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Die Grünen: Vom Richtungskrieg zur harmonischen Vielfalt

Während die anderen Parteien nach 1945 bereits über einen gewachsenen intellektuellen Bestand verfügten, war dies bei den Grünen völlig anders: Sie zehren noch heute von ihrem intellektuellen Gründungsmythos und ökologischen Markenkern.

Von Albrecht von Lucke | 13.06.2011
    Spricht man von Parteiintellektuellen, hat man es mit einem Widerspruch in sich zu tun. Seit Emile Zola mit seinem "J'accuse" in der Dreyfus-Affäre den Typus des modernen Intellektuellen schuf, versteht sich dieser gerade nicht als Vertreter einer Partei, sondern der gerechten Sache an sich.

    Daraus resultiert eine moralische Unbedingtheit, die im fundamentalen Gegensatz steht zu dem machtorientierten Pragmatismus des parteipolitischen Geschäfts. Dieser Konflikt - zwischen Moral und Macht - durchzieht auch und gerade die Geschichte der Grünen und ihrer Intellektuellen.

    Fragt man nach grünen Parteiintellektuellen, muss man zudem auf den entscheidenden Unterschied zu allen anderen Parteien hinweisen. Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus samt den ihnen korrespondierenden Parteien FDP, CDU/CSU und SPD/Die Linke sind allesamt Strömungen des 19. Jahrhunderts. Diese brachten sukzessive die klassischen Parteistrukturen hervor.

    Für die Grünen dagegen gilt das nur sehr bedingt. Sie sind mit ihren knapp 30 Jahren noch immer eine sehr junge Partei und zudem auch thematisch die einzige originäre Neugründung der Bundesrepublik.

    Während die anderen Parteien nach 1945 bereits über einen gewachsenen intellektuellen Bestand verfügten, war dies bei den Grünen völlig anders: Sie gingen - ähnlich wie die frühe Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert - aus dem intellektuellen Streit überhaupt erst hervor. Anders als die anderen Parteien verfügten die Grünen also nicht über dezidierte Parteiintellektuelle, sondern sie standen eher im Sinne von Pierre Bourdieu für ein breites intellektuelles Feld.

    Es wäre daher verkürzt, die Intellektuellen der Grünen nur auf die Partei im engeren Sinne zu reduzieren. Als intellektuelle Sammlungs-Bewegung waren die Grünen von Anfang an immer weit mehr. Mit einem bekannten Wort von Gottfried Benn lassen sie sich als ein intellektuelles "Durchkreuzungsphänomen" der späten Bonner- und jungen Berliner Republik begreifen.

    In der Gründungsphase um 1980 entwickelten sich die Grünen in erstaunlicher Weise unter der Fahne der Ökologie zum Sammelbecken konservativer und sozialistischer Intellektueller. Hernach bildeten sich Strömungen heraus, gestützt auf scharf konturierte Positionen und markante intellektuelle Figuren. In jener Zeit fand auch eine erste Vermachtung der Partei statt. Und die Bewegungspartei büßte allmählich ihre intellektuellen Leuchttürme ein.

    Vom Mauerfall 1989 bis zum Ende der rot-grünen Regierungsphase 2005 löste sich der intellektuelle Strömungsantagonismus auf. Es sollte nur noch eine Fraktion überleben.

    Gegenwärtig erlebt die Partei ein phänomenales Comeback. Endgültig mit dem GAU von Fukushima zeigt sich: Obwohl jenes Personal, das sich vor dreißig Jahren in höchst chaotischer Weise zusammengefunden hatte, längst in alle Winde zerstreut ist, zehrt die Partei von Bündnis ´90 / Die Grünen bis heute von ihrem intellektuellen Gründungsmythos und ökologischen Markenkern, mit dem sie sich ein gewaltiges Glaubwürdigkeitspotenzial erstritten hat.

    Bevor die Grünen Ende der 1970er Jahre als Partei gegründet wurden, gab es bereits die grüne Bewegung. Ihr Auslöser war die neue ökologische Frage. Spätestens mit der ersten bemannten Mondlandung im Jahr 1969 war die Fragilität des blauen Planeten Erde sichtbar geworden; der Berühmtheit erlangende Bericht des Club of Rome von 1973 über die "Grenzen des Wachstums" verlieh der räumlichen Endlichkeit der Erde und ihrer Ressourcen dann auch eine zeitliche Dimension. Mit diesem Manifest von Dennis und Donella Meadows besaß die globale grüne Bewegung ihren ersten intellektuellen Überbau.

    Auf die Grünen wurden daher von Anfang an enorme Visionen projiziert: nämlich nicht mehr und nicht weniger als die Rettung des Planeten. Die Bundesrepublik nach 1945 war dagegen - nach dem rassistischen Überschuss der NS-Zeit - jeglichen utopischen Höhenflügen abhold. Alles, was - mit Ausnahme von 1968 - in der Republik nicht intellektuell radikal werden und den Problemen an die Wurzel gehen konnte, brach mit den Grünen Anfang der 80er Jahre wieder auf und in das parteipolitische Gefüge der Republik ein.

    Vergegenwärtigen wir uns dafür kurz die damalige Lage: Heute vor exakt dreißig Jahren demonstrierten vom 17. bis 26. Juni 1981 auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg nahezu hunderttausend Menschen gegen den NATO-Doppelbeschluss und die atomare Aufrüstung. Das Motto lautete damals:

    "Fürchtet Euch, der Atomtod bedroht uns alle - Wehrt Euch."

    Und im Oktober 1981 sollten sogar 300.000 im Bonner Hofgarten demonstrieren. Doch bereits zuvor hatte - von Wyhl über Grohnde bis Brokdorf - der Kampf gegen die angeblich zivile Nutzung der Atomkraft begonnen.

    Dennoch beschloss 1979 die rot-gelbe Regierung unter Helmut Schmidt den Bau neuer Kernkraftwerke. Dagegen gingen viele Intellektuelle auf die Straße und an die Katheder der Republik - von Franz Alt über Günther Anders bis Robert Jungk und Carl Friedrich von Weizsäcker.

    Das ökologische Thema, und speziell die Atomfrage, bewegte die intellektuellen Debatten der Republik. Die entstehende grüne Partei nahm darüber eine erstaunliche Entwicklung: Sie vereinte die interessantesten Strömungen der 1970er Jahre. Denn die neue ökologische Frage wirkte weit über die klassische Linke hinaus und sprach auch konservative Kreise an - weil weder auf der Linken noch auf der Rechten ein parteipolitischer Raum für intellektuelle Visionen vorhanden war.

    Die junge Partei hatte insofern von Beginn an zwei dezidiert nicht-intellektuelle Gründungsväter: Helmut Schmidt und Helmut Kohl.
    Mit dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt, der sich gerne als den ersten Angestellten der Republik bezeichnete, stand die dezidierte Utopieverweigerung an der Spitze des Staates. Sein Leitspruch lautete:

    "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."

    Damit waren all jene gemeint, die ein Bedürfnis teilten, das weit älter war als die Ökologiebewegung - nämlich nach einer Partei links von der SPD, sprich: nach einer grundsätzlichen sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft.

    Auf der konservativen Seite galt diese ideelle Leere nicht minder. Der wertkonservative Gedanke des Schutzes der Natur hatte in der strukturkonservativen, wirtschafts- und fortschrittsbegeisterten Union des Helmut Kohl keine Heimat. Es ist deshalb kein Zufall, aber auch eine besondere Ironie der Geschichte, dass der erste grüne Bundestagsabgeordnete ein Konservativer war, nämlich Herbert Gruhl. Als Bundesvorsitzender des BUND - des Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland - trat Gruhl am 12. Juli 1978 aus der CDU aus und gründete am darauffolgenden Tag die GAZ - die Grüne Aktion Zukunft. Ein Jahr später sollte die GAZ maßgeblich an der Gründung der Grünen beteiligt sein.

    Doch Gruhl war nicht nur Bundestagsabgeordneter, sondern durchaus auch ein Intellektueller. Man könnte ihn auch als den ersten Parteiintellektuellen der Grünen noch vor ihrer Gründung bezeichnen. Sein Buch Ein Planet wird geplündert - Die Schreckensbilanz unserer Politik wurde schon 1975 zu einem der ersten grünen Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 400.000 Exemplaren - was heute nur ein Thilo Sarrazin erreicht.

    Gegen die kapitalistische wie kommunistische Wachstumsideologie setzte Gruhl auf eine planetarische Wende durch Verzicht. Technische Veränderungen - etwa die Steigerung bloßer Effizienz - seien dafür nicht hinreichend.

    Gleichzeitig übte die entstehende Partei einen enormen Sog auf jene aus, die im weitesten Sinne der heimatlosen Linken zuzurechnen war. Noch in den 60er Jahren hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard von der CDU Intellektuelle als "Pinscher" bezeichnet; dadurch fanden viele den Weg in die SPD. Andere wiederum, enttäuscht durch die Godesberger Wende der SPD von 1959 und ihre Akzeptanz der Marktwirtschaft, hielten sich weiter links auf, nämlich auf Seiten der in den späten 1960er Jahren entstehenden APO.

    Viele von ihnen fanden sich ein Jahrzehnt später in der neuen Partei. Von Anfang an waren die Grünen ein Sammelbecken verschiedener linker Intellektueller und Aktivisten, darunter etwa der Künstler Joseph Beuys und die EG-Verwaltungsrätin und Anti-Atomkraft-Aktivistin Petra Kelly. Aber auch Rudi Dutschke, der bis zu seinem frühen Tod kurz vor der Parteigründung eine wichtige Rolle spielte.

    Ende 1979 kam der aus dem DDR-Gefängnis in die Bundesrepublik entlassene Rudolf Bahro dazu, der sich für einen grünen Sozialismus - und gegen die westliche wie östliche "Tonnenideologie" - engagierte - und zeitweilig zu dem links-fundamentalistischen Gegenspieler nicht nur der Gruhl-Fraktion, sondern auch der Pragmatiker wurde. Sein Buch Die Alternative wurde zum Leitmotiv der Bewegung und der Partei, die sich zeitweilig auch danach zu benennen trachtete - und dies etwa in Berlin oder Hamburg als "Alternative Listen" auch taten.

    Von Anfang an gab es jedoch stets einen kardinalen Unterschied zwischen linken und rechten Grünen. Im Mittelpunkt der konservativen Debatte stand früh die demografische Frage: Wie viele Menschen verträgt der Planet? Herbert Gruhls und Hoimar von Ditfurths Klage über eine "exponentielle Vermehrung der Weltbevölkerung" verurteilte die Linke als reaktionäre Abwehr des armen Süden durch den reichen Norden. Tatsächlich plädierte Gruhl für eine Politik der Geburtenplanung, allerdings auch mit Blick auf den Norden:

    "Darum wäre eine wirksame Entlastung der Erde nur dann zu erzielen, wenn die Zahl der Menschen vermindert würde. Dies würde gerade in den Ländern hoher Arbeitsproduktivität am meisten ins Gewicht fallen."

    So kam zusammen, was nicht zusammengehörte - und sich auch sehr alsbald wieder trennen sollte. Was die beiden Flügel jedoch verband, war ihre erstaunliche moralische Unbedingtheit - und der Anspruch der intellektuellen Avantgarde. Von dem niedersächsischen Wertkonservativen Wilhelm Knabe stammte daher auch der prägende Ausspruch:

    "Wir sind nicht links, nicht rechts, sondern vorn."

    Dennoch konnte der Gründungsgegensatz zwischen linken und rechten Grünen mit dem Slogan der "Einheit in der Vielfalt" nur notdürftig kaschiert werden. Dieser sollte in der zweiten Phase - nach der Parteigründung - offen ausbrechen.

    In den 1980er Jahren verloren die Grünen sukzessive ihre vormaligen intellektuellen Aushängeschilder, erst Herbert Gruhl auf der Parteirechten, der anschließend die konservative ÖDP gründete, dann Rudolf Bahro auf der Linken, der sich der Logik der Rettung widmete, so der Titel seines 1987 erschienenen fundamentalökologischen Manifests. Zum Abschied von den Grünen verkündete er:

    "Ich habe endlich verstanden, dass eine Partei ein kontraproduktives Werkzeug ist, dass der gesetzte politische Raum eine Falle ist, in dem Lebensenergie verschwindet."

    Was statt dessen entstand, waren die Strömungen. Von da an dominierten die Strategen der verschiedenen Parteiflügel.

    Zunehmend - befördert auch durch das Rotationsprinzip - übernahmen die Köpfe der sogenannten K-Gruppen die Macht und setzten sich gegenüber den weniger organisierten undogmatisch-linken Basisgruppen durch. Aus dem in Norddeutschland dominierenden Kommunistischen Bund (KB) kam einerseits die "Gruppe Z" um Thomas Ebermann und Rainer Trampert, aber etwa auch Jürgen Trittin.

    Der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) war bald mit seinem Vorsitzenden Joscha Schmierer, aber unter vielen anderen auch mit Ralf Fücks, Reinhold Bütikofer und der bis heute erscheinenden Kommune als intellektuellem Leitorgan dabei. Stärker im Süden der Republik formierten sich die sogenannten Ökolibertären um Winfried Kretschmann, Wolf-Dieter Hasenclever und Thomas Schmid. Sie propagierten einen stark individualistisch freiheitsorientierten Liberalismus und den Rückzug des Staats.

    Die alsbald dominierende Fraktion stellten aber die unideologischeren Frankfurter Spontis um Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer. Fischer selbst trat erst 1982 - nach dem Einzug der Grünen mit acht Prozent in den Hessischen Landtag - den Frankfurter Grünen bei, bezeichnete sich selbst als Realo und rang den bis dahin dominierenden Ökosozialisten um Jutta Ditfurth und Manfred Zieran das Feld kontinuierlich ab.

    Alle diese Flügel beäugten und befehdeten sich aufs Äußerste bei ihrem Kampf um die intellektuelle Deutungshoheit. Die Leitfrage lautete, wer vertritt die wahre linke Linie. Wie dieses Prinzip funktioniert, brachte der Kulturphilosoph Richard Wisser 1981 auf den Punkt:

    "Gleichgültig, wohin man sich selbst hingezogen fühlt, man sieht sich doch von Fall zu Fall gezwungen, die ganz Linken, die extreme Linke, die noch linkeren Linken, die linksten Linken, die Radikal-Linken und die Ultra-Linken, gar - äußerste Konsequenz - die wahren Linken von den weniger Linken zu unterscheiden."

    Von Parteiintellektuellen im eigentlichen Sinne kann man in dieser Zeit jedoch noch nicht sprechen, weil sich eine parteieinheitliche Linie in dieser Phase der Unübersichtlichkeit gar nicht herausbilden konnte. Alles war im Fluss. Und selbst die ursprüngliche Position der Partei wurde alsbald verlassen. Petra Kelly, die hochmoralische Gründungs-Ikone der Partei, hatte in einem SPIEGEL-Interview 1982 den Begriff der "Anti-Parteien-Partei" kreiert, doch bereits drei Jahre später - und nur zwei Jahre nach seinem Parteieintritt - sollte Joschka Fischer das erste Regierungsamt besetzen. Am 27. Oktober 1985 wurde Fischer Umweltminister in Hessen - und nur ein Jahr später erschienen seine ersten Memoiren unter dem reichlich anti-intellektuellen Titel: Regieren geht über studieren.

    Damals konnte Fischer noch nicht vorhersehen, dass er wenige Jahre später - unter umgekehrten Vorzeichen - zu dem eigentlichen und vielleicht einzigen Parteiintellektuellen der Grünen werden sollte. Dafür bedurfte es aber erst einer entscheidenden Zäsur.

    Der Fall der Mauer erwischte die Grünen genau so kalt wie die meisten anderen Linken in der Bundesrepublik, die sich längst mit der dauerhaften Zweiteilung des Landes arrangiert hatten. Für die Grünen allerdings hatte der Mauerfall massive politische Konsequenzen - nur ein Jahr danach wurden sie zu Verlierern der Geschichte. Im Wahlkampf 1990 plakatierten sie trotzig "Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter", verfehlten prompt die Fünf-Prozent-Hürde und flogen aus dem Bundestag. Die einzigen, die dort die grüne Stellung hielten, waren die acht ostdeutschen Abgeordneten und vormaligen Bürgerrechtler von Bündnis '90.

    Damit stand für die Grünen die Existenzfrage im Raum. Die Konsequenz: Das Prinzip "Realpolitik" des Joschka Fischer setzte sich endgültig durch. Realpolitik geriet zur neuen Ideologie, so treffend Wolfgang Kraushaar. Zu einem intellektuellen Leitorgan avancierte dabei der Frankfurter Pflasterstrand mit seinem Chef Daniel Cohn-Bendit, Fischers Intimus. Die Ironie der Geschichte: Der Kopf dieses dezidiert antiintellektuellen, da hoch pragmatischen "Prinzips Realpolitik", Joschka Fischer, übernahm in der Folge selbst die Rolle des Parteiintellektuellen. Die verbliebenen radikalen Linken - wie Jutta Ditfurth und Thomas Ebermann - verließen darüber frustriert die Partei.

    1993 erschien das Buch Die Linke nach dem Sozialismus - Fischers Abrechnung mit dem gescheiterten real existierenden Sozialismus.

    "Die Linke nach dem Sozialismus wird sich, wenn sie ihre eigenen Grundsätze ernst nimmt, niemals wieder mit Verhältnissen abfinden, die sich gegen die Freiheit und die Menschenrechte richten."

    Bereits der Titel war Programm: "Nach dem Sozialismus" bedeutet, für Fischer geht es nicht mehr um eine sozialistische Systemalternative, sondern bloß um sozial-ökologische Korrekturen im Haus des Siegers der Geschichte, dem real existierenden Kapitalismus.

    Das eigentliche Ziel war die Herstellung der grünen Regierungsfähigkeit, wie Fischer es bereits 1989 unter dem Titel Mehrheitsfähig, in seinem "Plädoyer für eine neue linke Politik" verkündet hatte. Dafür bedurfte es der politischen Anschlussfähigkeit an das politische Establishment. In der Auseinandersetzung der 1990er Jahre mit dem neu aufbrechenden Nationalismus wurde daher mehr und mehr das korporatistische "Modell Deutschland" der "Bonner Republik" und sein "Rheinischer Kapitalismus" das Ziel Fischers und der Realos - bei gleichzeitiger Absetzung von allen Systemalternativen.

    Fischers langer Weg nach Westen - und in seinem Gefolge der Grünen insgesamt - führte letztlich zur linken Anerkennung und Spätabsegnung der Bundesrepublik. Die grünen Debatten der 1990er Jahre standen somit im Zeichen einer Geschichtspolitik zu höchst gegenwärtigen Zwecken. Das galt vor allem für die Außenpolitik: Zeitgleich mit den rassistischen Anschlägen in Deutschland flammten auf dem Balkan die nationalistischen Sezessionskriege auf. Joschka Fischer erkannte, dass es für die Herstellung der grünen Regierungsfähigkeit auch auf dem internationalen Feld einer entscheidenden Wende der grünen Antikriegspartei bedurfte.

    Hatte die grüne Gründungsratio der 1980er Jahre vor dem Hintergrund der atomaren Wiederbewaffnung noch "Nie wieder Krieg" gelautet, wurde diese nun sukzessive durch "Nie wieder Auschwitz" ersetzt. An Stelle des kategorischen Neins zu jeder Kriegsbeteiligung trat die liberale Interventionspflicht Deutschlands im Rahmen von UN-Missionen als Teil und Aufgabe des Westens.

    Obwohl Fischer anfänglich Parteitage meist als Abstimmungsverlierer verließ, gelang es ihm, die einstige Bewegungspartei binnen einer Dekade fundamental zu drehen. Bei alledem hatte der Metzgersohn aus dem Schwäbischen stets einen lautstarken Vorturner und agent provocateur, den alten Kompagnon Daniel Cohn-Bendit an seiner Seite. Die Versuchsanordnung war immer gleich: Der Agitator Cohn-Bendit preschte mit einer medialen Provokation vor, um sich von seinen Gegnern anschließend als Bellizist geißeln zu lassen, und Joschka Fischer arrondierte dann die von Cohn-Bendit in den Medien erzielten Geländegewinne.

    Auf diese Weise bestimmte der einstige Frankfurter Streetfighter mehr und mehr die grünen Diskurse. Derweil Fischer seit seinem Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag 1994 zum eigentlichen Gegenspieler des Bundeskanzlers und zum wahren linken Oppositionsführer im Parlament avancierte, strichen alle anderen Strömungen sukzessive die Segel. So seine einstigen Gegenspieler die Partei nicht verließen, formierten sie sich zu mehr oder weniger devoten Hilfstruppen auf dem Wege zur Regierungsfähigkeit - von Ralph Fücks bis Jürgen Trittin, von Antje Vollmer bis Ludger Volmer.

    Am Ende des langen Marsches durch die Institutionen, dem rot-grünen Sieg bei den Bundestagswahlen zum 27. Oktober 1998, stand Joschka Fischer für die Grünen wie Guido Westerwelle 2009 für die FDP. Er war der ideelle und intellektuelle Gesamtgrüne geworden. Und mit dem Eintritt in den Kosovo-Krieg durch Rot-Grün - ohne UN-Mandat, aber, Legitimität vor Legalität, um ein weiteres Srebrenica, sprich: "Auschwitz zu verhindern" - vollendete sich hochideologisch überschrieben die hyperpragmatische Wende der Grünen zu einer neuen Realpolitik. Immer getreu der Devise des neuen Außenministers Joschka Fischer:

    "Es gibt keine grüne, sondern nur deutsche Außenpolitik."

    Was aber befähigte Fischer, in derartiger Weise zu dem Parteiintellektuellen der Grünen zu werden? Entscheidend dafür war sein enormes Sensorium für Macht - nicht zuletzt für deren parteipolitische Innenausstattung, Keiner bei den Grünen besaß derartiges Gespür - auch diesen enormen Willen zur Macht - wie Joschka Fischer. Hinzu kam, neben seinem enormen rhetorischen Talent, dass er von Anfang an eine besondere Beziehung zu den Medien unterhielt.

    Damit begann Fischer sein eigenes biografisches Erleben als großen inneren Lernprozess - mit diversen Häutungen - zu deuten, als den letzten großen intellektuellen Bildungsroman der alten Bundesrepublik. Jene rhetorische und mediale Dominanz erzeugte die intellektuelle Überfigur Fischer, die die grüne Politik der letzten zwanzig Jahre entscheidend prägen sollte.

    Nach dem Abgang ihrer Führerfigur wurde es ruhiger um die Grünen. Längst hatte die "einstige Partei neuen Typs" einen Verbürgerlicherungsprozess durchlaufen, waren die Grünen eine arrivierte Partei geworden, ohne allzu sehr durch intellektuelle Debatten aufzufallen. Heute verfügen die Grünen über kluge Experten auf allen Feldern, aber über keine prägnanten Parteiintellektuellen mehr.

    Als die Fokussierung auf Fischer endete, wurde gleichzeitig deutlich, wie sehr die einstigen grünen Strömungen sich zerstreut hatten, vor allem in den öffentlichen Raum der Medien. Bernd Ulrich, einst politischer Adlatus von Antje Vollmer, fungiert heute als stellvertretender Chefredakteur der Hamburger Zeit und arbeitet dort zielgerichtet auf ein schwarz-grünes Projekt unter Angela Merkel oder Norbert Röttgen.

    Thomas Schmid, ehemaliger Chefideologe des "Revolutionären Kampfes", der Frankfurter Betriebskampfgruppe von Joschka Fischer, und späterer Vordenker der "Ökolibertären", ist heute Herausgeber von Springers Welt. Derweil führt Jürgen Reents, Mitglied der ersten grünen Bundestagsfraktion, im Organ der Linkspartei "Neues Deutschland" bizarre Debatten über Sinn und Unsinn des Kommunismus.

    Im Zuge dieser Zerstreuung verloren die Grünen als Partei sukzessive auch die intellektuelle Deutungshoheit über die politischen Debatten.

    Doch dann geschah das Unvorhersehbare - der GAU von Fukushima. Was sich bereits durch den Kampf gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeiten angekündigt hatte, trat ein: Schlagartig kehrte der Gründungsmythos der Grünen, der Kampf gegen das Atom, in die Diskurse zurück - und mit ihm die Menschheitsfragen der 1980er Jahre. Die Grünen, eben noch angepasst und angekommen, erschienen plötzlich wieder als die einzige Partei, die die entscheidenden Fragen stellt.

    Mit Winfried Kretschmann, dem ersten grünen Ministerpräsidenten, haben die Grünen heute ein neues Gesicht und eine neue, durchaus eine geistig führende und nicht bloß realpolitische dominierte Leitfigur, die allein durch ihre kantige Knorzigkeit als intellektuelles Gegenmodell zur Berliner Oberflächlichkeit erscheint. Kretschmann, ein zutiefst bürgerlicher Grüner aus dem Ländle, der seine kurze links-radikale Geschichte als Mitglied des KBW längst als Jugendsünde ansieht und für eine Partei jenseits von links und rechts plädiert. Denn:

    " Die baden-württembergischen Grünen waren schon immer eine bürgerliche Partei, die sich nicht als linke Partei verstanden haben."

    Kretschmann war der erste Grüne, der schon 1982 für rot-grüne Koalitionen eintrat - und ebenso offen auch eine schwarz-grüne Kooperation für erstrebenswert hielt. Damit haben sich ideologisch wie intellektuell jene Kräfte durchgesetzt, die seit langem auf eine bürgerliche Neugründung der Partei setzen. Heute ist die Stunde der bürgerlichen Vordenker bei den Grünen gekommen - nämlich des 1988 auch gegen die rot-grünen Realos gegründeten "Aufbruchs" um Ralf Fücks und Antje Vollmer wie der bereits 1983 gegründeten "Ökolibertären" um Kretschmann und Thomas Schmid.

    Unmittelbar nach der Bundestagswahl vom 6. März 1983, die den Grünen bei ihrem zweiten Antreten gleich 5,6 Prozent der Stimmen und damit den Einzug ins Parlament bescherte, hatte Thomas Schmid diesen Weg präferiert. Er setzte dezidiert

    "auf das gehobene neue Bürgertum, dem der um konkrete Erfolge eher unbesorgte Radikalismus der szenischen Linken fremd ist".

    Deshalb war es nach Schmid noch nie falsch, dass die Grünen eine "'bürgerliche Partei", eine "grüne Mittelschichtpartei" sind, im Gegenteil:

    "Eine glückliche Fügung wollte es, dass den Grünen der Platz links außen neben der SPD erspart blieb."

    Die eigentlich Koalitionspräferenz wird bei Schmid bereits 1983 deutlich: Gegen die "flächendeckende Sozialstaatlichkeit" der SPD gebe das "Konzept der Mitte", das Union und Grüne verbindet, die richtige, "flexible Antwort auf die Aporien des Sozialstaats".

    Heute scheint Schwarz-Grün im Bund nur noch eine Frage der Zeit. Trotzdem antwortet Winfried Kretschmann auf die Frage, "Wer beeindruckt Dich in der grünen Geschichte am meisten?", ohne zu zögern:

    "Keine Frage, Petra Kelly. Auch wenn ich ein Miterfinder der Realos bin: Mit ihrem Charisma und überschäumenden Idealismus hat sie erst die Stimmung geschaffen, die die Partei über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft hat."

    Kretschmann weiß natürlich: Der Erfolg der Grünen ist ohne ihren quasireligiösen Überschuss der Anfangsjahre nicht zu denken. Diese auch intellektuelle Unbedingtheit findet sich bei allen drei großen linken Gründungsfiguren der deutschen Grünen: Petra Kelly, Rudolf Bahro und Rudi Dutschke.

    Heute jedoch haben die Grünen tatsächlich den Gründungsanspruch von Wilhelm Knabe erfüllt, nicht links oder rechts, sondern nur vorn sein zu wollen.

    Sie repräsentieren in ökologischen Fragen des Postwachstums die politische Avantgarde - mit Ausstrahlung selbst auf die CSU. Was den Grünen dagegen ersichtlich fehlt, sind die überragenden intellektuellen Solitäre der Anfangsjahre. Denn echte Intellektualität erfordert Distanz - und den Mut zur Dissidenz auch gegenüber dem eigenen Lager. Davon aber gibt es in den Grünen gegenwärtig nicht mehr allzu viel, der offene intellektuelle Schlagabtausch ist Mangelware geworden.
    So lässt sich die Geschichte der Grünen auch als Projekt einer schleichenden Entintellektualisierung lesen - unter ständigem Druck einer primär machtorientierten Realpolitik. Unabhängige Wertkonservative wie Carl Amery, aber auch sozialistisch-ökologische Visionäre wie Rudolf Bahro sucht man vergebens. Dabei brachten gerade sie in der ganzen Breite ihrer Positionen die einstige produktive Spannung der Grünen erst hervor.

    Vom intellektuellen grünen Gründungsauftrag - die Spannung zwischen universalistisch grundierter Fundamentalkritik und pragmatischer Politik auszuhalten - ist heute in der gewandelten Experten-Partei für ökologische Sach- und Fachfragen nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Aber vielleicht war ja gerade dieser kontinuierliche Schwund an unabhängiger Intellektualität das eigentliche Erfolgsrezept der Grünen - bei ihrem schier unaufhaltsamen Marsch durch die Institutionen.