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Die große Flucht

Müntefering will gehen, Stoiber gar nicht erst kommen, die große Koalition steht in Frage. Die Situation rund um die Bemühungen, eine neue Regierung zu etablieren, stellt sich immer wieder neu dar. Nur soviel steht einigermaßen fest zur Stunde: Es gab Wahlen, aber die Gewählten kommen abhanden.

Von Arno Orzessek |
    Spätestens seit gestern Nachmittag muss man sich fragen, wann der politische Prozess in Berlin in blanke Frivolität umschlägt und die demokratischen Verfahren im Schleudern des Personalkarussells unter die Räder kommen.

    Wir, das sind in der Geschichte der Bundesrepublik die ungewollten Kohl-Kinder, haben Gerhard Schröders Sieg 1998 nicht zuletzt darum begrüßt, weil wir während der letzten Regierungsjahre Helmut Kohls unter monarchistischer Saturiertheit der Verhältnisse litten.

    Mit Gerhard Schröder übernahm ein – in guten Momenten – flexibler und liberaler Verträglichkeitsmensch die Macht, der indessen in schlechten Momenten viel zu oft mit Rücktritt von der Macht drohte und den letzten Respekt vor seinem Amt dabei manchmal vermissen ließ.

    Es schien eine List der Vernunft zu sein – falls es so etwas gibt –, dass das jüngste Wahlergebnis die große Koalition nahe legte, also ein politisches Zweckbündnis, in dem persönliche und parteipolitische Eitelkeiten stark diszipliniert werden.

    Für ein paar Tage, aber ach, ein paar Tage nur, sah es gut aus. Angela Merkel durfte man an einem gemischten Kabinettstisch naturwissenschaftliche Sachlichkeit zutrauen. Franz Müntefering, ein Mann, der das Ethos der Pflicht kennt, schien der kongeniale Partner und Vizekanzler einer trockenen Sacharbeiter-Koalition zu werden, weil er in seiner Partei noch fester als Merkel verankert war. Dass Müntefering überdies einen Draht zum profilneurotischen Edmund Stoiber entwickelt hatte – umso besser.

    Aber nun geht’s dahin und ein frappierendes Muster zeichnet sich ab: Die Macht wird vakant, weil die Mächtigen unpässlich werden. Wo neue Führung sich anbahnen sollte, herrscht Abgang und Flucht.

    Franz Müntefering stolperte gestern über ein horrendes strategisches Misskalkül und gab als Parteichef vorschnell auf, mit unabsehbaren Folgen für die angestrebte Koalition. Seit heute morgen wissen wir, dass Edmund Stoiber auf seiner alten Münchener Querschießer- und Jammerlappen-Position zu verharren gedenkt, statt nach Berlin in den Sturm zu ziehen. Seit gerade eben, dass Heidemarie Wieczorek-Zeul, die Andrea Nahles’ heikle Kandidatur unterstützt hatte, selbst nicht mehr als SPD-Partei-Vize antritt.

    Es setzt sich fort, was mit dem Wahlabend begann. Der erste Emigrant der Macht war Joschka Fischer, der nach den Hochrechnungen noch posaunte "Nun sind wie alle in der Pflicht" und am nächsten Tag die Freiheit wählte, um seine eigene Formulierung zu gebrauchen – die Freiheit, aufzugeben, als die Gloriole des Außenministers verloren war. Dann suchte die FDP sehr schnell die Deckung in der Opposition, in der sich die Linkspartei gleich von Anfang an eingerichtet hatte. Die Grünen folgten, weil Jamaika vorläufig nicht in Berlin liegt.

    Jetzt sitzen mit Schröder und Müntefering sozialdemokratische Auslaufmodelle in den Koalitionsverhandlungen und mit Stoiber sozusagen ein Berliner-Republik-Flüchtling. Man muss es der CDU mittlerweile danken, dass sie die Aufarbeitung des miesen Wahlergebnisses auf die Zeit nach der Regierungsbildung verschoben hat und eine gewisser Verlässlichkeit bietet – trotz der stolzen Riege möglicher Königsmörder.

    Wir, die ungewollten Kohl-Kinder, wünschen uns beileibe keine Kohlschen Verhältnisse zurück. Doch politisches Ausbüchsen ist auch keine Alternative zum Aussitzen, und die Lust daran, dass die Ereignisse alle Stunde einen Riesenruck machen können und die Zeitungen zu einen rührend verspäteten Medium werden, diese Lust verschafft keine Befriedigung mehr.

    Augenblicklich ist Regierungsbildung wichtiger als Parteierneuerung, wie man den Verlust des Spitzenpersonals natürlich auch deklarieren kann. Und erst recht, wenn diese Erneuerung sich als beliebiges Ränkespiel und Köpfe-Rollen inszeniert – schon zweifelt ja Andrea Nahles, ob sie auf dem kommenden Parteitag tatsächlich zur SPD-Generalsekretärin kandidieren soll.

    Der mögliche Machtwechsel ist eine vornehme Einrichtung in der Demokratie und ihrer Parteien. Nicht weniger aber ist es die Machtausübung durch die Gewählten. Es ist nicht zuviel verlangt, dass sie ihre Arbeit erledigen, auch wenn es weh tut.