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Die großen Geheimnisse der kleinen Knöchelchen

Paläoanthropologie.- Im August hatten Wissenschaftler in Äthiopien 3,4 Millionen Jahre alte Tierknochen entdeckt, die Schnittspuren aufwiesen - für sie ein Beweis dafür, dass unsere Vorfahren 800.000 Jahre früher als bislang gedacht Tiere schlachteten. Im Fachblatt "PNAS" kommen Forscher nun zu einem anderen Ergebnis.

Wissenschaftsjournalist Michael Stang im Gespräch mit Monika Seynsche |
    Monika Seynsche: Im August sorgte eine Studie im Fachmagazin "Nature" für Aufregung. Darin beschrieben die Autoren nämlich Schnittspuren auf 3,4 Millionen Jahre alten Tierknochen. Und dann erklärten sie, damit sei der Beweis gefunden, dass unsere Vorfahren damals schon, also 800.000 Jahre früher als bislang angenommen, Werkzeug benutzt haben, um damit in diesem Fall Tiere zu schlachten und zu zerlegen. Heute aber meldet sich ein anderes Autorenteam in der Fachzeitschrift "PNAS", und das sagt, das stimmt überhaupt gar nicht, was damals in Nature publiziert wurde. Unser auf alte Knochen spezialisierte Autor Michael Stang ist jetzt im Studio. Herr Stang, was soll das denn dann sein, wenn es keine Schnittspuren von Menschen sind?

    Michael Stang: Die Autoren, federführend von der Universität Madrid, sagen, es muss etwas anders gewesen sein. Und zwar das Trampeln von Tieren beziehungsweise geologische Prozesse. Und sie sagen, die Spuren sind so typisch, was man auch aus anderen Sachen kennt, das können überhaupt keine Schnittspuren sein. Zudem wäre es erstaunlich, wenn man endlich welche finden würde. Denn Kollegen haben schon seit Jahrzehnten immer gesucht und nie welche gefunden.

    Seynsche: Wie haben die das denn gemacht? Also was haben die jetzt mit den Knochen gemacht, um zu anderen Aussagen zu kommen?

    Stang: Sie haben sich erstmal die publizierten Funden angeguckt. Dabei handelt es sich einmal um einen Oberschenkelknochen von einer Ziege um eine Rippe von einem Rind, alles 3,4 Millionen Jahre alt, und haben einfach gesehen, wie sehen diese Spuren denn aus? Und das sind wirklich V-förmige Einritzungen, also Kratzspuren. Ob es jetzt Schnittspuren sind, war dann noch ergebnisoffen, dahingestellt. Und sie einfach gesagt, naja, gucken wir mal, wie kann so etwas denn entstanden sein? Und sie haben dann, wie es sich für experimentelle Archäologen gehört, sich einfach eine kleine Versuchsebene gebaut. Sie haben Sand hingeschüttet, sie haben frische Knochen genommen von verschiedenen Tieren, sie auf den Boden gelegt und haben überlegt, was für Drücke könnten da überhaupt entstanden sein? Trampelnde Tiere, irgendwelche Gnus, die auf den Knochen der toten Tiere rumgetrampelt sind. Das haben sie teilweise selber gemacht, sich auch Grasbüschel an die Füße gemacht, um das zu simulieren, und haben gesehen: Wenn man mit bestimmten Drücken, mindestens zwei Minuten drüber läuft, können tatsächlich solche Spuren entstehen. Eine alternative Erklärung gibt es von Tim White, das ist der Entdecker von Ardipithecus ramidus, der letztes Jahr ja auch für Furore sorgte. Und er verweist auf eine andere Studie. Er war jetzt auch bei diesem Fachblatt in "PNAS", die Studie, die heute publiziert wurde, beratend dabei und er geht stark von Krokodilbissen aus, das heißt, wenn Krokodile sich ein Tier packen, reinbeißen, dreht es sich dann um 180 Grad und dadurch entstehen halt auch genau solche Schnittspuren. Und da in dem Gebiet in Äthiopien auch ganz viele Krokodilfossilien gefunden wurden, die die Autoren in der Nature-Studie aber nicht erwähnen, könnte es also auch sein, dass diese Spuren von Krokodilen herrühren.

    Seynsche: Sprich, diesen Ergebnissen zufolge hat der Mensch überhaupt gar nichts damit zu tun und vor 3,4 Millionen Jahren auch noch gar keine Werkzeuge benutzt?

    Stang: Genau so ist es. Wenn man der Argumentation der Autoren von heute folgt. Man muss auch sagen, zu dieser Zeit existierte unsere Gattung homo noch gar nicht. Die einzigen Menschen, die damals in diesem Gebiet in Äthiopien lebten, war Australopithecus afarensis, zu der aus diese berühmte Lucy gehört - ein einen Meter großes Wesen, schimpansenähnlich, zwar schon ein direkter Vorfahre von unsere Gattung homo, aber halt noch nicht das, was sehr viele als menschenartig wirklich ansehen. Aufrechter Gang war schon gut entwickelt, aber das Gehirn, groß wie bei dem eines Schimpansen und die Forscher heute sagen, es spricht überhaupt nichts dafür. Jahrzehntelang wurde in diesem Gebiet gesucht. Auch Donald Johanson, der Entdecker von Lucy, hat wirklich versucht, Werkzeuge zu finden, die man damit zusammenbringen kann. Aber es bleibt dabei: Die ältesten Werkzeuge sind 2,5 Millionen Jahre alt, auch in Äthiopien gefunden, aber da gibt es richtige Faustkeile, wo man ein Werkzeug tatsächlich beweisen kann.

    Seynsche: Was sagen denn die Autoren, die im August gesagt haben, das sind Werkzeuge, jetzt zu diesen neuen Ergebnissen?

    Stang: Sie erkennen die neuen Daten nicht an. Sie sagen, das ist genauso Spekulation wie unsere Vermutung und das ist halt eine Kontroverse, die es in der Wissenschaft immer wieder gibt, und sie sagen, wir bleiben bei unserer Aussage. Es gibt keinen Grund, hier irgendetwas zu revidieren. Und sie gehen weiter davon aus, dass die ältesten Werkzeuge tatsächlich schon vor 3,39 Millionen Jahren in Äthiopien existierten und auch benutzt wurden.

    Seynsche: Wie kommt es denn, dass so eine Versteinerung, ein einziger Knochen so unterschiedlich interpretiert werden kann?

    Stang: Das ist ein altes Problem in der Paläoanthropologie: Man hat einfach nur sehr wenige Daten, sehr wenige Beweise. Aus denen muss man etwas konstruieren, eine Hypothese erstellen, die dann diskutiert werden kann. Wenn man sich das mal bei menschlichen Fossilien anschaut: Es gibt hochgerechnet nur alle 100 Generationen ein kleines Knöchelchen eines Menschen, aus dem dann Forscher den Stammbaum der Menschheit rekonstruieren, also die vergangenen sieben Millionen Jahr. Und wenn man sieht, was da an Daten vorliegt, das ist eine Rechnung mit sehr vielen Unbekannten, aber es muss eine Hypothese erstellt werden, um dieses Puzzle zu vervollständigen. Man hat nur sehr wenige Puzzleteile, um bei dem Bild zu bleiben. Das hat natürlich sehr viel Möglichkeiten, dass man etwas in eine falsche Richtung interpretiert. Aber diese Hypothesen müssen erstellt werden, damit sie diskutiert werden können. Und Diskussionen, die sehr konträr sind, sind einfach die Essenz der Wissenschaft und das gehört zu diesem ganzen Spiel in der Wissenschaft dazu.

    Seynsche: Das klingt aber ein bisschen nach selbsterfüllender Prophezeiung, oder? Wenn ich zuerst eine Hypothese aufstelle und dann auch zufällig das finde, was ich eigentlich gedacht habe, das ich finde.

    Stang: Ja, man muss auch sagen, die Forscher gehen natürlich, wenn sie in so ein Gebiet gehen und nach Knochen suchen. Sie wissen natürlich was sie finden wollen. Und sie sehen in erster Linie das, was sie auch wirklich wollen. Und das kann man auf der einen Seite natürlich als Problem sehen, wie es jetzt hier ist, dass man einen Fund direkt in die eigene Hypothese überträgt, man kann aber auf der anderen Seite sagen, es ist auch gut, dass diese Sachen existieren. Denn man weiß wirklich, nach was man sucht. Und wenn man in diesem Gebiet ist - diese kleinen Knöchelchen, die man irgendwo sieht, die sind so divers und man muss genau wissen, was man überhaupt sucht und das sind wirklich alles Experten und kein anderer, der nicht in diesem Gebiet ein Experte ist, kann da überhaupt etwas finden. Aber so ist Wissenschaft nun mal: Es ist spannend und wenn man ein kleines Knöchelchen hat, dann gibt's auch verschiedene Meinungen dazu.