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"Die Grenzen müssen wieder geöffnet werden"

Der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Javier Solana, hat Israel aufgefordert, einen schnellen Wiederaufbau im Gazastreifen durch eine Grenzöffnung zu ermöglichen. Die EU sei bereit, Beobachter an die Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen zu entsenden, so Solana. Um den Friedensprozess voranzubringen müsse außerdem der Aufbau einer "konsensgestützten Regierung" vorangetrieben werden.

Javier Solana im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Mario Dobovisek: Am Donnerstag hat Barack Obama George Mitchell zum Vermittler für die Friedensgespräche im Nahen Osten ernannt, und er sagte, er werde eine Friedenspolitik mit aktiven und nachdrücklichen Schritten verfolgen - "active and aggressive", wie er sagte. Ist das, wonach sich die EU gesehnt hat?

    Javier Solana: Nun, ich freue mich sehr. Ich freue mich, wie rasch der amerikanische Präsident bereits am zweiten Tag seiner Amtsführung diesen Prozess eingeleitet hat, und er sendet ja mit Herrn Mitchell einen Mann, den ich sehr gut kenne. Ich war ja auch einer der drei Mitverfasser des Mitchell-Reports im Jahr 2001, den wir da gemeinsam verfasst hatten.

    Und ich kann Ihnen sagen, das ist ein Mann von großer Lauterkeit, von großer Entschlussfreude. Und ich freue mich sehr, dass am zweiten Tag seiner Präsidentschaft Präsident Obama bereits erklärt hat, gestern erklärt hat, dass er diesen Herrn Mitchell als seinen Sondergesandten für diese Region erkoren hat. Das ist eine sehr gute Nachricht.

    Nehmen Sie das zusammen mit dem Umstand, dass die EU ebenfalls sehr entschlossen engagiert ist. Wenn man das zusammen sieht, ja, ich glaube, es wäre noch etwas unbedarft zu sagen, Friede kehrt jetzt ein. Denn das ist ja eine Jahrhundertaufgabe. Aber ich hoffe sehr, dass wir eine Dynamik entfachen können, eine positive Dynamik, sodass wir dann nicht Jahre um Jahre warten müssen, bis endlich Friede einkehrt.

    Dobovisek: Was bedeuten Ihrer Meinung nach die beiden Begriffe "active and aggressive", die Obama benutzt hat?

    Solana: Ich glaube, diese weiten Worte sprechen für sich, wenn man englisch kann. Active, also aktiv, bedeutet, dass man in jedem Augenblick daran arbeitet, so hat er das gestern gesagt. Aggressive, also das bedeutet ja wohl Entschlossenheit, das bedeutet, man verliert jetzt keine Zeit mehr und redet noch herum, sondern man packt die Sachen an. Das bedeuten in diesem Zusammenhang diese beiden Worte.

    Dobovisek: Während der vergangenen Wochen haben wir viele Friedensgespräche beobachten können, fast jeden Tag kam eine andere hochrangige Delegation nach Jerusalem, darunter auch einige Europäer. Hat die Europäische Union ihre eigene Position geschwächt, indem sie mit mehreren Stimmen sang und nicht mit einer Stimme sprach?

    Solana: Ich glaube, die Europäische Union hat bei dieser dramatischen Krise mit einer Stimme gesprochen. Diese einheitliche Meinung wurde durch viele Menschen ausgedrückt. Aber der Inhalt, die Botschaft, die Kraft unserer Positionen, die Eindeutigkeit unserer Positionen ist durch verschiedene Menschen ausgedrückt worden. Das schwächt uns nicht, im Gegenteil, das stärkt uns. Wir haben keineswegs Unterschiedliches verkündet.

    Jetzt haben unsere Stimmen jeweils in dieselbe Richtung gesprochen, im Gegensatz zur Vergangenheit. Das heißt, wir streben nun einheitlich einen Waffenstillstand an. Zweitens, der Wiederaufbau muss sofort anfangen. Drittens, wir streben eindeutig innerhalb der Palästinenser einen möglichst breiten Konsens an. Und die Grenzen müssen wieder geöffnet werden, nicht nur im herkömmlichen Sinne, sondern auch für die Zwecke des Wiederaufbaus von Schulen, von Krankenhäusern. Man braucht Zement, man braucht Werkzeuge, um das zu bewirken.

    Aus diesem Grunde haben wir gesagt, wir sind bereit, wieder vor Ort mitzuarbeiten, so wie wir das auch 2004, 2005 gemacht haben in Rafah. Wir geißeln uns ja allzu leicht selbst. Wir müssen schon auch klar sagen, die Vereinbarung aus dem Dezember 2005, die wurde ja nur in dem Teil umgesetzt, der Rafah betraf, den Grenzübergangspunkt. Und das ist geschehen, das hat geklappt, weil wir dort vor Ort waren. Und darauf können wir auch stolz sein. Und wir sollten das auch weiterführen. Natürlich, die Situation ist jetzt sehr schwierig, nichts lässt sich in 24 Stunden so ohne Weiteres beilegen, aber wir hoffen eben, von Beginn des Jahres 2009 an, diese Dynamik zu entwickeln, und das wird sich auch lohnen.

    Dobovisek: Bedeutet das, dass Sie sich eine EU-Beobachter-Mission an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen wünschen?

    Solana: Ja, ich glaube, wir haben das so angeboten, wenn die Parteien dem zustimmen. Alles ist dafür bereit. Wir sind willens, sofort dort wieder vor Ort aufzutreten, um diese Vereinbarung umsetzen.

    Dobovisek: Aber wenn drei Wochen intensiver Angriffe die Schmuggler nicht stoppen konnten, wie soll dann eine Beobachter-Mission Erfolg haben?

    Solana: Lassen Sie mich eines klarstellen: Diese Mission, die wir EUBAM nennen, also diese Mission am Grenzübergangspunkt Rafah, die bedeutet nur, dass wir alle Bewegungen, die am Boden verlaufen, überwachen. Es bedeutet nicht, dass wir auch unterirdisch tätig werden. Die Überwachung dieser Tunnel ist durch andere Missionen zu sichern, nicht durch uns.

    Dobovisek: Aber Israel hat bereits angekündigt, dass es die Grenze nicht vollständig öffnen werde, solange die Hamas regiert und weiter geschmuggelt wird. Zeigt Israel genug Kooperationswillen?

    Solana: Ich glaube nicht, dass sich das so sagen lässt. Ich habe jedenfalls diese Aussagen nicht so verstanden, wie ich das von den Kandidaten so hörte in den bevorstehenden Wahlen. Wenn ich aber wirklich glauben sollte, dass die humanitäre Hilfe nicht ankäme, dass der Wiederaufbau nicht starten kann, wenn das jemand so sagen würde, dann würde ich dem mit voller Überzeugung widersprechen.

    Dobovisek: Sie haben den Wiederaufbau angesprochen, Herr Solana. Experten erkunden gerade die Schäden in Gaza und soweit wir im Moment wissen, wurden Infrastruktur und Industrie weitgehend zerstört. Wie kann die EU Wiederaufbau-Hilfen ohne eine Zusammenarbeit mit der Hamas zusichern?

    Solana: Nun, Sie wissen ja, wir müssen mit einer Behörde in Gaza zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass wir kurzfristig dann eine Oberbehörde haben oder eine Allparteienregierung, die konsensgestützt ist und alle Palästinenser umfasst. Das wäre dann ihr Ansprechpartner für die internationalen Organisationen für die EU und auch für die UNO, mit dem man dann zusammenarbeitet beim Wiederaufbau von Gaza. Gestern sprach ich mit Präsident Abbas, gestern sprach ich mit Premierminister Fajad, dass wir alle in dieser Richtung arbeiten.

    Dobovisek: Eine Zusammenarbeit mit der Hamas ist also notwendig?

    Solana: Nein, ich glaube, wir brauchen eine Zusammenarbeit mit einer Regierung, die wirklich für das palästinensische Volk spricht, natürlich diese Behörde, diese Regierungsbehörde, eine Einheitsregierung, eine Konsensregierung oder wie immer Sie sie auch nennen wollen, eine Regierung jedenfalls, die die Verantwortung übernimmt auf eine konstruktive Art, um den Wiederaufbau von Gaza zu stützen, mit der Hilfe der internationalen Gemeinschaft.

    Dobovisek: Aber solange die Hamas in Regierungsverantwortung ist, wird Israel das niemals akzeptieren.

    Solana: Nun, ich habe Ihnen doch schon gesagt, entlang welcher Grundlinien wir jetzt arbeiten wollen, nämlich Aufbau einer konsensgestützten Regierung unter Führung von Präsident Abbas, bis die Wahlen zu einem neuen Präsidenten stattfinden. Diese Regierung wird verpflichtet sein, mit den internationalen Organisationen am Wiederaufbau zu arbeiten.

    Dann werden auch Wahlen stattfinden. Ich weiß nicht, wann die stattfinden werden. Und die Menschen müssen sich auf die wichtigste Phase hinbewegen, und die wichtigste Phase ist die politische Phase, welche dann letztlich zu einer Beilegung dieses Dramas, dieser Tragödie führen wird, die schon viel zu lange dauert.

    Dobovisek: EU-Kommissar Louis Michel und auch der UNO-Menschenrechts-Experte Richard Falk werfen Israel Kriegsverbrechen in Gaza vor. Was halten Sie von diesen Vorwürfen?

    Solana: Nun, es steht mir nicht zu und niemandem steht es zu, hier jetzt Anklagen zu erheben. Hier werden Untersuchungen stattfinden unter dem Schutze der internationalen Gemeinschaft. Ich möchte ja Teil der Lösung sein, ich möchte einen Ausweg finden helfen aus dieser dramatischen Situation. Ich möchte jetzt hier meine Fähigkeiten, meine Worte zur Verfügung stellen, um diese Probleme zu lösen.

    Die Probleme sind eben jetzt die Öffnung der Grenzen, humanitäre Hilfe und auch, den Konsens innerhalb der palästinensischen Bevölkerung herzustellen, und auch diese wichtigen Schritte, die gestern von der US-Regierung ergriffen worden sind, mitzugehen. Je eher das erfolgt, desto besser. Und das Ende ist dann auch das Ende der Besatzung.

    Dobovisek: Wird die Europäische Union auf eine Untersuchung bestehen?

    Solana: Ich glaube, eine solche Untersuchung kann niemand wirklich ablehnen. Niemand wird die Untersuchungen behindern. Aber was wichtig ist, das ist natürlich, die Wahrheit herauszufinden. Wir dürfen aber nicht das Wichtigste vergessen, und das Wichtigste ist jetzt, sich um die Leute zu kümmern, die keine Wohnung haben, die keine Nahrung haben, die keine Gesundheitsversorgung haben. Danach muss der politische Prozess einsetzen, sobald es nur geht.