Frank Capellan: Andrea Nahles, sind Sie noch so ein kleines bisschen verärgert – sauer auf Ihren Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel?
Andrea Nahles: Wieso?
Capellan: Wir hatten schon den Eindruck, dass er Sie im Verfahren gegen Thilo Sarrazin – dem Parteiausschlussverfahren – so ein bisschen hat hängen lassen.
Nahles: Ich habe mich immer gut unterstützt gefühlt.
Capellan: Sie waren doch in der Angelegenheit über Ostern dann alleine, Sigmar Gabriel war im Osterurlaub. Und wie das viele Kommentatoren gedeutet haben, hat er sich ein wenig distanziert. Das hatte so den Anschein, als wollte er Ihnen die Schuld für das Scheitern dieses Verfahrens in die Schuhe schieben.
Nahles: Erst einmal gönne ich ihm auch ein bisschen Urlaub mal. Und zweitens war klar, dass ich die Verfahrensbevollmächtigte bin, das heißt auch, die Verantwortung dafür trage, wie dort am Ende dann entschieden wurde. Ich bin zwar mehr oder weniger, wenn man das mal mit einem Zivilgericht vergleicht, Staatsanwältin gewesen, nicht die Richterin. Aber ich nehme das schon auf meine Kappe, dass wir dann angesichts des Verlaufs des Schiedsverfahrens diese Entscheidung getroffen haben. Ich akzeptiere, dass er sich mit seiner Erklärung, die er in diesem Schiedsverfahren abgegeben hat, wieder auf die SPD auch zubewegt hat.
Capellan: Aber was hat sich denn da verändert in der Substanz durch diese Erklärung?
Nahles: Na ja, Thilo Sarrazin hat sich sehr oft immer als Opfer dargestellt – die SPD, die ihn nicht versteht, nicht richtig liest, ihn im Grunde genommen ausspucken will. Und er hat sich sehr stark so stilisiert, als ob er das Unschuldslämmchen ist, sage ich mal. Und das ist er nicht . . .
Capellan: . . . aber er hat doch nichts in der Sache zurückgenommen.
Nahles: . . . doch, das hat er wohl.
Capellan: . . . die Vererbbarkeit von Intelligenz, das war ja ein großes Problem für die Partei, das hat Sigmar Gabriel dazu bewogen, dieses Ausschlussverfahren in Gang zu setzen. Das hat er nicht zurückgenommen.
Nahles: Nicht die Vererbbarkeit von Intelligenz war das Problem. Es ist, glaube ich, nicht bestritten, dass es teilweise auch so stimmt, sondern . . .
Capellan: . . . aber er hat gesagt, zu 50 bis 80 Prozent, also enorm viel.
Nahles: . . . ja, über solche Zahlen streiten wir gar nicht, sondern es geht um die Frage, ob man wirklich daraus die Konsequenz zieht, dass sich der Staat im Sinne der Herausbildung einer Elite in die Geburtensteuerung einmischt.
Zum Beispiel schlug ja nun Thilo Sarrazin in seinem Buch da vor, dass Akademikerinnen unter 30 eine Prämie bekommen, wenn sie ein Kind kriegen. Das war also völlig abwegig und ist mit den Grundsätzen der SPD überhaupt nicht vereinbar. Und das hat er zurückgenommen, und darauf haben wir auch bestanden.
Aber diese Erklärung ist von der Schiedskommission vorgelegt worden, sie ist ein Kompromiss. Sie ist nicht mehr für mich, als dass sie ein Stück weit wieder eine Situation geschaffen hat, wo eine Übereinstimmung wenigstens mit den Grundregeln einer Partei da war. Ich hoffe, dass sich Thilo Sarrazin an diese Spielregeln in Zukunft hält. Die Vergangenheit lässt da durchaus gewisse Zweifel zeigen.
Capellan: Hatten Sie möglicherweise denn auch ein bisschen Angst vor den Wahlen - die Wahl in Berlin zum Beispiel, sein Heimatverband? Da weiß man ja, dass die Hälfte der SPD-Anhänger – so gibt es Umfragen – doch hinter dem stehen, was Thilo Sarrazin sagt.
Nahles: Ja, und die andere Hälfte nicht. Das ist ja genau der Punkt. Wissen Sie, da ist keine billige Taktik möglich in so einer Situation. Du weißt ganz genau: Egal, wie Du da raus kommst aus dieser Sache – es wird helle Empörung geben, entweder von der einen oder der anderen Seite. Das ist nicht Taktik, ja . . .
Capellan: . . . also hätten Sie sich das Ganze eigentlich besser sparen können. Sie waren immer eine Skeptikerin eines Ausschlussverfahrens.
Nahles: Sagen wir mal so: Ich möchte zunächst einmal sagen, ich finde es richtig, dass die SPD und auch andere Parteien in Deutschland hohe Hürden haben. Da kann nicht jemand einfach rausgeworfen werden. Selbst jemand, der mir wirklich vollkommen fremd ist – und Thilo Sarrazin ist Mitglied meiner Partei, aber ist nicht mein Genosse, da möchte ich mich auch klar distanzieren. Aber trotzdem hat er ein faires Verfahren verdient und er bekommt auch eins.
Und in diesem Verfahren hat sich die Lage so entwickelt, dass die Schiedskommission sich auf eine gütliche Einigung hin orientiert hat. So. Das ist eine schwierige Lage, aber es wäre beim Freispruch, bei einer Rüge oder bei einem Rausschmiss genau so schwierig gewesen. Trotzdem verteidige ich, dass wir als Parteivorstand das eingeleitet haben, dieses Verfahren, weil Sie sich vorstellen müssen: Damals kochte es hoch, er hatte was von "jüdischen Genen" erzählt. Dann hat die Bundesbank eben auch einen Deal mit dem im Grunde genommen gemacht, er ist nicht mehr Bundesbänker gewesen am Ende dieses Prozesses. . .
Capellan: . . . und da sah sich Sigmar Gabriel getrieben und meinte, er müsste auch etwas tun.
Nahles: Nein, es war notwendig, dass wir von Seiten der SPD-Führung klarmachen, dass er sich mit seinen Thesen außerhalb des Konsenses unserer Partei bewegt. Dass man da unterliegen kann, war uns damals schon klar. Und so weit ist es gar nicht mal gekommen, weil sich Thilo Sarrazin doch mit dieser Erklärung auf uns zu bewegt hat . . .
Capellan: . . . eine Erklärung, die ihm geschrieben worden ist.
Nahles: . . . nein , nein, nein.
Capellan: . . . die er nicht selber verfasst hat.
Nahles: Moment. Noch einmal: Diese Erklärung, die er unterzeichnet hat, ist von niemand anders geschrieben worden, als von der Kreis-Schiedskommission in einer Auszeit dieses Verfahrens. Das war keine vorbereitete Erklärung, da gab es keinen Kuhhandel. . .
Capellan: . . . ist das Thema jetzt vom Tisch?
Nahles: So langsam langt es mir auch mit dem Thema. Also ich muss es ganz ehrlich sagen . . .
Capellan: . . . das merken wir auch, aber in der letzten Vorstandssitzung hat es noch eine große Rolle gespielt . . .
Nahles: . . . ja natürlich, das war ja die erste . . .
Capellan: . . . es gibt ja doch Unmut, es gibt auch Parteiaustritte.
Nahles: Ja, es gibt aber Parteiaustritte in sehr geringem Umfang. Trotzdem tut mir jeder, der austritt, leid, weil ich glaube, dass so viel Einfluss man einem Thilo Sarrazin nicht geben sollte, dass er das nicht wert ist.
Capellan: Sie haben ja auch einige Migranten verprellt mit dieser Entscheidung. Jetzt gibt es eine Migrantenquote, also 15 Prozent der Mitglieder der Parteiführung in der SPD sollen einen Migrationshintergrund haben. Eine Reaktion auf Sarrazin?
Nahles: Sagen wir mal: Es hat der Sache ein wenig Beschleunigung gegeben. Aber die Sache war schon sein Monaten hier intern diskutiert - unter anderem eine Forderung des von Sigmar Gabriel und mir gegründeten "Arbeitskreises für Migrantinnen und Migranten in der SPD".
Als wir 2009 die schwere Wahlniederlage hatten, haben wir uns auch angeguckt, dass wir zu wenig gemacht haben im Bereich der Migrationspolitik, und sind das sofort angegangen. Der Vorsitzende dieses Arbeitskreises Kenan Kolat hat dann diese Quote gefordert – schon vor Wochen. Da war das mit Sarrazin überhaupt noch nicht in der Diskussion.
Und wir haben jetzt gesagt: Jawohl, wir wollen deutlich machen, dass Thilo Sarrazin nicht die Integrationspolitik der SPD bestimmt. Und das haben wir versucht, durch diese Quote auch mit zu unterstreichen.
Capellan: Und er hat sich sofort wieder zu Wort gemeldet und hat gesagt: "Je migrantischer ein Mitglied des Parteivorstandes ist, desto weniger objektiv kann es die Probleme der Integrationspolitik angehen." Wie sehen Sie denn so etwas?
Nahles: Thilo Sarrazins Äußerungen zu dieser Frage sind mir egal, sie sind dem SPD-Parteivorstand egal und sie sind auch nicht relevant für das, was wir tun werden. Und ich glaube, man muss sich auch abgewöhnen, jede Provokation von ihm dann auch entsprechend zu kommentieren, weil – davon lebt er ja offensichtlich, dass alle sich aufregen.
Capellan: Aber Sie hatten gehofft, er würde solche Provokationen jetzt unterlassen?
Nahles: Nein, wenn Sie mich nach meinen Hoffnungen fragen: Ich bin nicht Illusionistin. Ich denke aber, er weiß auch, wo seine Grenzen sind. Ich glaube auch, dass Leute, die ihm Sympathie entgegen bringen in der SPD, dauerhaftes Verletzen der Ordnung und der Spielregeln in der SPD nicht akzeptieren werden.
Capellan: Es gab, so war zu hören, auch über diese Quote im Vorstand eine muntere Debatte. Ist die wirklich durchdacht oder wieder mal, wie Kritiker sagen, ein Schuss aus der Hüfte von Sigmar Gabriel?
Nahles: Ich sage Ihnen ganz offen, das ist eine Sache, die auch weh tut, und deswegen sind nicht alle begeistert, weil: Natürlich, wenn wir sagen, wir wollen da fünf, sechs Migranten im Parteivorstand – das hängt jetzt von der Größe des Parteivorstandes ab –, dann ist das ja gleichbedeutend mit der Tatsache, dass Landesverbände natürlich nicht vielleicht die Personen, die sie sonst vielleicht entsandt hätten, entsenden können. Das ist natürlich mit Konflikten behaftet, es geht ja da auch. . .
Capellan: . . . und Landesverbände im Osten haben gar nicht das Potenzial.
Nahles: . . . genau, die Landesverbände im Osten werden aber – da gibt es auch eine faire Regel bei uns – im Parteivorstand der SPD auch solidarisch mit unterstützt von anderen Westverbänden. Also es ist ja nicht so, dass wir da nicht solidarisch sind, sondern die wissen, dass es da Unterschiede gibt. Deswegen haben wir uns eine Selbstverpflichtung auferlegt für die Bundesebene und haben nicht gesagt: Jeder Unterbezirk in Sachsen-Anhalt muss jetzt 15 Prozent Migranten haben.
Capellan: Woran liegt das, dass das so ein Thema ist für die SPD, dass man da solche Defizite hat, dass man Migranten in die Parteiarbeit holt? Die Partei galt immer mal auch als die Partei der Gastarbeiter.
Nahles: Ja, wir haben sehr viele aktive Migrantinnen und Migranten, aber wir haben versäumt in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, wirklich durch aktive Förderung die Sichtbarkeit dieser Aktiven auf der Bundesebene ausreichend zu gestalten. Und das müssen wir jetzt nachholen.
Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Frau Nahles, wie kann es gelingen, die SPD aus dem 20-Prozent-Tal heraus zu holen? In Rheinland-Pfalz ist es gut gegangen, in Baden-Württemberg allerdings sind Sie hinter den Grünen gelandet mit dem historisch schlechtesten Ergebnis.
Nahles: Also, zunächst ist die Migrantenquote etwas, was auch Wähler an uns bindet. Wir haben sehr viel Unterstützung bei Migrantinnen und Migranten, und wir sind eher in der Gefahr gewesen in den letzten Jahren, sie zu verlieren, weil wir nicht genug gemacht haben auf der Bundesebene.
Capellan: . . . aber das ist nur ein Mosaiksteinchen.
Nahles: . . . das ist nur ein Mosaiksteinchen. Der zweite Punkt ist, dass ich mal darauf verweise, dass wir 2009 wirklich am Tiefpunkt in der Nachkriegsgeschichte der SPD waren – mit 23 Prozent. Wir haben seither in Nordrhein-Westfalen eine CDU-Regierung abgelöst mit Hannelore Kraft. Wir haben in Hamburg mit Olaf Scholz eine absolute Mehrheit errungen. Wir haben in Rheinland-Pfalz, in Sachsen-Anhalt die Regierungsbeteiligung – in Rheinland-Pfalz auch mit dem Ministerpräsidenten – verteidigt. Wir werden ganz gewiss Bremen gewinnen und haben sehr gute Aussichten: In diesem Jahr wird noch in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin gewählt.
Das heißt, ich will die Sache nicht schön reden, aber ich bin auch ein Stück weit selbstbewusst, dass unsere Erneuerung auch über die Länder teilweise läuft, dass wir dadurch auch mehr Einfluss im Bundesrat gewonnen haben. Das nützt uns. Wir sind aber, was das Rückgewinnen von Vertrauen angeht – verlorenes Vertrauen –, noch nicht an dem Punkt, wo wir sein müssten beziehungsweise wo wir spätestens 2013 sein müssen.
Capellan: Müssen Sie sich mehr mit der CDU beschäftigen? Denn die hat nicht im Verhältnis so sehr Federn lassen müssen wie die SPD.
Nahles: Ja, überall da, wo wir den Ministerpräsidenten stellen, haben wir die CDU geschlagen – und zwar um Platz eins: Wem trauen die Leute die Regierung am ehesten zu? Und das ist auch die Stoßrichtung, die ich empfehle für die Bundestagswahl.
Capellan: Wo kann die SPD mehr Stimmen holen – in der Mitte oder links?
Nahles: Wir haben immer nur Wahlen gewonnen, wenn es uns gelungen ist, beides miteinander zu verbinden. Eine Wahl, die nur mit dem Slogan "Innovation" angetreten worden wäre, um einen großen Wahlsieg der SPD von 98 zu zitieren, hätte nicht funktioniert. Es war Innovation und Gerechtigkeit. Oder . . .
Capellan: . . . ist Hamburg ein Beispiel dafür?
Nahles: Hamburg war gerecht, wirtschaftsnah und realistisch. Das war . . .
Capellan: . . . aber extrem wirtschaftsfreundlich, das Programm, das Olaf Scholz da in der Wahl gefahren hat.
Nahles: Er hat genau so gut gesagt: Wir brauchen 6000 neue Wohnungen, damit auch viele, die mit geringerem Einkommen hier überleben können. Also es gab keine einseitige Sache. Und das ist genau das, was ich meiner Partei insgesamt nicht empfehle, nicht "entweder oder", sondern "und". Also wirtschaftliche Vernunft, haushaltspolitische Verantwortung und Kampf gegen Leiharbeit und Lohndrückerei.
Capellan: Stehen Sie da möglicherweise vor einem Spagat? Ich nenne mal das Beispiel "Bürgerversicherung". Die ist jetzt abgeschwächt worden gegenüber den früheren Plänen, sie soll die Wohlhabenden doch schonen, auf der anderen Seite die abgeschwächte Rente mit 67, wo man den Eindruck hat, die SPD will die durch die Agenda-Politik Verprellten wieder zurückgewinnen. Also von allem ein bisschen?
Nahles: Nein, also ich glaube, bei der Bürgerversicherung, das sehen die Arbeitgeber aber ganz anders, von wegen abgeschwächt. Wir schaffen da die Beitragsbemessungsgrenze für die Arbeitgeber ab. Das ist mit Sicherheit ein ganz neuer Dreh in der ganzen Debatte und . . .
Capellan: Aber Sie wollten auch mal Miet- und Kapitaleinkünfte bei der Berechnung zugrunde legen, und das machen Sie jetzt nicht.
Nahles: Ja, das machen wir jetzt über eine Steuer. Wir dynamisieren den Steueranteil. Also, es wird eine Steuersäule stetig anwachsen nach unserem Modell, weil wir glauben, dass eine Verbeitragung von Mieten und Kapitaleinkünften schlicht und ergreifend zu bürokratisch ist.
Capellan: Wen trifft dieser Steueranteil?
Nahles: Den wollen wir aus der Zinsabgeltungssteuer gewinnen. Wir haben uns politisch dazu verpflichtet. Das ist auch mit unseren Steuerpolitikern besprochen, dass die Zinsabgeltungssteuer mit 25 Prozent zu niedrig angesetzt ist. Das sagt selbst Peer Steinbrück, der sie so eingeführt hat. Wir wollen sie also anheben, und die zusätzlichen Einnahmen sollen in die Gesundheit fließen. Das bedeutet aber, dass diejenigen, die hier getroffen werden, über hohe Kapitaleinkünfte verfügen. Und das scheint uns ein gerechter Weg zu sein.
Capellan: Also, Sie wollen Partei des kleinen Mannes weiterhin sein oder das liberale Bürgertum ansprechen. Oder beides?
Nahles: Wir wollen eine moderne Arbeitnehmermitte, die vielleicht selbstständig ist, die vielleicht auch gut verdient, aber die vielleicht auch zu wenig Zeit hat für ihre Familie, erreichen. Auf der anderen Seite aber auch Niedriglohnjobbern mit Mindestlohn und dem Verbot von sachgrundlosen Befristungen entgegenkommen. Also, ich denke, wenn es der SPD gelingt, ihre Kernthemen, wie Arbeit, für unterschiedliche Gruppen in unserer Gesellschaft attraktiv zu machen, dann ist das der Pfad, der uns stark machen wird. Und es geht wirklich darum, dass wir genau an diesen Stellen auch stärker Profil noch ausweisen. Und wir mussten viele verschiedene Themen aufarbeiten aus dieser Regierungszeit, weil da waren viele Wunden geschlagen. Das gebe ich auch zu.
Capellan: Wie wollen Sie in dem Kontext mit den Grünen umgehen, die ja jetzt vielfach vor der SPD liegen. Sie haben mal im vergangenen Jahr gesagt, es gibt bei uns immer noch ein bisschen Welpenschutz für die Grünen. Das sei wenig professionell. Wir erinnern uns an Sigmar Gabriel, der sich ein bisschen lustig gemacht hat über die Latte Macchiato trinkenden Grünen-Wähler. Das war so die Abteilung Attacke. Da ist man doch jetzt eher ein bisschen auf Kuschelkurs gegangen, oder sehe ich das falsch?
Nahles: Also, wir sollten gegenüber den Grünen auch eine gewisse Gelassenheit ausstrahlen, weil das sind ja nun bei aller Kritik noch immer unser Lieblingskoalitionspartner. Das Zweite, was ich sehe, ist, dass sie sozialpolitisch definitiv verbürgerlicht sind. Das interessiert sie teilweise überhaupt nicht. Ich bin auch informiert worden, wie die Koalitionsverhandlungen gelaufen sind in den Ländern, jetzt in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, das ist kein Kernthema für die.
Und wir sollten deswegen im guten Wettbewerb antreten, auch um die Frage wirtschaftliche Vernunft und soziale Balance. Da sind sie meiner Meinung nach deutlich schwächer aufgestellt als wir.
Capellan: Wie groß ist die Gefahr, dass sich die Grünen der Union zuwenden, wenn das Atom-Thema abgegrast ist?
Nahles: Da greife ich meinen Begriff mit dem Welpenschutz schon auf. Man sollte sich da keine Illusionen machen. Man muss sehen, die werden das ganz nüchtern entscheiden. Wenn es mit der SPD für Rot-Grün reicht, spricht sehr viel dafür, dass wir das machen aus dem einfachen Grund, weil die allergrößte Zahl der grünen Anhängerschaft und Wähler Rot-Grün wollen. Aber ich mache mir auch nichts vor. Also, wenn es mit uns nicht reicht, dann sind die wahrscheinlich auch absolut bereit, die Machtkarte da zu ziehen und Schwarz-Grün zu machen.
Capellan: Schauen Sie aus dem Grund möglicherweise dann auch wieder in Richtung FDP? Ist mit der "neuen" FDP wieder Staat zu machen in den Augen der SPD?
Nahles: Also, das wissen wir noch nicht. Wenn Herr Lindner was erzählt von "mitfühlendem Liberalismus", dann ist das so etwas ähnliches, wie ein "alter Knabe", also ein Widerspruch, aus meiner Sicht zumindest. Was wir von der FDP in den letzten Jahren gehört haben, war doch wirklich nichts anderes als blanke Lobbypolitik, Steuersenkungspolitik, die sie dann nicht mal eingelöst haben in der Regierung, - und damit große Wählertäuschung und vor allem große Wählerenttäuschung das Markenzeichen der FDP ist.
Von daher kann ich nur sagen, so inhaltlich, wie die FDP in den letzten Jahren unter Westerwelle aufgestellt war als eine Marktpartei und nicht als eine liberale Partei kann ich mir das nicht vorstellen. Ich sage aber, ich gucke mit Spannung darauf, was dort passiert. Ist es nur eine Rochade von Personen oder ist es mehr? Ist es auch ein inhaltlicher Neuaufbruch? Das würde, wenn es in Richtung echter freiheitlicher Ordnung oder wenn es in Richtung mehr Bürgerrechte geht, für uns sicherlich ein spannender Punkt sein.
Capellan: Sehen Sie das Kabinett Merkel durch die Regierungsverschiebung, durch die Umbildung im Kabinett in Bedrängnis?
Nahles: Ich glaube zumindest, dass der Eindruck, den sie sich aufgebaut hat, dass sie alles im Griff hat, definitiv gelitten hat. Und das zweite ist auch, dass in dieser Regierung Staatsämter wirklich wie so Versatzbausteinchen behandelt werden und dass man den Eindruck hat, dass hier der nötige Ernst auch fehlt. Und die Bürger wundern sich natürlich, dass da offensichtlich innerparteiliche Ränkespiele wichtiger sind als eine kluge Fachpolitik.
Und ich muss sagen, es macht insgesamt einen Eindruck, als wären wir hier in einer Bananenrepublik. Was da in den letzten Wochen gelaufen ist, von Guttenberg angefangen jetzt über Brüderle, und dann wird ein Posten geschaffen, im Auswärtigen muss die arme Frau Pieper jetzt nach Polen, damit die Frau Homburger nicht das Gesicht verliert – also ich muss ganz ehrlich sagen, was ist das hier eigentlich für ein Sauladen, diese Bundesregierung? Frau Merkel, die Oberopportunistin, Entschuldigung, die hat jetzt vor Monaten uns erklärt, die Laufzeiten der Atomkraftwerke müssten verlängert werden, das ist überhaupt kein Sicherheitsproblem, und jetzt sagt sie April, April, jetzt muss das alles genau anders gemacht werden.
Capellan: Ist die SPD dabei, beim Atomausstieg? Die Kanzlerin strebt einen breiten gesellschaftlichen Konsens an.
Nahles: Es gab in den letzten 15 Jahren einen breiten gesellschaftlichen Konsens, nämlich die Mehrheit der Deutschen wollte aus der Atomenergie aussteigen. Deswegen haben wir auch einen Atomausstieg verabredet in der rot-grünen Regierung im Konsens.
Capellan: Aber jetzt ist er so breit wie nie.
Nahles: Den Konsens hat sie aufgekündigt. Jetzt schmiedet sie einen neuen, um zu kaschieren, dass sie diejenige war, die den Konsens behindert hat. Aber okay, wir sind dabei. Wir wollen so schnell wie möglich aus der Atomenergie raus. Wir wollen aber, dass für dieses Hin und Her, vor allem diese Beschleunigung, am Ende nicht die Bürgerinnen und Bürger die Zeche zahlen, sondern dass die, die in den letzten Jahrzehnten auch gutes Geld verdient haben mit der Atomkraft, beteiligt werden.
Also, da muss man dann auch weiter über Brennelementesteuer reden zum Beispiel. Strompreise würden nämlich sonst steigen, wenn wir zum Beispiel, was dringend erforderlich ist, Netze ausbauen müssen, damit erneuerbare Energien von der Küste beispielsweise nach Baden-Württemberg und Bayern, wo wir die meisten Atomkraftwerke haben, geleitet werden können. Dann müssen Netze gebaut werden. Und die sollten bitte auch die Strombetreiber mitfinanzieren. Von daher - ja, wir wollen, aber mit Bedingungen.
Capellan: Bedarf es einer Ethikkommission, um diesen Ausstieg vorzubereiten?
Nahles: Nein.
Capellan: Und warum ist die SPD dann dabei, durch Klaus von Dohnanyi, Volker Hauff?
Nahles: Mit Verlaub, die SPD ist vertreten durch Einzelpersonen. Wir sitzen da nicht als Führung der SPD-Spitze, weder Fraktion noch Partei dabei. Es ist auch in Ordnung, dass sie dabei sind.
Capellan: Die Grünen haben sich ganz rausgehalten.
Nahles: Ja, das finde ich dann auch – wissen Sie, zum Beispiel der Michael Vassiliadis, das ist der IG BCE-Vorsitzende, der hat ganz viele Mitarbeiter zu vertreten, die da unmittelbar betroffen sind. Also, da kann ich nur sagen, das finde ich völlig verständlich, dass der da drin ist. Und ich finde, wenn Einzelpersonen, die auch SPD-Mitglied sind, dabei sind, ist das für mich völlig in Ordnung. Aber ich sage auch, das ist eine Inszenierung, die nur davon ablenken soll, dass Frau Merkel in Wahrheit eine dramatische Kurskorrektur gemacht hat und ihrer eigenen Partei damit offensichtlich eine Menge zumutet.
Capellan: Lassen Sie uns über die Euro-Diskussion sprechen. Wird das Parlament, wird der Deutsche Bundestag ausreichend beteiligt Ihrer Ansicht nach an dem Euro-Rettungsprogramm?
Nahles: Nein. Also, wir wissen nur noch, dass es Geheimtreffen gibt, die man doch nicht geheim halten kann. Ich fordere mehr Information und Transparenz, ich fordere aber vor allem mehr Gerechtigkeit. Wir haben Frau Merkel erlebt, die hat sich hingestellt, die hat gesagt jawohl, wir müssen Spekulationen besteuern, sie wolle sich dafür stark machen. Das war unmittelbar nach der Finanzkrise. Das wäre über eine Finanztransaktionssteuer machbar. Was ist bisher passiert? Nichts. Dabei ist Deutschland das Land, das der größte Geber in diesen Rettungsrunden ist. Wir sind natürlich auch wirtschaftlich die Stärksten, aber da müsste . . .
Capellan: Viele stellen sich die Frage: Warum muss der deutsche Steuerzahler für Fehler ausländischer Regierungen einstehen?
Nahles: Gut, wir profitieren natürlich davon, dass unsere europäischen Partnerländer stabil bleiben. Wir sind die größten Exporteure, insbesondere ins europäische benachbarte Umfeld. Aber ich bestehe darauf, dass Frau Merkel die Frage einer Beteiligung der Verursacher dieser ganzen krisenhaften Entwicklung auch voran treibt. Sie hat Macht in Europa und sie hat auch sicherlich die Macht, diese Finanztransaktionssteuer zu betreiben.
Das, was sie jetzt anbietet, eine Bankenabgabe, ist eine Alibiabgabe. Also erst mal die deutsche Bankenabgabe so machen, dass man wirklich sagen kann, es gibt einen substanziellen Beitrag der Verursacher der Krise, zweitens international die Finanztransaktionssteuer vorantreiben. Und wenn das nicht geht, verlange ich von Frau Merkel, dass sie eine Börsenumsatzsteuer erhebt.
Das ist nicht, dass ich jetzt wild auf Steuern bin, sondern ich bin wild darauf, dass diejenigen, die uns in diese Wahnsinnsritt mit Rettungsschirmen hineingetrieben haben, weil sie sich nicht beherrschen konnten und die Dollarzeichen in ihren Augen geblinkt haben und sie sich verspekuliert haben, dass die endlich beteiligt werden.
Capellan: Es steht im Herbst eine Abstimmung im Bundestag an über einen permanenten Euro-Rettungsschirm. Der ist in Vorbereitung. Deutschland soll da mit einem Grundkapital von jährlich 22 Milliarden Euro beteiligt sein, 170 Milliarden zusätzlich für Bürgschaften. Da stellt sich die Frage, wenn die Bedingungen, die Sie gerade gestellt haben, nicht erfüllt werden, wäre dann der Punkt für die SPD gekommen, "nein" zu sagen?
Nahles: Also, da kann ich zur Zeit noch keine eindeutige Antwort geben. Ich behaupte nämlich, dass das, was wir jetzt auf dem Tisch liegen haben, nicht das letzte Wort ist. Also ich fürchte, dass bis zum Herbst die Lage schon wieder deutlich anders aussieht.
Deswegen will ich jetzt hier ganz klar sagen, dass wir uns immer für Rettungsschirme ausgesprochen haben, wenn es notwendig war, um Europa auch auf einem stabilen Kurs zu halten, aber wir gleichzeitig, was die Finanzierung dieser Rettungsschirme angeht, erhebliche Fragezeichen haben. Deswegen werden wir uns das genau anschauen, und wir werden das zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.
Capellan: Frau Nahles, zum Schluss eine persönliche Frage. Im Januar ist Ihre Tochter Ella Maria geboren worden. Im März waren Sie wieder präsent hier in Berlin. War das zu schnell?
Nahles: Nein, das war nicht zu schnell, aber ich hätte mir ein bisschen mehr Auszeit gewünscht. Das ist aber so, dass man als Bundestagsabgeordnete keine Elternzeit nehmen darf.
Capellan: Aber Sie wünschten sich eine?
Nahles: Ein, zwei Monate mehr wären schon schön gewesen. Dann habe ich mich erkundigt. Das hat auch sehr viele Kollegen – übrigens trifft das auch auf die Landesebenen zu – doch etwas irritiert. Das wird also tatsächlich ausgeschlossen. Ich kann das auch verstehen. Wir sind für vier Jahre gewählt, da kann man jetzt nicht einfach sagen, so, ich bin jetzt mal drei Jahre in Elternzeit. Aber eine verkürzte Elternzeit für Abgeordnete, sagen wir mal ein halbes Jahr, das fände ich wünschenswert.
Capellan: Haben Sie schon mal mit der Familienministerin Kristina Schröder darüber gesprochen? Die erwartet auch ein Kind.
Nahles: Ja, ich weiß. Ich habe sie deswegen angeschrieben. Ich habe mit ihr im übrigen auch schon in dieser Sache gesprochen. Also schauen wir mal, die Antwort steht noch aus.
Capellan: Andrea Nahles, herzlichen Dank für das Gespräch.
Andrea Nahles: Wieso?
Capellan: Wir hatten schon den Eindruck, dass er Sie im Verfahren gegen Thilo Sarrazin – dem Parteiausschlussverfahren – so ein bisschen hat hängen lassen.
Nahles: Ich habe mich immer gut unterstützt gefühlt.
Capellan: Sie waren doch in der Angelegenheit über Ostern dann alleine, Sigmar Gabriel war im Osterurlaub. Und wie das viele Kommentatoren gedeutet haben, hat er sich ein wenig distanziert. Das hatte so den Anschein, als wollte er Ihnen die Schuld für das Scheitern dieses Verfahrens in die Schuhe schieben.
Nahles: Erst einmal gönne ich ihm auch ein bisschen Urlaub mal. Und zweitens war klar, dass ich die Verfahrensbevollmächtigte bin, das heißt auch, die Verantwortung dafür trage, wie dort am Ende dann entschieden wurde. Ich bin zwar mehr oder weniger, wenn man das mal mit einem Zivilgericht vergleicht, Staatsanwältin gewesen, nicht die Richterin. Aber ich nehme das schon auf meine Kappe, dass wir dann angesichts des Verlaufs des Schiedsverfahrens diese Entscheidung getroffen haben. Ich akzeptiere, dass er sich mit seiner Erklärung, die er in diesem Schiedsverfahren abgegeben hat, wieder auf die SPD auch zubewegt hat.
Capellan: Aber was hat sich denn da verändert in der Substanz durch diese Erklärung?
Nahles: Na ja, Thilo Sarrazin hat sich sehr oft immer als Opfer dargestellt – die SPD, die ihn nicht versteht, nicht richtig liest, ihn im Grunde genommen ausspucken will. Und er hat sich sehr stark so stilisiert, als ob er das Unschuldslämmchen ist, sage ich mal. Und das ist er nicht . . .
Capellan: . . . aber er hat doch nichts in der Sache zurückgenommen.
Nahles: . . . doch, das hat er wohl.
Capellan: . . . die Vererbbarkeit von Intelligenz, das war ja ein großes Problem für die Partei, das hat Sigmar Gabriel dazu bewogen, dieses Ausschlussverfahren in Gang zu setzen. Das hat er nicht zurückgenommen.
Nahles: Nicht die Vererbbarkeit von Intelligenz war das Problem. Es ist, glaube ich, nicht bestritten, dass es teilweise auch so stimmt, sondern . . .
Capellan: . . . aber er hat gesagt, zu 50 bis 80 Prozent, also enorm viel.
Nahles: . . . ja, über solche Zahlen streiten wir gar nicht, sondern es geht um die Frage, ob man wirklich daraus die Konsequenz zieht, dass sich der Staat im Sinne der Herausbildung einer Elite in die Geburtensteuerung einmischt.
Zum Beispiel schlug ja nun Thilo Sarrazin in seinem Buch da vor, dass Akademikerinnen unter 30 eine Prämie bekommen, wenn sie ein Kind kriegen. Das war also völlig abwegig und ist mit den Grundsätzen der SPD überhaupt nicht vereinbar. Und das hat er zurückgenommen, und darauf haben wir auch bestanden.
Aber diese Erklärung ist von der Schiedskommission vorgelegt worden, sie ist ein Kompromiss. Sie ist nicht mehr für mich, als dass sie ein Stück weit wieder eine Situation geschaffen hat, wo eine Übereinstimmung wenigstens mit den Grundregeln einer Partei da war. Ich hoffe, dass sich Thilo Sarrazin an diese Spielregeln in Zukunft hält. Die Vergangenheit lässt da durchaus gewisse Zweifel zeigen.
Capellan: Hatten Sie möglicherweise denn auch ein bisschen Angst vor den Wahlen - die Wahl in Berlin zum Beispiel, sein Heimatverband? Da weiß man ja, dass die Hälfte der SPD-Anhänger – so gibt es Umfragen – doch hinter dem stehen, was Thilo Sarrazin sagt.
Nahles: Ja, und die andere Hälfte nicht. Das ist ja genau der Punkt. Wissen Sie, da ist keine billige Taktik möglich in so einer Situation. Du weißt ganz genau: Egal, wie Du da raus kommst aus dieser Sache – es wird helle Empörung geben, entweder von der einen oder der anderen Seite. Das ist nicht Taktik, ja . . .
Capellan: . . . also hätten Sie sich das Ganze eigentlich besser sparen können. Sie waren immer eine Skeptikerin eines Ausschlussverfahrens.
Nahles: Sagen wir mal so: Ich möchte zunächst einmal sagen, ich finde es richtig, dass die SPD und auch andere Parteien in Deutschland hohe Hürden haben. Da kann nicht jemand einfach rausgeworfen werden. Selbst jemand, der mir wirklich vollkommen fremd ist – und Thilo Sarrazin ist Mitglied meiner Partei, aber ist nicht mein Genosse, da möchte ich mich auch klar distanzieren. Aber trotzdem hat er ein faires Verfahren verdient und er bekommt auch eins.
Und in diesem Verfahren hat sich die Lage so entwickelt, dass die Schiedskommission sich auf eine gütliche Einigung hin orientiert hat. So. Das ist eine schwierige Lage, aber es wäre beim Freispruch, bei einer Rüge oder bei einem Rausschmiss genau so schwierig gewesen. Trotzdem verteidige ich, dass wir als Parteivorstand das eingeleitet haben, dieses Verfahren, weil Sie sich vorstellen müssen: Damals kochte es hoch, er hatte was von "jüdischen Genen" erzählt. Dann hat die Bundesbank eben auch einen Deal mit dem im Grunde genommen gemacht, er ist nicht mehr Bundesbänker gewesen am Ende dieses Prozesses. . .
Capellan: . . . und da sah sich Sigmar Gabriel getrieben und meinte, er müsste auch etwas tun.
Nahles: Nein, es war notwendig, dass wir von Seiten der SPD-Führung klarmachen, dass er sich mit seinen Thesen außerhalb des Konsenses unserer Partei bewegt. Dass man da unterliegen kann, war uns damals schon klar. Und so weit ist es gar nicht mal gekommen, weil sich Thilo Sarrazin doch mit dieser Erklärung auf uns zu bewegt hat . . .
Capellan: . . . eine Erklärung, die ihm geschrieben worden ist.
Nahles: . . . nein , nein, nein.
Capellan: . . . die er nicht selber verfasst hat.
Nahles: Moment. Noch einmal: Diese Erklärung, die er unterzeichnet hat, ist von niemand anders geschrieben worden, als von der Kreis-Schiedskommission in einer Auszeit dieses Verfahrens. Das war keine vorbereitete Erklärung, da gab es keinen Kuhhandel. . .
Capellan: . . . ist das Thema jetzt vom Tisch?
Nahles: So langsam langt es mir auch mit dem Thema. Also ich muss es ganz ehrlich sagen . . .
Capellan: . . . das merken wir auch, aber in der letzten Vorstandssitzung hat es noch eine große Rolle gespielt . . .
Nahles: . . . ja natürlich, das war ja die erste . . .
Capellan: . . . es gibt ja doch Unmut, es gibt auch Parteiaustritte.
Nahles: Ja, es gibt aber Parteiaustritte in sehr geringem Umfang. Trotzdem tut mir jeder, der austritt, leid, weil ich glaube, dass so viel Einfluss man einem Thilo Sarrazin nicht geben sollte, dass er das nicht wert ist.
Capellan: Sie haben ja auch einige Migranten verprellt mit dieser Entscheidung. Jetzt gibt es eine Migrantenquote, also 15 Prozent der Mitglieder der Parteiführung in der SPD sollen einen Migrationshintergrund haben. Eine Reaktion auf Sarrazin?
Nahles: Sagen wir mal: Es hat der Sache ein wenig Beschleunigung gegeben. Aber die Sache war schon sein Monaten hier intern diskutiert - unter anderem eine Forderung des von Sigmar Gabriel und mir gegründeten "Arbeitskreises für Migrantinnen und Migranten in der SPD".
Als wir 2009 die schwere Wahlniederlage hatten, haben wir uns auch angeguckt, dass wir zu wenig gemacht haben im Bereich der Migrationspolitik, und sind das sofort angegangen. Der Vorsitzende dieses Arbeitskreises Kenan Kolat hat dann diese Quote gefordert – schon vor Wochen. Da war das mit Sarrazin überhaupt noch nicht in der Diskussion.
Und wir haben jetzt gesagt: Jawohl, wir wollen deutlich machen, dass Thilo Sarrazin nicht die Integrationspolitik der SPD bestimmt. Und das haben wir versucht, durch diese Quote auch mit zu unterstreichen.
Capellan: Und er hat sich sofort wieder zu Wort gemeldet und hat gesagt: "Je migrantischer ein Mitglied des Parteivorstandes ist, desto weniger objektiv kann es die Probleme der Integrationspolitik angehen." Wie sehen Sie denn so etwas?
Nahles: Thilo Sarrazins Äußerungen zu dieser Frage sind mir egal, sie sind dem SPD-Parteivorstand egal und sie sind auch nicht relevant für das, was wir tun werden. Und ich glaube, man muss sich auch abgewöhnen, jede Provokation von ihm dann auch entsprechend zu kommentieren, weil – davon lebt er ja offensichtlich, dass alle sich aufregen.
Capellan: Aber Sie hatten gehofft, er würde solche Provokationen jetzt unterlassen?
Nahles: Nein, wenn Sie mich nach meinen Hoffnungen fragen: Ich bin nicht Illusionistin. Ich denke aber, er weiß auch, wo seine Grenzen sind. Ich glaube auch, dass Leute, die ihm Sympathie entgegen bringen in der SPD, dauerhaftes Verletzen der Ordnung und der Spielregeln in der SPD nicht akzeptieren werden.
Capellan: Es gab, so war zu hören, auch über diese Quote im Vorstand eine muntere Debatte. Ist die wirklich durchdacht oder wieder mal, wie Kritiker sagen, ein Schuss aus der Hüfte von Sigmar Gabriel?
Nahles: Ich sage Ihnen ganz offen, das ist eine Sache, die auch weh tut, und deswegen sind nicht alle begeistert, weil: Natürlich, wenn wir sagen, wir wollen da fünf, sechs Migranten im Parteivorstand – das hängt jetzt von der Größe des Parteivorstandes ab –, dann ist das ja gleichbedeutend mit der Tatsache, dass Landesverbände natürlich nicht vielleicht die Personen, die sie sonst vielleicht entsandt hätten, entsenden können. Das ist natürlich mit Konflikten behaftet, es geht ja da auch. . .
Capellan: . . . und Landesverbände im Osten haben gar nicht das Potenzial.
Nahles: . . . genau, die Landesverbände im Osten werden aber – da gibt es auch eine faire Regel bei uns – im Parteivorstand der SPD auch solidarisch mit unterstützt von anderen Westverbänden. Also es ist ja nicht so, dass wir da nicht solidarisch sind, sondern die wissen, dass es da Unterschiede gibt. Deswegen haben wir uns eine Selbstverpflichtung auferlegt für die Bundesebene und haben nicht gesagt: Jeder Unterbezirk in Sachsen-Anhalt muss jetzt 15 Prozent Migranten haben.
Capellan: Woran liegt das, dass das so ein Thema ist für die SPD, dass man da solche Defizite hat, dass man Migranten in die Parteiarbeit holt? Die Partei galt immer mal auch als die Partei der Gastarbeiter.
Nahles: Ja, wir haben sehr viele aktive Migrantinnen und Migranten, aber wir haben versäumt in den letzten zehn, fünfzehn Jahren, wirklich durch aktive Förderung die Sichtbarkeit dieser Aktiven auf der Bundesebene ausreichend zu gestalten. Und das müssen wir jetzt nachholen.
Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Frau Nahles, wie kann es gelingen, die SPD aus dem 20-Prozent-Tal heraus zu holen? In Rheinland-Pfalz ist es gut gegangen, in Baden-Württemberg allerdings sind Sie hinter den Grünen gelandet mit dem historisch schlechtesten Ergebnis.
Nahles: Also, zunächst ist die Migrantenquote etwas, was auch Wähler an uns bindet. Wir haben sehr viel Unterstützung bei Migrantinnen und Migranten, und wir sind eher in der Gefahr gewesen in den letzten Jahren, sie zu verlieren, weil wir nicht genug gemacht haben auf der Bundesebene.
Capellan: . . . aber das ist nur ein Mosaiksteinchen.
Nahles: . . . das ist nur ein Mosaiksteinchen. Der zweite Punkt ist, dass ich mal darauf verweise, dass wir 2009 wirklich am Tiefpunkt in der Nachkriegsgeschichte der SPD waren – mit 23 Prozent. Wir haben seither in Nordrhein-Westfalen eine CDU-Regierung abgelöst mit Hannelore Kraft. Wir haben in Hamburg mit Olaf Scholz eine absolute Mehrheit errungen. Wir haben in Rheinland-Pfalz, in Sachsen-Anhalt die Regierungsbeteiligung – in Rheinland-Pfalz auch mit dem Ministerpräsidenten – verteidigt. Wir werden ganz gewiss Bremen gewinnen und haben sehr gute Aussichten: In diesem Jahr wird noch in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin gewählt.
Das heißt, ich will die Sache nicht schön reden, aber ich bin auch ein Stück weit selbstbewusst, dass unsere Erneuerung auch über die Länder teilweise läuft, dass wir dadurch auch mehr Einfluss im Bundesrat gewonnen haben. Das nützt uns. Wir sind aber, was das Rückgewinnen von Vertrauen angeht – verlorenes Vertrauen –, noch nicht an dem Punkt, wo wir sein müssten beziehungsweise wo wir spätestens 2013 sein müssen.
Capellan: Müssen Sie sich mehr mit der CDU beschäftigen? Denn die hat nicht im Verhältnis so sehr Federn lassen müssen wie die SPD.
Nahles: Ja, überall da, wo wir den Ministerpräsidenten stellen, haben wir die CDU geschlagen – und zwar um Platz eins: Wem trauen die Leute die Regierung am ehesten zu? Und das ist auch die Stoßrichtung, die ich empfehle für die Bundestagswahl.
Capellan: Wo kann die SPD mehr Stimmen holen – in der Mitte oder links?
Nahles: Wir haben immer nur Wahlen gewonnen, wenn es uns gelungen ist, beides miteinander zu verbinden. Eine Wahl, die nur mit dem Slogan "Innovation" angetreten worden wäre, um einen großen Wahlsieg der SPD von 98 zu zitieren, hätte nicht funktioniert. Es war Innovation und Gerechtigkeit. Oder . . .
Capellan: . . . ist Hamburg ein Beispiel dafür?
Nahles: Hamburg war gerecht, wirtschaftsnah und realistisch. Das war . . .
Capellan: . . . aber extrem wirtschaftsfreundlich, das Programm, das Olaf Scholz da in der Wahl gefahren hat.
Nahles: Er hat genau so gut gesagt: Wir brauchen 6000 neue Wohnungen, damit auch viele, die mit geringerem Einkommen hier überleben können. Also es gab keine einseitige Sache. Und das ist genau das, was ich meiner Partei insgesamt nicht empfehle, nicht "entweder oder", sondern "und". Also wirtschaftliche Vernunft, haushaltspolitische Verantwortung und Kampf gegen Leiharbeit und Lohndrückerei.
Capellan: Stehen Sie da möglicherweise vor einem Spagat? Ich nenne mal das Beispiel "Bürgerversicherung". Die ist jetzt abgeschwächt worden gegenüber den früheren Plänen, sie soll die Wohlhabenden doch schonen, auf der anderen Seite die abgeschwächte Rente mit 67, wo man den Eindruck hat, die SPD will die durch die Agenda-Politik Verprellten wieder zurückgewinnen. Also von allem ein bisschen?
Nahles: Nein, also ich glaube, bei der Bürgerversicherung, das sehen die Arbeitgeber aber ganz anders, von wegen abgeschwächt. Wir schaffen da die Beitragsbemessungsgrenze für die Arbeitgeber ab. Das ist mit Sicherheit ein ganz neuer Dreh in der ganzen Debatte und . . .
Capellan: Aber Sie wollten auch mal Miet- und Kapitaleinkünfte bei der Berechnung zugrunde legen, und das machen Sie jetzt nicht.
Nahles: Ja, das machen wir jetzt über eine Steuer. Wir dynamisieren den Steueranteil. Also, es wird eine Steuersäule stetig anwachsen nach unserem Modell, weil wir glauben, dass eine Verbeitragung von Mieten und Kapitaleinkünften schlicht und ergreifend zu bürokratisch ist.
Capellan: Wen trifft dieser Steueranteil?
Nahles: Den wollen wir aus der Zinsabgeltungssteuer gewinnen. Wir haben uns politisch dazu verpflichtet. Das ist auch mit unseren Steuerpolitikern besprochen, dass die Zinsabgeltungssteuer mit 25 Prozent zu niedrig angesetzt ist. Das sagt selbst Peer Steinbrück, der sie so eingeführt hat. Wir wollen sie also anheben, und die zusätzlichen Einnahmen sollen in die Gesundheit fließen. Das bedeutet aber, dass diejenigen, die hier getroffen werden, über hohe Kapitaleinkünfte verfügen. Und das scheint uns ein gerechter Weg zu sein.
Capellan: Also, Sie wollen Partei des kleinen Mannes weiterhin sein oder das liberale Bürgertum ansprechen. Oder beides?
Nahles: Wir wollen eine moderne Arbeitnehmermitte, die vielleicht selbstständig ist, die vielleicht auch gut verdient, aber die vielleicht auch zu wenig Zeit hat für ihre Familie, erreichen. Auf der anderen Seite aber auch Niedriglohnjobbern mit Mindestlohn und dem Verbot von sachgrundlosen Befristungen entgegenkommen. Also, ich denke, wenn es der SPD gelingt, ihre Kernthemen, wie Arbeit, für unterschiedliche Gruppen in unserer Gesellschaft attraktiv zu machen, dann ist das der Pfad, der uns stark machen wird. Und es geht wirklich darum, dass wir genau an diesen Stellen auch stärker Profil noch ausweisen. Und wir mussten viele verschiedene Themen aufarbeiten aus dieser Regierungszeit, weil da waren viele Wunden geschlagen. Das gebe ich auch zu.
Capellan: Wie wollen Sie in dem Kontext mit den Grünen umgehen, die ja jetzt vielfach vor der SPD liegen. Sie haben mal im vergangenen Jahr gesagt, es gibt bei uns immer noch ein bisschen Welpenschutz für die Grünen. Das sei wenig professionell. Wir erinnern uns an Sigmar Gabriel, der sich ein bisschen lustig gemacht hat über die Latte Macchiato trinkenden Grünen-Wähler. Das war so die Abteilung Attacke. Da ist man doch jetzt eher ein bisschen auf Kuschelkurs gegangen, oder sehe ich das falsch?
Nahles: Also, wir sollten gegenüber den Grünen auch eine gewisse Gelassenheit ausstrahlen, weil das sind ja nun bei aller Kritik noch immer unser Lieblingskoalitionspartner. Das Zweite, was ich sehe, ist, dass sie sozialpolitisch definitiv verbürgerlicht sind. Das interessiert sie teilweise überhaupt nicht. Ich bin auch informiert worden, wie die Koalitionsverhandlungen gelaufen sind in den Ländern, jetzt in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, das ist kein Kernthema für die.
Und wir sollten deswegen im guten Wettbewerb antreten, auch um die Frage wirtschaftliche Vernunft und soziale Balance. Da sind sie meiner Meinung nach deutlich schwächer aufgestellt als wir.
Capellan: Wie groß ist die Gefahr, dass sich die Grünen der Union zuwenden, wenn das Atom-Thema abgegrast ist?
Nahles: Da greife ich meinen Begriff mit dem Welpenschutz schon auf. Man sollte sich da keine Illusionen machen. Man muss sehen, die werden das ganz nüchtern entscheiden. Wenn es mit der SPD für Rot-Grün reicht, spricht sehr viel dafür, dass wir das machen aus dem einfachen Grund, weil die allergrößte Zahl der grünen Anhängerschaft und Wähler Rot-Grün wollen. Aber ich mache mir auch nichts vor. Also, wenn es mit uns nicht reicht, dann sind die wahrscheinlich auch absolut bereit, die Machtkarte da zu ziehen und Schwarz-Grün zu machen.
Capellan: Schauen Sie aus dem Grund möglicherweise dann auch wieder in Richtung FDP? Ist mit der "neuen" FDP wieder Staat zu machen in den Augen der SPD?
Nahles: Also, das wissen wir noch nicht. Wenn Herr Lindner was erzählt von "mitfühlendem Liberalismus", dann ist das so etwas ähnliches, wie ein "alter Knabe", also ein Widerspruch, aus meiner Sicht zumindest. Was wir von der FDP in den letzten Jahren gehört haben, war doch wirklich nichts anderes als blanke Lobbypolitik, Steuersenkungspolitik, die sie dann nicht mal eingelöst haben in der Regierung, - und damit große Wählertäuschung und vor allem große Wählerenttäuschung das Markenzeichen der FDP ist.
Von daher kann ich nur sagen, so inhaltlich, wie die FDP in den letzten Jahren unter Westerwelle aufgestellt war als eine Marktpartei und nicht als eine liberale Partei kann ich mir das nicht vorstellen. Ich sage aber, ich gucke mit Spannung darauf, was dort passiert. Ist es nur eine Rochade von Personen oder ist es mehr? Ist es auch ein inhaltlicher Neuaufbruch? Das würde, wenn es in Richtung echter freiheitlicher Ordnung oder wenn es in Richtung mehr Bürgerrechte geht, für uns sicherlich ein spannender Punkt sein.
Capellan: Sehen Sie das Kabinett Merkel durch die Regierungsverschiebung, durch die Umbildung im Kabinett in Bedrängnis?
Nahles: Ich glaube zumindest, dass der Eindruck, den sie sich aufgebaut hat, dass sie alles im Griff hat, definitiv gelitten hat. Und das zweite ist auch, dass in dieser Regierung Staatsämter wirklich wie so Versatzbausteinchen behandelt werden und dass man den Eindruck hat, dass hier der nötige Ernst auch fehlt. Und die Bürger wundern sich natürlich, dass da offensichtlich innerparteiliche Ränkespiele wichtiger sind als eine kluge Fachpolitik.
Und ich muss sagen, es macht insgesamt einen Eindruck, als wären wir hier in einer Bananenrepublik. Was da in den letzten Wochen gelaufen ist, von Guttenberg angefangen jetzt über Brüderle, und dann wird ein Posten geschaffen, im Auswärtigen muss die arme Frau Pieper jetzt nach Polen, damit die Frau Homburger nicht das Gesicht verliert – also ich muss ganz ehrlich sagen, was ist das hier eigentlich für ein Sauladen, diese Bundesregierung? Frau Merkel, die Oberopportunistin, Entschuldigung, die hat jetzt vor Monaten uns erklärt, die Laufzeiten der Atomkraftwerke müssten verlängert werden, das ist überhaupt kein Sicherheitsproblem, und jetzt sagt sie April, April, jetzt muss das alles genau anders gemacht werden.
Capellan: Ist die SPD dabei, beim Atomausstieg? Die Kanzlerin strebt einen breiten gesellschaftlichen Konsens an.
Nahles: Es gab in den letzten 15 Jahren einen breiten gesellschaftlichen Konsens, nämlich die Mehrheit der Deutschen wollte aus der Atomenergie aussteigen. Deswegen haben wir auch einen Atomausstieg verabredet in der rot-grünen Regierung im Konsens.
Capellan: Aber jetzt ist er so breit wie nie.
Nahles: Den Konsens hat sie aufgekündigt. Jetzt schmiedet sie einen neuen, um zu kaschieren, dass sie diejenige war, die den Konsens behindert hat. Aber okay, wir sind dabei. Wir wollen so schnell wie möglich aus der Atomenergie raus. Wir wollen aber, dass für dieses Hin und Her, vor allem diese Beschleunigung, am Ende nicht die Bürgerinnen und Bürger die Zeche zahlen, sondern dass die, die in den letzten Jahrzehnten auch gutes Geld verdient haben mit der Atomkraft, beteiligt werden.
Also, da muss man dann auch weiter über Brennelementesteuer reden zum Beispiel. Strompreise würden nämlich sonst steigen, wenn wir zum Beispiel, was dringend erforderlich ist, Netze ausbauen müssen, damit erneuerbare Energien von der Küste beispielsweise nach Baden-Württemberg und Bayern, wo wir die meisten Atomkraftwerke haben, geleitet werden können. Dann müssen Netze gebaut werden. Und die sollten bitte auch die Strombetreiber mitfinanzieren. Von daher - ja, wir wollen, aber mit Bedingungen.
Capellan: Bedarf es einer Ethikkommission, um diesen Ausstieg vorzubereiten?
Nahles: Nein.
Capellan: Und warum ist die SPD dann dabei, durch Klaus von Dohnanyi, Volker Hauff?
Nahles: Mit Verlaub, die SPD ist vertreten durch Einzelpersonen. Wir sitzen da nicht als Führung der SPD-Spitze, weder Fraktion noch Partei dabei. Es ist auch in Ordnung, dass sie dabei sind.
Capellan: Die Grünen haben sich ganz rausgehalten.
Nahles: Ja, das finde ich dann auch – wissen Sie, zum Beispiel der Michael Vassiliadis, das ist der IG BCE-Vorsitzende, der hat ganz viele Mitarbeiter zu vertreten, die da unmittelbar betroffen sind. Also, da kann ich nur sagen, das finde ich völlig verständlich, dass der da drin ist. Und ich finde, wenn Einzelpersonen, die auch SPD-Mitglied sind, dabei sind, ist das für mich völlig in Ordnung. Aber ich sage auch, das ist eine Inszenierung, die nur davon ablenken soll, dass Frau Merkel in Wahrheit eine dramatische Kurskorrektur gemacht hat und ihrer eigenen Partei damit offensichtlich eine Menge zumutet.
Capellan: Lassen Sie uns über die Euro-Diskussion sprechen. Wird das Parlament, wird der Deutsche Bundestag ausreichend beteiligt Ihrer Ansicht nach an dem Euro-Rettungsprogramm?
Nahles: Nein. Also, wir wissen nur noch, dass es Geheimtreffen gibt, die man doch nicht geheim halten kann. Ich fordere mehr Information und Transparenz, ich fordere aber vor allem mehr Gerechtigkeit. Wir haben Frau Merkel erlebt, die hat sich hingestellt, die hat gesagt jawohl, wir müssen Spekulationen besteuern, sie wolle sich dafür stark machen. Das war unmittelbar nach der Finanzkrise. Das wäre über eine Finanztransaktionssteuer machbar. Was ist bisher passiert? Nichts. Dabei ist Deutschland das Land, das der größte Geber in diesen Rettungsrunden ist. Wir sind natürlich auch wirtschaftlich die Stärksten, aber da müsste . . .
Capellan: Viele stellen sich die Frage: Warum muss der deutsche Steuerzahler für Fehler ausländischer Regierungen einstehen?
Nahles: Gut, wir profitieren natürlich davon, dass unsere europäischen Partnerländer stabil bleiben. Wir sind die größten Exporteure, insbesondere ins europäische benachbarte Umfeld. Aber ich bestehe darauf, dass Frau Merkel die Frage einer Beteiligung der Verursacher dieser ganzen krisenhaften Entwicklung auch voran treibt. Sie hat Macht in Europa und sie hat auch sicherlich die Macht, diese Finanztransaktionssteuer zu betreiben.
Das, was sie jetzt anbietet, eine Bankenabgabe, ist eine Alibiabgabe. Also erst mal die deutsche Bankenabgabe so machen, dass man wirklich sagen kann, es gibt einen substanziellen Beitrag der Verursacher der Krise, zweitens international die Finanztransaktionssteuer vorantreiben. Und wenn das nicht geht, verlange ich von Frau Merkel, dass sie eine Börsenumsatzsteuer erhebt.
Das ist nicht, dass ich jetzt wild auf Steuern bin, sondern ich bin wild darauf, dass diejenigen, die uns in diese Wahnsinnsritt mit Rettungsschirmen hineingetrieben haben, weil sie sich nicht beherrschen konnten und die Dollarzeichen in ihren Augen geblinkt haben und sie sich verspekuliert haben, dass die endlich beteiligt werden.
Capellan: Es steht im Herbst eine Abstimmung im Bundestag an über einen permanenten Euro-Rettungsschirm. Der ist in Vorbereitung. Deutschland soll da mit einem Grundkapital von jährlich 22 Milliarden Euro beteiligt sein, 170 Milliarden zusätzlich für Bürgschaften. Da stellt sich die Frage, wenn die Bedingungen, die Sie gerade gestellt haben, nicht erfüllt werden, wäre dann der Punkt für die SPD gekommen, "nein" zu sagen?
Nahles: Also, da kann ich zur Zeit noch keine eindeutige Antwort geben. Ich behaupte nämlich, dass das, was wir jetzt auf dem Tisch liegen haben, nicht das letzte Wort ist. Also ich fürchte, dass bis zum Herbst die Lage schon wieder deutlich anders aussieht.
Deswegen will ich jetzt hier ganz klar sagen, dass wir uns immer für Rettungsschirme ausgesprochen haben, wenn es notwendig war, um Europa auch auf einem stabilen Kurs zu halten, aber wir gleichzeitig, was die Finanzierung dieser Rettungsschirme angeht, erhebliche Fragezeichen haben. Deswegen werden wir uns das genau anschauen, und wir werden das zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.
Capellan: Frau Nahles, zum Schluss eine persönliche Frage. Im Januar ist Ihre Tochter Ella Maria geboren worden. Im März waren Sie wieder präsent hier in Berlin. War das zu schnell?
Nahles: Nein, das war nicht zu schnell, aber ich hätte mir ein bisschen mehr Auszeit gewünscht. Das ist aber so, dass man als Bundestagsabgeordnete keine Elternzeit nehmen darf.
Capellan: Aber Sie wünschten sich eine?
Nahles: Ein, zwei Monate mehr wären schon schön gewesen. Dann habe ich mich erkundigt. Das hat auch sehr viele Kollegen – übrigens trifft das auch auf die Landesebenen zu – doch etwas irritiert. Das wird also tatsächlich ausgeschlossen. Ich kann das auch verstehen. Wir sind für vier Jahre gewählt, da kann man jetzt nicht einfach sagen, so, ich bin jetzt mal drei Jahre in Elternzeit. Aber eine verkürzte Elternzeit für Abgeordnete, sagen wir mal ein halbes Jahr, das fände ich wünschenswert.
Capellan: Haben Sie schon mal mit der Familienministerin Kristina Schröder darüber gesprochen? Die erwartet auch ein Kind.
Nahles: Ja, ich weiß. Ich habe sie deswegen angeschrieben. Ich habe mit ihr im übrigen auch schon in dieser Sache gesprochen. Also schauen wir mal, die Antwort steht noch aus.
Capellan: Andrea Nahles, herzlichen Dank für das Gespräch.