicht evidenzbasiert und macht bestimmt drei Viertel der ärztlichen Arbeit aus.
Aber das eine Viertel Naturwissenschaft und Pharmakologie, das soll ruhig evidenzbasiert sein. Da könnten wir einige Milliarden Euro sparen."
Ein Problem der modernen Medizin heute: Diagnosen werden mit Fakten gleichgesetzt.
"Nehmen Sie doch zum Beispiel mal irgendeine Diagnose, die in den 70ern noch Gang und Gebe war, weil es eine Krankheit war. Ich nehme jetzt extra mal provokativ die Homosexualität. Bis in die, ich glaube 70er-Jahre, wenn ich mich jetzt nicht täusche, ist das eine Krankheit gewesen, die in der International Classification of Diseases eine ICD – Ziffer hatte, und zu behandeln war. Weil die Welt sich bewegt, und die Welt sich ändert, hat man irgendwann mal beschlossen, vernünftigerweise, das aus dem Krankheitskatalog zu streichen. Jetzt muss man nicht denken, das wäre mit anderen Krankheiten nicht so. Diagnosen sind Zeit und Zeitgeist – abhängige Konstruktionen."
Und noch etwas hat sich geändert: Aus dem unbedarften Patienten soll der mündige Patient werden, der selbstverantwortlich seine Gesundheit managet. Das gilt umso mehr für die Devise: "Vorsorgen ist besser als heilen."
"Wir sehen das zum Beispiel bei der Verwendung von Gentests. Da haben wir die Vorstellung, dass wenn wir genügend Tests machen und auch genügend Vorsorge leisten für unsere Gesundheit, dass wir dann eigentlich die Krankheit im Griff haben und wir nicht krank werden. Das ist ein großes Problem, weil damit wird suggeriert: Du brauchst nur genug an Dir arbeiten und dann wirst Du schon nicht krank werden."
Der Medizinethiker Giovanni Maio hält das schlichtweg für falsch.
"Krankheit ist auch heute, wo wir soviel erkennen können und behandeln können, nach wie vor etwas schicksalhaftes. Krankheit ist ein Schicksal, womit man zu leben lernen muss, aber Krankheit wird nie etwas sein, was man vorher planen und ganz sicher verhindern, vermeiden kann."
Der Philosoph und Mediziner plädiert dafür, mit dem Schicksal leben zu lernen, das Schicksal nicht zu verleugnen. Das bedeute aber nicht,...
"... dass wir dann in einem Fatalismus verfallen sollen und dass wir sagen, na gut, dann ist alles Schicksal. Schicksal bedeutet, es kommt etwas zu uns, auf uns, was wir uns nicht ausgesucht haben, aber das, was da kommt, ist zugleich ein Auftrag für den Menschen. Er muss reagieren darauf. Der moderne Mensch sollte nicht sich ergeben in das Schicksal, sondern das Schicksal auch als Auftrag betrachten, dann muss ich aber auch etwas tun. Natürlich ist es legitim im Vorfeld alles zu tun, um Krankheiten zu vermeiden, aber man darf nicht von der irrigen Annahme ausgehen, dass Krankheiten nur noch das Produkt all dessen ist, was wir tun und unterlassen."
Diese Sichtweise negiert,....
" ... dass der krankgewordene Mensch jemand ist, der unserer Zuwendung bedarf und der Solidarität bedarf und er sich nicht konfrontiert sehen muss mit der Frage, warum hast Du nicht genügend vorgesorgt. Das wäre dann eine Entsolidarisierung. Und es wäre auch eine Moralisierung von Krankheit. Das ist das Problem. Wir moralisieren Krankheit. Wir sehen Krankheit als Teil von Schuld, und das ist ein großes Problem."
Es gibt inzwischen Eltern, die sich schuldig fühlen, weil sie ein behindertes Kind haben, denn die Pränataldiagnostik kann solche "Unfälle" heutzutage verhindern. In den USA war es eine Zeit lang gar nicht selten, dass Frauen mit einem familiär bedingten erhöhten Brustkrebsrisiko, sich prophylaktisch die Brust amputieren ließen. In der Debatte um den Stellenwert der fitten Senioren in unserer Gesellschaft wird häufig übersehen, dass nicht jeder Senior bis ins hohe Alter fit ist, geschweige der Gesellschaft nützt.
"Genau das ist die Kehrseite dessen, wenn wir sagen, der Mensch hat alles selbst im Griff. Das bedeutet dann, dass er aber auch rechenschaftspflichtig wird, wenn er krank wird. Er ist selbst zur Rechenschaft gezogen, wenn er nicht mehr funktioniert, dann hat er irgendetwas falsch gemacht. Da zeigt sich wie wichtig das ist, dass wir den Begriff des Schicksals immer noch in unserem Kopf haben, damit wir erkennen, der Mensch kann viel tun, aber er hat nicht alles im Griff. Und wenn er nicht mehr leistungsfähig ist, dann darf er nicht dafür bestraft werden und quasi so getan werden, als wäre die Gesundheit ein Qualifikationsmerkmal, eine Leistung, die man vollbringt, Gesundheit ist zugleich auch ein Geschenk."
Gesundheit als Geschenk? In einer Welt des scheinbar Machbaren klingt das schon fast anachronistisch - speziell für eine Berufsgruppe: die Chirurgen. Sie sind diejenigen unter den Medizinern, deren Arbeitsalltag durch ein hohes Maß an Technisierung und Spezialisierung gekennzeichnet ist.
Chirurgie und Schicksal scheinen Gegensätze zu sein.
Trotzdem: Neben den Religionswissenschaftlern und Historikern stellten sie die größte Gruppe der Vortragenden auf dem Symposium.
"Ich habe mich auch gewundert. Vielleicht sind natürlich gerade die Chirurgen diejenigen, die das Schicksal am liebsten ausklammern. Das sind ja eher die coolen Macher. Das ist vielleicht ein Klischee. Man erfährt das immer wieder. Ich auch in meinen über 30 Jahren, bin ich dem immer wieder begegnet, wo man einfach dann sich damit getröstet hat: It's the Job. Es gehört zum Beruf, dass gestorben wird und das ist natürlich sehr salopp."
Sagt Prof. Peter Stulz, Herzchirurg und über Jahrzehnte Chefarzt, zuletzt in Luzern.
"Es ist natürlich schon so, dass wir vor allem technisch-technokratisch denken, wir Chirurgen. Wir denken nicht an Frau Meier oder so, sondern wir denken an den Blindarm Morgen oder an das Herz, das ich Morgen operieren sollte. Und diese Verdinglichung schon oder Vertechnisierung der Person, des Patienten, der von uns etwas erwartet, zeigt ja schon, wie wir denken. Umso wichtiger ist es, dass auch wir Chirurgen über das Schicksal nachdenken."
Für Einzelschicksale ist kein Platz in der hoch technologisierten Medizin.
"Gerade beispielsweise in unseren Kreisen, herzchirurgischen Kreisen, da spricht man ja dann nur von Mortalität, das heißt von Sterblichkeit, beispielsweise die Mortalität von zwei, drei Prozent ist die Norm heute, das heißt zwei, drei Prozent versterben im Rahmen der Operation. Dass man sich auch an die Schicksale immer wieder im Denken orientiert, das ist trotz der hektischen Zeit wichtig und auch in Komplikationskonferenzen spricht man selbstverständlich von Mortalitätsziffern, und weshalb kam es zum Tod und wie können wir es beim nächsten Mal besser machen. Das ist alles wichtig. Aber letztlich geht es um das Schicksal des Patienten, und wie verarbeite ich das als Chirurg überhaupt. Dieses Schicksal, das ist die entscheidende Frage, die wird ausgeklammert immer."
Vielleicht war es wirklich das erste Mal, wie der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio meint, dass hierzulande in dieser Konstellation über das Schicksal in der Medizin diskutiert wurde: Natur- und Geisteswissenschaftler im Dialog über Krankheiten, Geburt und den Tod, vor allen Dingen aber auch darüber, was in unserer Welt planbar ist und wo wir an Grenzen stoßen.
Peter Stulz wünscht sich diese Diskussion auch an den Universitäten.
"Es ist ja schon so, dass das Medizinstudium dominant naturwissenschaftlich ausgerichtet ist. Das muss ja auch so sein, denn wir verdanken ein Großteil der heutigen Ergebnisse der Medizin der Naturwissenschaft. Aber die geisteswissenschaftlichen, humanistischen - dieses Gedankengut wird eindeutig vernachlässigt. Da sind wahrscheinlich die Amerikaner und die Engländer viel weiter als wir, die haben bereits die Humanities, die Geisteswissenschaften schon im Medizinstudium drin, vom ersten Jahr an. Das wäre mein großes Bedürfnis, dass man eine Symbiose findet zwischen naturwissenschaftlichen – technischen Aspekten und humanistisch – geisteswissenschaftlichen Aspekten der Medizin. Das ist heute noch nicht der Fall. Und das wäre ein Kernziel des 21. Jahrhunderts."
"Schicksal bedeutet, dass man gewisse Dinge, die man nicht ändern kann, akzeptiert so wie sie auftreten."
"Schicksal ist das, wie der Name schon sagt, was geschickt wird, was man sich nicht aussucht, was man nicht planen kann und vorhersagen kann. Oder anders gesagt, die Frage "Abschaffung des Schicksals", wie es in dem Tagungsthema ist, halte ich eigentlich für eine rhetorische Frage. Das Schicksal kann man nicht abschaffen. Da müsste man das Leben abschaffen."
Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod bedeuten Schicksal und Chance. Gleichzeitig suggeriert unsere Gesellschaft, dass bei entsprechender Planung auch diese schicksalhaften Gegebenheiten kontrolliert werden können.
Das ist ein Trugschluss - wie im Grunde jeder weiß. Thematisiert wird das selten, in der Medizin kaum. Doch das Bedürfnis ist da, auch unter Ärzten.
"Ich darf Sie ganz herzlich begrüßen zu unserem ersten Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin."
Die Auftaktveranstaltung einer ganzen Reihe von geplanten Symposien ist gut besucht. Über 300 Teilnehmer haben sich angemeldet, wenn der Termin auch etwas unglücklich gewählt ist. Aber das konnte Giovanni Maio, Ethikprofessor an der Universität Freiburg, bei der Planung des Kongresses vor eineinhalb Jahren wirklich nicht ahnen.
"Ich freue mich sehr, dass unserer Einladung so viele gefolgt sind, trotz schicksalhaftem Fußball von heute. Ich hoffe aber, dass wir heute Nachmittag trotz dieses Schicksalhaften nicht ganz alleine hier vortragen werden."
In einem Punkt sind sich die Teilnehmer einig: Die Medizin hat sich gewandelt. Heute können Krankheiten behandelt werden, die vor einigen Jahrzehnten noch das sichere Todesurteil bedeuteten. Dazu zählen zum Beispiel die Blutwäsche bei Nierenerkrankungen oder die Möglichkeit einer Organtransplantation. Das war früher anders:
"Ganz früher hat man die Krankheiten gesehen als Folge von höheren Einwirkungen, letzten Endes von Schicksalen, die den Menschen betreffen, hat sie nicht weiter analysieren können, konnte sie auch nicht verstehen."
Erklärt Prof. Josef Zentner, Leiter der Allgemeinen Chirurgie an der Universitätsklinik Freiburg.
"Und mit der Hinwendung der Medizin zur Naturwissenschaft konnte man nun diese Krankheiten auf körperlicher Ebene erklären, das heißt, man hat jetzt rationell Untersuchungsmethoden entwickelt, wie man diese Krankheiten klären kann, hat sie dann auch zu verstehen versucht. Und das macht ein völlig neues Bild der Krankheit. Die Medizin sieht die Krankheit beschränkt auf die körperliche Ebene, das heißt, sie sieht es relativ eindimensional während früher das doch mehrdimensional als Schicksalsgefüge insgesamt gesehen wurde. Heute wird es mehr eindimensional auf die körperliche Ebene projiziert und auch so interpretiert."
Das hat wiederum erhebliche Konsequenzen für den Patienten und sein Verhalten gegenüber der Medizin.
"Auch der Patient selbst stellt jetzt seine körperlichen Symptome, seine körperlichen Beschwerden in den Vordergrund und erwartet von der Medizin, dass diese körperlichen Probleme gelöst werden. Der Nobelpreisträger Watson, der die Helix entwickelt hat, hatte mal gesagt, 'Krankheiten sind nichts als veränderte Gene'. Er hat also diese Krankheiten auf molekularbiologische Grundlagen reduziert. Und wenn der Patient das hört, 'Krankheiten sind veränderte Gene', das heißt, rein auf körperlicher Ebene, dann wird er zur Medizin sagen, ja bitte, dann repariert mir diese Gene, und dann bin ich wieder gesund. Das heißt, heute ist das Modell Medizin und Arzt und Patient – Beziehung ein völlig anderes als früher. Es ist mehr eine Beziehung auf körperlicher Ebene."
Anstelle einer personalen Vertrauensbeziehung entwickelt sich eine rein funktionale Ebene. Wie bei der Reparatur eines Autos wird der kranke Mensch reduziert auf den "Blindarm auf Zimmer 39". Auf der anderen Seite erwartet der verschnupfte Patient ein zügiges Ende seiner immer wieder auftretenden Erkältung und keine Gesprächsintervention über eine grundsätzliche Lebensstiländerung.
"Das ist eben das Wechselspiel zwischen Medizin und Gesellschaft oder Arzt und Patient, das heißt, die Medizin liefert die Voraussetzungen für diese Entwicklung, indem sie sich von der Mehrdimensionalität in die eindimensionale Körperebene bewegt, und der Patient folgt dem und erwartet auch genau das. Und das kommt dann eher in die Richtung Leistungserbringer zu Konsumenten."
Oder - wie es der Medizinethiker Giovanni Maio - ausdrückt:
"Es ist im Grunde auch ein Machbarkeitsglaube, der der Medizin härent ist, weil die Medizin sich als eine Technik versteht, und in der Verbindung von Technik und Ökonomie haben wir eine Verstärkung dieses Machbarkeitsglaubens und eine Verstärkung dieser Orientierung an Funktionen und optimalen Prozessen. Und man vergisst dabei, dass die Inhalte selber nicht vorhersehbar sind."
Sprecherin
Die Verbindung zwischen Technik und Ökonomie prangern engagierte Mediziner wie der Frankfurter Chirurg Dr. Bernd Hontschik an: Das Gesundheitssystem verkomme immer mehr zu einer Gesundheitswirtschaft. Das Budget für Arzneimittel werde immer größer, das Patientengespräch im Verhältnis dazu schlecht bezahlt. Rezept statt Gespräch, sei dann häufig das Ergebnis. Bernd Hontschik ist ein vehementer Verfechter der Humanmedizin. Das heiße nicht, dass er keine Medikamente verschreiben würde. Aber sie sollten ihre Wirksamkeit in evidenzbasierten Studien nachgewiesen haben. Evidenzbasierte Studien sind der Goldstandard in der Medizin. Ein Medikament oder Verfahren muss seine Wirksamkeit nach bestimmten Kriterien empirisch nachgewiesen haben.
"Ich finde es wichtig, dass da, wo die Medizin auf die Naturwissenschaften zurückgreift, und wenn es nach mir ginge, wäre das ja nur zum Teil der Fall, nicht so überbordend wie bei uns, wenn das evidenzbasiert passieren würde, ja. Also es kann nicht jeder Scharlatan, jeden Quatsch für jede Krankheit von sich geben und unters Volk werfen. Das muss schon irgendwie Sinn und Verstand haben und das verstehe ich unter evidenzbasiert, und soweit gefällt mir das auch."
In der Humanmedizin - so Bernd Hontschik - ist die Evidenzbasierung nur ein Teil dessen, was ein Arzt macht.
"Die ärztliche Arbeit passiert in der Arzt – Patient – Beziehung. Da kann man nichts evidenzbasieren, da muss man dafür sorgen, dass die Ärzte Zeit haben, dass die Ärzte keine ökonomischen Sorgen haben bei der Behandlung ihrer Patienten, dass die Patienten sich darauf verlassen können, dass sie medizinisch korrekt beraten werden und keine ökonomischen Interessen im Hintergrund sind, und dass die Ärzte eine gute kommunikative Ausbildung haben, um mit all den schwierigen Dingen, mit denen sie ihre Patienten konfrontieren, auch zurecht zu kommen. Das ist alles nicht evidenzbasiert und macht bestimmt drei Viertel der ärztlichen Arbeit aus.
Aber das eine Viertel Naturwissenschaft und Pharmakologie, das soll ruhig evidenzbasiert sein. Da könnten wir einige Milliarden Euro sparen."
Ein Problem der modernen Medizin heute: Diagnosen werden mit Fakten gleichgesetzt.
"Nehmen Sie doch zum Beispiel mal irgendeine Diagnose, die in den 70ern noch Gang und Gebe war, weil es eine Krankheit war. Ich nehme jetzt extra mal provokativ die Homosexualität. Bis in die, ich glaube 70er-Jahre, wenn ich mich jetzt nicht täusche, ist das eine Krankheit gewesen, die in der International Classification of Diseases eine ICD – Ziffer hatte, und zu behandeln war. Weil die Welt sich bewegt, und die Welt sich ändert, hat man irgendwann mal beschlossen, vernünftigerweise, das aus dem Krankheitskatalog zu streichen. Jetzt muss man nicht denken, das wäre mit anderen Krankheiten nicht so. Diagnosen sind Zeit und Zeitgeist – abhängige Konstruktionen."
Und noch etwas hat sich geändert: Aus dem unbedarften Patienten soll der mündige Patient werden, der selbstverantwortlich seine Gesundheit managet. Das gilt umso mehr für die Devise: "Vorsorgen ist besser als heilen."
"Wir sehen das zum Beispiel bei der Verwendung von Gentests. Da haben wir die Vorstellung, dass wenn wir genügend Tests machen und auch genügend Vorsorge leisten für unsere Gesundheit, dass wir dann eigentlich die Krankheit im Griff haben und wir nicht krank werden. Das ist ein großes Problem, weil damit wird suggeriert: Du brauchst nur genug an Dir arbeiten und dann wirst Du schon nicht krank werden."
Der Medizinethiker Giovanni Maio hält das schlichtweg für falsch.
"Krankheit ist auch heute, wo wir soviel erkennen können und behandeln können, nach wie vor etwas schicksalhaftes. Krankheit ist ein Schicksal, womit man zu leben lernen muss, aber Krankheit wird nie etwas sein, was man vorher planen und ganz sicher verhindern, vermeiden kann."
Der Philosoph und Mediziner plädiert dafür, mit dem Schicksal leben zu lernen, das Schicksal nicht zu verleugnen. Das bedeute aber nicht,...
"... dass wir dann in einem Fatalismus verfallen sollen und dass wir sagen, na gut, dann ist alles Schicksal. Schicksal bedeutet, es kommt etwas zu uns, auf uns, was wir uns nicht ausgesucht haben, aber das, was da kommt, ist zugleich ein Auftrag für den Menschen. Er muss reagieren darauf. Der moderne Mensch sollte nicht sich ergeben in das Schicksal, sondern das Schicksal auch als Auftrag betrachten, dann muss ich aber auch etwas tun. Natürlich ist es legitim im Vorfeld alles zu tun, um Krankheiten zu vermeiden, aber man darf nicht von der irrigen Annahme ausgehen, dass Krankheiten nur noch das Produkt all dessen ist, was wir tun und unterlassen."
Diese Sichtweise negiert,....
" ... dass der krankgewordene Mensch jemand ist, der unserer Zuwendung bedarf und der Solidarität bedarf und er sich nicht konfrontiert sehen muss mit der Frage, warum hast Du nicht genügend vorgesorgt. Das wäre dann eine Entsolidarisierung. Und es wäre auch eine Moralisierung von Krankheit. Das ist das Problem. Wir moralisieren Krankheit. Wir sehen Krankheit als Teil von Schuld, und das ist ein großes Problem."
Es gibt inzwischen Eltern, die sich schuldig fühlen, weil sie ein behindertes Kind haben, denn die Pränataldiagnostik kann solche "Unfälle" heutzutage verhindern. In den USA war es eine Zeit lang gar nicht selten, dass Frauen mit einem familiär bedingten erhöhten Brustkrebsrisiko, sich prophylaktisch die Brust amputieren ließen. In der Debatte um den Stellenwert der fitten Senioren in unserer Gesellschaft wird häufig übersehen, dass nicht jeder Senior bis ins hohe Alter fit ist, geschweige der Gesellschaft nützt.
"Genau das ist die Kehrseite dessen, wenn wir sagen, der Mensch hat alles selbst im Griff. Das bedeutet dann, dass er aber auch rechenschaftspflichtig wird, wenn er krank wird. Er ist selbst zur Rechenschaft gezogen, wenn er nicht mehr funktioniert, dann hat er irgendetwas falsch gemacht. Da zeigt sich wie wichtig das ist, dass wir den Begriff des Schicksals immer noch in unserem Kopf haben, damit wir erkennen, der Mensch kann viel tun, aber er hat nicht alles im Griff. Und wenn er nicht mehr leistungsfähig ist, dann darf er nicht dafür bestraft werden und quasi so getan werden, als wäre die Gesundheit ein Qualifikationsmerkmal, eine Leistung, die man vollbringt, Gesundheit ist zugleich auch ein Geschenk."
Gesundheit als Geschenk? In einer Welt des scheinbar Machbaren klingt das schon fast anachronistisch - speziell für eine Berufsgruppe: die Chirurgen. Sie sind diejenigen unter den Medizinern, deren Arbeitsalltag durch ein hohes Maß an Technisierung und Spezialisierung gekennzeichnet ist.
Chirurgie und Schicksal scheinen Gegensätze zu sein.
Trotzdem: Neben den Religionswissenschaftlern und Historikern stellten sie die größte Gruppe der Vortragenden auf dem Symposium.
"Ich habe mich auch gewundert. Vielleicht sind natürlich gerade die Chirurgen diejenigen, die das Schicksal am liebsten ausklammern. Das sind ja eher die coolen Macher. Das ist vielleicht ein Klischee. Man erfährt das immer wieder. Ich auch in meinen über 30 Jahren, bin ich dem immer wieder begegnet, wo man einfach dann sich damit getröstet hat: It's the Job. Es gehört zum Beruf, dass gestorben wird und das ist natürlich sehr salopp."
Sagt Prof. Peter Stulz, Herzchirurg und über Jahrzehnte Chefarzt, zuletzt in Luzern.
"Es ist natürlich schon so, dass wir vor allem technisch-technokratisch denken, wir Chirurgen. Wir denken nicht an Frau Meier oder so, sondern wir denken an den Blindarm Morgen oder an das Herz, das ich Morgen operieren sollte. Und diese Verdinglichung schon oder Vertechnisierung der Person, des Patienten, der von uns etwas erwartet, zeigt ja schon, wie wir denken. Umso wichtiger ist es, dass auch wir Chirurgen über das Schicksal nachdenken."
Für Einzelschicksale ist kein Platz in der hoch technologisierten Medizin.
"Gerade beispielsweise in unseren Kreisen, herzchirurgischen Kreisen, da spricht man ja dann nur von Mortalität, das heißt von Sterblichkeit, beispielsweise die Mortalität von zwei, drei Prozent ist die Norm heute, das heißt zwei, drei Prozent versterben im Rahmen der Operation. Dass man sich auch an die Schicksale immer wieder im Denken orientiert, das ist trotz der hektischen Zeit wichtig und auch in Komplikationskonferenzen spricht man selbstverständlich von Mortalitätsziffern, und weshalb kam es zum Tod und wie können wir es beim nächsten Mal besser machen. Das ist alles wichtig. Aber letztlich geht es um das Schicksal des Patienten, und wie verarbeite ich das als Chirurg überhaupt. Dieses Schicksal, das ist die entscheidende Frage, die wird ausgeklammert immer."
Vielleicht war es wirklich das erste Mal, wie der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio meint, dass hierzulande in dieser Konstellation über das Schicksal in der Medizin diskutiert wurde: Natur- und Geisteswissenschaftler im Dialog über Krankheiten, Geburt und den Tod, vor allen Dingen aber auch darüber, was in unserer Welt planbar ist und wo wir an Grenzen stoßen.
Peter Stulz wünscht sich diese Diskussion auch an den Universitäten.
"Es ist ja schon so, dass das Medizinstudium dominant naturwissenschaftlich ausgerichtet ist. Das muss ja auch so sein, denn wir verdanken ein Großteil der heutigen Ergebnisse der Medizin der Naturwissenschaft. Aber die geisteswissenschaftlichen, humanistischen - dieses Gedankengut wird eindeutig vernachlässigt. Da sind wahrscheinlich die Amerikaner und die Engländer viel weiter als wir, die haben bereits die Humanities, die Geisteswissenschaften schon im Medizinstudium drin, vom ersten Jahr an. Das wäre mein großes Bedürfnis, dass man eine Symbiose findet zwischen naturwissenschaftlichen – technischen Aspekten und humanistisch – geisteswissenschaftlichen Aspekten der Medizin. Das ist heute noch nicht der Fall. Und das wäre ein Kernziel des 21. Jahrhunderts."