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Die Grenzen des Körpers überschreiten

"No Limits" heißt ein Theaterfestival, das noch bis nächsten Sonntag in Berlin die Grenzen der Sehgewohnheiten sprengt. Hier stehen behinderte und nicht-behinderte Künstler gemeinsam auf der Bühne. Was hier über die Bühne tobt, interessiert nicht nur Sozialarbeiter und Angehörige, sondern auch immer mehr Theaterfans.

Von Monika Hebbinghaus |
    "Ich will eine berühmte Tänzerin sein", ruft die junge Frau im Rollstuhl ins Megafon. Ein Tänzer rollt sie an den Rand der Bühne und kippt sie aus. Sie robbt zurück in die Mitte, zieht sich wieder auf den Stuhl hoch, beharrlich, immer wieder. Später rollt sie mit den andern Tänzern bäuchlings über den Boden, verkeilt zu einem Bündel Mensch, Arme und Beine vereint zu Zwitterwesen.
    Elsa Freitas heißt die junge Frau, sie ist 23, sitzt im Rollstuhl, und schon ihr halbes Leben tanzt sie bei "Dancando com a Diferenca" – Portugals berühmtester Truppe für integrativen Tanz. Auf der Bühne befreie ich mich, sagt sie.
    "Hier zeige ich mich, wie ich bin, und stehe dazu. Und ich zeige, dass ein Tänzer in unterschiedlichsten Körpern existieren kann."
    Vor 13 Jahren kam der künstlerische Leiter der Truppe, Henrique Amoedo auf die Insel Madeira, mitten ins kulturelle Niemandsland, und bot jedem, der wollte, eine professionelle Tanzausbildung an. Es kamen junge und alte Menschen, Menschen mit idealen Körpern, andere mit Beinschienen, mit Down Syndrom, mit Sehbehinderung.
    "Alle diese Leute, die in dieser Gruppe sind, haben zusammen angefangen zu tanzen, vor zwölf, dreizehn Jahren. Und das gibt einfach dieser Gruppe etwas sehr Natürliches. Was einfach ein Unterschied ist in der künstlerischen Arbeit ist das Tempo, in dem die Leute eine Choreografie lernen."
    Immer wieder schafft es die Truppe, Stars der portugiesischen Tanzszene zu gewinnen, um mit ihnen Stücke zu entwickeln – in diesem Fall waren es Rui Horta und Clara Andermatt. Große Namen sind wichtig, sagt Festival-Dramaturg Marcel Bugiel.
    "Ich glaube, dass das nach wie vor der einzige Weg ist, aus der Nische Behindertentheater rauszukommen, die von der regulären Performing Arts Szene nicht ernst genommen wird. Und ich glaube, wenn man in den offiziellen Diskurs will, dann gibt es im Moment keinen anderen Weg."
    Dabei ist das, was "Dancando com a Diferenca" machen, hoch spannend. Die Truppe lebt auf der Bühne eine Utopie: Alle Tänzer interagieren auf Augenhöhe, so unterschiedlich sie sind. Und man merkt beim Zuschauen, wie sich der eigene Blick wandelt. "Beautiful People", der Name des Stücks, bringt es auf den Punkt. Diese Körper sind schön.
    Ganz anders ist das Stück der renommierten Theater-Gruppe "Rimini Protokoll”: Ihre Produktion "Qualitätskontrolle" sprengt eigentlich den Rahmen des Festivals. Hier geht es nicht um Kunst, sondern um das Leben. Die Hauptdarstellerin Maria-Cristina Hallwachs ist vom Hals abwärts bewegungsunfähig. Seit zwanzig Jahren lebt sie - wie sie selbst es nennt - als "Kopfmensch". Seit jenem Moment, als sie im Familienurlaub in Griechenland kopfüber in den Pool der Ferienanlage springt – am Nichtschwimmer-Ende, in fünfzig Zentimeter tiefes Wasser.
    "Öffne ich die Augen, steht ein Arzt über mir, der sagt: 'Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie dieses Bett niemals verlassen werden können.' Ich soll selbst entscheiden, ob ich es riskieren will, dieses Leben zu leben."
    Und sie will. Sie wird aus dem Krankenhaus entlassen, zieht in eine eigene Wohnung, studiert Französisch und Geschichte, arbeitet heute als Beraterin für Behinderte. Doch rund um die Uhr muss jemand bei ihr sein.
    "Die Pflegerinnen und Pfleger, die bei mir Dienst haben und arbeiten müssen im Moment, sind auch auf der Bühne dabei. Wenn ich diese anderthalb Stunden rede, brauche ich mal was zu Trinken, und muss mich auch mal absaugen lassen, ich kann nicht selber husten, ich kann nicht selber atmen – da müssen sie mich einfach dann medizinisch auch unterstützen."
    Sie spielen auch zusammen Fußball. Mit dem Mund steuert sie den E-Rollstuhl, mit der Fußablage stupst sie den Ball in Richtung Tor. Pfleger Admir muss mit verbundenen Augen abwehren – wegen der Chancengleichheit."Bist du bereit?” – "Ja." – " Anpfiff! ... Ich komme, links von dir!"
    Maria-Cristina Hallwachs:
    "Mein Leben, so wie ich jetzt es lebe, hat natürlich Qualität. Aber ich merke, dass oft von außen mir diese Qualität abgesprochen wird. Und das reizt mich natürlich, und das will ich auch so in meinem Alltag den Menschen beweisen, dass ich sehr gut und sehr gerne und sehr zufrieden leben kann."
    Die Zuschauer im ausverkauften Saal sind spürbar beeindruckt. Mancher ist vielleicht nur hier, weil er sich von der Gruppe "Rimini Protokoll" ein besonderes Theatererlebnis erhofft. Denn die Gruppe ist bekannt für ihre ungewöhnliche Arbeit, in der sie Realität auf der Bühne inszeniert. Für Regisseurin Helgard Haug ist ihre Hauptdarstellerin eine "Expertin der Wirklichkeit".
    "Am Schluss des Stückes geht es eben ganz stark noch mal um Pränatal-Diagnostik. Was wäre, wenn Maria-Cristina ein Kind hätte, wie würde sie damit umgehen? Sie stellt aber auch ihren Pflegern die Frage: Was wollt ihr wissen? Ist es sinnvoll, was zu wissen? Also in die Lage auch gebracht zu werden, ständig entscheiden zu müssen. Oder kann man Leben auch auf sich zukommen lassen?"
    Bei diesem Theaterfestival kommt das Leben auf einen zu, in all seinen Facetten. Denn das Einzige, was gegen Berührungsängste hilft – ist Berührung.