Kathrin Schmidts Roman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" löst bei der Kritik Zustimmung und regelrechte Begeisterung aus, der Roman ist ein Favorit der Buchsaison, wird fleißig besprochen und ist im Gespräch. Beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewann Kathrin Schmidt im Frühsommer den zweiten Preis, um ein Haar wäre es der erste gewesen. Gepriesen wurden all die auch eingangs dieser Rezension aufgezählten Qualitäten. Gepriesen wird in der Kritik aber auch das, angeblich mutige, wuchtige, augenöffnende Thema, von dem hier noch nicht die Rede war. Bei diesem Thema, heißt es, handele es sich um nichts weniger als den utopischen Versuch, die deutsche Geschichte des Jahrhunderts inklusive Weltkriegen, Nationalsozialismus, deutscher Teilung und Mauerbau in eine matrilineare und matriarchale Erzählperspektive zu verlegen. Die Macht der Frauen wäre demnach das Thema. Schön wär's. Es ist aber anders.
Denn das eigentliche Thema von Kathrin Schmidts Roman ist die Macht, genauer: die Potenz der Biologie der Frauen - und das ist ein kleiner Unterschied ums Ganze. Denn die Frauen im Familienstammbaum von Josepha Schlupfburg, die in den 70er Jahren als Druckerin in der DDR lebt und die Hauptperson des Romans ist, sowie ihrer Urgroßmutter Therese Schlupfburg, mit der die Urenkelin ungeheuer gemütlich und idyllisch in einer altdeutsch-plebejischen Erzählwelt zwischen Kohlsuppe und Ohrensessel zusammenlebt, all diese gut im Fleisch stehenden Ottilien, Theresen, Josephas verdanken ihre angeblich antipatriarchalen Triumphe entweder ihrem zur Hexenmagie gesteigerten Unbewußten oder den in den Superlativ gesteigerten Funktionen ihrer primären Geschlechtsorgane. So gibt es unter den Schlupfburg-Weibern, welche ihre zahlreichen Kinder unisono ohne Männer großziehen, eine knapp 60jähripe, die weit jenseits des Klimakteriums ein Kind empfängt und gebärt. Eine andere bringt in einer sogenannten Sturzgeburt Zwillinge zur Welt, die zunächst klitzeklein sind, dann aber die Medizin auf den Kopf stellen und wie rasend wachsen, vom Morgen bis zum Mittag, um märchenhafte fünf Zentimeter. Die Milch der Sturzgeburt-Mutter hat es tatsächlich in sich. Sie fließt kübelweise aus der Mutterbrust, sie spritzt unlenkbar und und unbremsbar durch den Kreißsaal, überschwemmt den Boden und kreuzt sich in der Luft mit der Spermafontäne eines anwesenden, die Geburt behördlich regierenden Amtsmannes, den es angesichts der ungeheuren Drüsenproduktion überkommt. Noch jahrelang hängt er buchstäblich am Busen der Frau und ernährt sich von deren nie versiegender Milch. Kathrin Schmidts Roman ist eine einzige große Feier der Gebärfreudigkeit und der Gebärlust. Nicht umsonst haben die Frauen Schlupfburg diesen Namen.
Aber wie bei jeder Feier sind auch hier die Grellheit, der vorsätzliche Verstoß gegen den bürgerlichen Geschmack und die Übertriebenheit verdächtig. Was der rasende, aber zunehmend auch dramaturgisch starre Kreislauf von drallen Zeugungen und spektakulären Geburten vertuscht, ist die nahezu reaktionäre Rückwärtsgewandtheit des Weiblichkeitsentwurfs. Ein gängiger und gnadenloser Einwand gegen Bücher, die die Gegenwart verschlafen, lautet, es handele sich dabei um 19. Jahrhundert. Bei Kathrin Schmidt zieht dieser Einwand nicht. Denn das 19. Jahrundert brachte mit sich und der Welt im Widerspruch stehende Frauenfiguren wie Emma Bovary und Anna Karenina hervor, während Kathrin Schmidts Erzählwelt aus einer Art Kunstmittelalter entsteht, in dem widerspruchsfreie Einfalt und Einheit herrscht zwischen biologischer Bestimmung und Bewußtsein, zwischen "sex" und "gender". Das Gedächtnistheater, das Josepha und Therese in neun Akten, das heißt, in neun Buchkapiteln inszenieren, ist eine Zeitreise mit magisch-schamanistischen Zügen. Josepha ist schwanger, und ohne Worte ist sie sich mit Therese einig, daß das Kind, das da erwartet wird, eine Geschichte braucht, die sie ihm verschaffen werden. Ihre Gedächtnisforschung nennen sie die Gunnar-Lennefsen-Expedition. In neun nächtlichen Sitzungen treten sie die Expedition an. Sie rüsten sich mit ein paar symbolischen, die Vergangenheit speichernden Gegenständen, spannen dann, wie es heißt, eine imaginäre Leinwand auf und versinken in Bildern und Geschichten, die ihnen der helle Tag und das kognitive Gedächtnis offenbar verweigern. Therese, die Urgroßmutter, spielt dabei die Rolle des Mediums. Auch äußerlich verjüngt sie sich bei der Erinnerungsseance und kehrt an deren Ende erschöpft zu ihrem authentischen Körper zurück.
Ausdrücklich markiert der Roman das ganze Unterfangen als ein weibliches Projekt, als eine männlicher Geschichtsschreibung entgegengesetzte Erinnerungsarbeit. Daß eine so befähigte, so intelligente Autorin wie Kathrin Schmidt einen 430 Seiten langen Roman diesem simplen, aus der Frühzeit des westdeutschen Feminismus stammenden Geschlechterantagonismus ausliefert, ist mindestens so enttäuschend wie das Verhalten der Kritik, die reflexhaft dieses geisttötende Männlich-Weiblich-Schema aufgreift. Groß ist die Dankbarkeit für die deutlichen und erholsam undifferenzierten Verhältnisse in diesem Buch. Seine Erzählwelt ist märchenhaft einfach und weiß Gott nicht utopisch. Sein Horizont ist eng und deshalb langweilig. Verdrängt werden Ambivalenzen und Widerspüche, verdrängt wird die Tatsache, daß die sogenannten weiblichen Formen der Erinnerungsarbeit natürlich auch Männersache sind, daß ihr Pate Marcel Proust heißt, daß sie bei Claude Simon, Hubert Fichte, Peter Handke zu finden sind, um nur ein paar sehr unterschiedliche Schriftsteller männlichen Geschlechts zu nennen. Verdrängt wird alles, was zur Gegenerfahrung gehört und nicht ins Konzept superintakter Weiblichkeit paßt. So legt man das Buch am Ende weg, halbwegs vergnügt von seiner Fabuliererei, aber um keinen Gedanken reicher, und schaltet den Fernseher an. Dort tritt in einer Talk-Show eine transsexuelle Frau auf, die bis vor kurzem der männliche Bürgermeister einer kleinen ostdeutschen Stadt war und nun dafür kämpft, durch Neuwahlen Bürgermeisterin zu werden. Wahnsinn, denkt man, Wahnsinn, was es in der Wirklichkeit alles gibt und in der Literatur nicht.
Denn das eigentliche Thema von Kathrin Schmidts Roman ist die Macht, genauer: die Potenz der Biologie der Frauen - und das ist ein kleiner Unterschied ums Ganze. Denn die Frauen im Familienstammbaum von Josepha Schlupfburg, die in den 70er Jahren als Druckerin in der DDR lebt und die Hauptperson des Romans ist, sowie ihrer Urgroßmutter Therese Schlupfburg, mit der die Urenkelin ungeheuer gemütlich und idyllisch in einer altdeutsch-plebejischen Erzählwelt zwischen Kohlsuppe und Ohrensessel zusammenlebt, all diese gut im Fleisch stehenden Ottilien, Theresen, Josephas verdanken ihre angeblich antipatriarchalen Triumphe entweder ihrem zur Hexenmagie gesteigerten Unbewußten oder den in den Superlativ gesteigerten Funktionen ihrer primären Geschlechtsorgane. So gibt es unter den Schlupfburg-Weibern, welche ihre zahlreichen Kinder unisono ohne Männer großziehen, eine knapp 60jähripe, die weit jenseits des Klimakteriums ein Kind empfängt und gebärt. Eine andere bringt in einer sogenannten Sturzgeburt Zwillinge zur Welt, die zunächst klitzeklein sind, dann aber die Medizin auf den Kopf stellen und wie rasend wachsen, vom Morgen bis zum Mittag, um märchenhafte fünf Zentimeter. Die Milch der Sturzgeburt-Mutter hat es tatsächlich in sich. Sie fließt kübelweise aus der Mutterbrust, sie spritzt unlenkbar und und unbremsbar durch den Kreißsaal, überschwemmt den Boden und kreuzt sich in der Luft mit der Spermafontäne eines anwesenden, die Geburt behördlich regierenden Amtsmannes, den es angesichts der ungeheuren Drüsenproduktion überkommt. Noch jahrelang hängt er buchstäblich am Busen der Frau und ernährt sich von deren nie versiegender Milch. Kathrin Schmidts Roman ist eine einzige große Feier der Gebärfreudigkeit und der Gebärlust. Nicht umsonst haben die Frauen Schlupfburg diesen Namen.
Aber wie bei jeder Feier sind auch hier die Grellheit, der vorsätzliche Verstoß gegen den bürgerlichen Geschmack und die Übertriebenheit verdächtig. Was der rasende, aber zunehmend auch dramaturgisch starre Kreislauf von drallen Zeugungen und spektakulären Geburten vertuscht, ist die nahezu reaktionäre Rückwärtsgewandtheit des Weiblichkeitsentwurfs. Ein gängiger und gnadenloser Einwand gegen Bücher, die die Gegenwart verschlafen, lautet, es handele sich dabei um 19. Jahrhundert. Bei Kathrin Schmidt zieht dieser Einwand nicht. Denn das 19. Jahrundert brachte mit sich und der Welt im Widerspruch stehende Frauenfiguren wie Emma Bovary und Anna Karenina hervor, während Kathrin Schmidts Erzählwelt aus einer Art Kunstmittelalter entsteht, in dem widerspruchsfreie Einfalt und Einheit herrscht zwischen biologischer Bestimmung und Bewußtsein, zwischen "sex" und "gender". Das Gedächtnistheater, das Josepha und Therese in neun Akten, das heißt, in neun Buchkapiteln inszenieren, ist eine Zeitreise mit magisch-schamanistischen Zügen. Josepha ist schwanger, und ohne Worte ist sie sich mit Therese einig, daß das Kind, das da erwartet wird, eine Geschichte braucht, die sie ihm verschaffen werden. Ihre Gedächtnisforschung nennen sie die Gunnar-Lennefsen-Expedition. In neun nächtlichen Sitzungen treten sie die Expedition an. Sie rüsten sich mit ein paar symbolischen, die Vergangenheit speichernden Gegenständen, spannen dann, wie es heißt, eine imaginäre Leinwand auf und versinken in Bildern und Geschichten, die ihnen der helle Tag und das kognitive Gedächtnis offenbar verweigern. Therese, die Urgroßmutter, spielt dabei die Rolle des Mediums. Auch äußerlich verjüngt sie sich bei der Erinnerungsseance und kehrt an deren Ende erschöpft zu ihrem authentischen Körper zurück.
Ausdrücklich markiert der Roman das ganze Unterfangen als ein weibliches Projekt, als eine männlicher Geschichtsschreibung entgegengesetzte Erinnerungsarbeit. Daß eine so befähigte, so intelligente Autorin wie Kathrin Schmidt einen 430 Seiten langen Roman diesem simplen, aus der Frühzeit des westdeutschen Feminismus stammenden Geschlechterantagonismus ausliefert, ist mindestens so enttäuschend wie das Verhalten der Kritik, die reflexhaft dieses geisttötende Männlich-Weiblich-Schema aufgreift. Groß ist die Dankbarkeit für die deutlichen und erholsam undifferenzierten Verhältnisse in diesem Buch. Seine Erzählwelt ist märchenhaft einfach und weiß Gott nicht utopisch. Sein Horizont ist eng und deshalb langweilig. Verdrängt werden Ambivalenzen und Widerspüche, verdrängt wird die Tatsache, daß die sogenannten weiblichen Formen der Erinnerungsarbeit natürlich auch Männersache sind, daß ihr Pate Marcel Proust heißt, daß sie bei Claude Simon, Hubert Fichte, Peter Handke zu finden sind, um nur ein paar sehr unterschiedliche Schriftsteller männlichen Geschlechts zu nennen. Verdrängt wird alles, was zur Gegenerfahrung gehört und nicht ins Konzept superintakter Weiblichkeit paßt. So legt man das Buch am Ende weg, halbwegs vergnügt von seiner Fabuliererei, aber um keinen Gedanken reicher, und schaltet den Fernseher an. Dort tritt in einer Talk-Show eine transsexuelle Frau auf, die bis vor kurzem der männliche Bürgermeister einer kleinen ostdeutschen Stadt war und nun dafür kämpft, durch Neuwahlen Bürgermeisterin zu werden. Wahnsinn, denkt man, Wahnsinn, was es in der Wirklichkeit alles gibt und in der Literatur nicht.