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Die gute Partei

EIgentlich hatten sie das Image der Protestpartei schon längst abgelegt, doch in Zeiten von Atomlaufzeitverlängerung und Stuttgart 21 verzeichnet die ehemalige "Dagegen-Partei" immer mehr Zulauf. In Freiburg soll nun der richtige Weg zwischen "back to the roots" und der Partei der Zukunft gefunden werden.

Von Stefan Maas | 21.11.2010
    "Wie kommen sie denn da drauf?"

    Winfried Kretschmann amüsiert sich. Über den Vergleich mit einem Popstar. Immerhin ist er 62 Jahre alt. Mit seinem weißgrauen Bürstenhaarschnitt und dem blauen Sakko wirkt er eher väterlich. Und doch. Wo immer er hingeht, hier auf dem Gelände der Freiburger Messe. Immer sind Menschen da, die ihn begrüßen, ihm die Hand schütteln, ein Foto haben wollen. Denn Kretschmann, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Baden-Württembergischen Landtag ist ein Hoffnungsträger. Nicht auszuschließen, dass er der erste grüne Ministerpräsident wird bei der Landtagswahl im kommenden März. Doch so recht wohlfühlt sich der ehemalige Gymnasiallehrer noch nicht in dieser Rolle.

    "Naja, ist gewöhnungsbedürftig. Wir verwechseln schon oft genug Politik mit Theater. Das ist nicht so recht meine Baustelle. Aber es gehört dazu. Es ist ja auch eine schöne Herausforderung. Aber man muss immer auf dem Teppich bleiben. Das ist wichtig","

    sagt Kretschmann in einem ruhigen Moment. Da ist es schon wieder einige Stunden her, dass er tosenden Applaus bekommen hat am Ende seiner Rede. Das Thema: Natürlich: Stuttgart 21 – die Beziehung zwischen Politik und Bürger und die Verantwortung, die Regieren mit sich bringt. Danach muss er sich erst einmal setzen, durchatmen. Bitte jetzt keine Interviews. Zieht das Jackett aus, hängt es über die Stuhllehne. Aber keine Chance. Da sind sie schon wieder, die Journalisten, die Kameras. – Und auch der Vorsitzende Cem Özdemir kommt an seinen Tisch, sein Landsmann aus Baden-Württemberg. Kretschmann steht unter Beobachtung. Genau wie seine Partei. Die Umfragewerte im Bund bewegen sich in der Sonntagsfrage seit Wochen solide zwischen 22 und 24 Prozent. Innerhalb eines Jahres sind die Mitgliederzahlen explodiert. Mehr als 51-tausend sind es jetzt. Von fast allen Seiten fliegen den Grünen die Stimmen zu, sagt Reinhard Schlinkert vom Meinungsforschungsinstitut infratest-dimap:

    ""Bei den Grünen sieht es im Moment so aus, dass sie von allen gewinnen. Sie gewinnen relativ stark von den Nichtwählern, sehr stark von der SPD und etwa in der gleichen Größe von den Linken und der FDP."

    Damit haben die Grünen etwas Bemerkenswertes geschafft, sagt Katharina Rahlf vom Göttinger Institut für Demokratieforschung:

    "Es ist paradox, denn in diesem Fall ist es den Grünen irgendwie gelungen, sich wieder als eine Protestpartei darzustellen. Und eigentlich haben sie dieses Image ja schon längst abgelegt. Das haben sie ja auch immer wieder betont. Wir waren mal eine Anti-Parteien-Partei und gegen das System. Aber mittlerweile hat man zu gemäßigteren Mitteln gefunden. Man hat sich etabliert im Parteiensystem. Man macht es vielleicht ein bisschen anders, aber im Grunde nur besser als die anderen. Und doch ist es ihnen jetzt gelungen, sich an die Spitze einer Protestbewegung zu stellen, die aber auch gegen Politik und politische Wege protestiert. Und das ist schwierig, denn so leisten sie natürlich auch der Politikverdrossenheit oder noch stärker der Politikerverdrossenheit Vorschub."

    Einen Vorwurf werden die Grünen an diesem Wochenende immer wieder zurückweisen. Eine Partei der Protestierer. Ja, das könne man sagen. Sagt die Bundesvorsitzende Claudia Roth

    "Für mich ist das überhaupt kein Widerspruch. In dem Moment, wo ich in einer Partei bin, zumal in einer grünen Partei oder in dem Moment, wo ich in einem Parlament bin, heißt das doch nicht, dass meine demokratische Verpflichtung zur Ausübung des Demonstrationsrechts, zur Ausübung des zivilen Widerstandes an den Nagel gehängt wird."

    Aber eine Dagegen-Partei? Die sich einfach an die Spitze einer Bewegung gesetzt hat? Einfach blockieren will? Beim Castor-Transport, zu dem die gesamte Bundesspitze ins Wendland gereist war? Und bei Stuttgart 21? Nein. Das sicher nicht. Immerhin waren die Grünen von Anfang an gegen das Projekt, sagt Kretschmann:

    "Das ist eine Fehleinschätzung. Der Protest ist zu uns gekommen. Denn wir kämpfen gegen Stuttgart 21 seit 15 Jahren. Das zeigt ja, dass es umgekehrt ist. Nicht wir zum Protest, sondern der Protest zu uns gekommen ist. Es geht da schon um die Sache."

    Aber können sie der Sache treu bleiben, wenn die Versuchung, an die Macht zu kommen, so groß ist? Und reichen ihre Konzepte eigentlich, um in den sechs Landtagswahlkämpfen 2011 zu bestehen? Bleiben sich die Grünen selbst treu? Das sind für viele die großen Fragen auf diesem Parteitag. Nach Feiern sei ihnen jedenfalls nicht zumute, sagen sie. Stattdessen verweisen sie demonstrativ auf ihre Bodenhaftung. Und beschwören immer wieder ein Bild. Den Teppich, auf dem sie bleiben:

    "Ich habe Vorfahren aus dem Orient. Insofern kenne ich mich mit fliegenden Teppichen gut aus, und ich kann Euch sagen, man schafft´s auf dem Teppich zu bleiben."

    Zu finden ist eher eine gewisse Zurückhaltung. Wie bei Reiner Priggen, dem Fraktionsvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen. Dort regieren die Grünen seit Mai mit der SPD. Und das damals prächtige Wahlergebnis von 12 Prozent wirkt geradezu mickrig gegen die heutigen Umfragewerte. Doch noch hat die rot-grüne Minderheits-Regierung ihre große Prüfung nicht bestanden: Noch muss im Dezember der Nachtragshaushalt beschlossen werden. Scheitert er, käme es zu vorgezogenen Neuwahlen:

    "Also ich bin ganz vorsichtig. Das ist ein Hype. Man hat bei der FDP erlebt, wie das ist, wenn man mit 15 und mehr Prozent hochgeblasen wird und dann eine unsägliche Politik macht und abstürzt. Wir sind ganz nüchtern an der Stelle. Auf der anderen Seite wissen wir, wir machen Politik 25,30 Jahre, wir sind alle mittlerweile gut ausgebildete, hochgebildete Leute, die vielfach in Führungspositionen sind. Und in der Bevölkerung wird offensichtlich anerkannt, dass wir eine klare inhaltliche Linie haben. Da wo die FDP eine Lobbypartei ist für Hoteliers, für Glückspielindustrie, für Pharmalobbys, da ist klar, dass die Grünen nicht von so etwas abhängig sind, sonder an inhaltlichen Linien auch durchaus streiten, Politik entwickeln und ein Stück weit wird auch das honoriert aber ich halte die Werte insgesamt für überhöht."

    Diese Linie herauszuarbeiten, das Profil zu schärfen, darum geht es der Parteispitze an diesem Wochenende. Und es ist kein Zufall, dass die Grüne Partei ausgerechnet Freiburg gewählt hat für ihren Parteitag. Nicht nur wegen der kommenden Landtagswahl. Freiburg ist eine grüne Vorzeigestadt. Grün ist mehrheitsfähig. Auf dem Schauinsland, dem Freiburger Hausberg, thronen riesige Windräder. Whyl ist nur wenige Kilometer entfernt. Jener Ort, der in den Siebzigern zum Symbol des Widerstandes wurde: gegen die Atomkraft. Dort entstand die Bewegung, aus der vor 30 Jahren die Grünen hervorgingen. Und auch wenn sie sich betont demütig geben angesichts der Umfragewerte. So strotzen Renate Künast und Claudia Roth doch vor Selbstbewusstsein:

    "Es geht noch um eine ganz neue politische Aufgabe. Und die können nur wir Grünen. Wenn wir gucken, wie viele im Bürgertum auf die Straße gehen, dann fällt mir was auf: Dass es darum geht, das Bild von Demokratie im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Wisst ihr, es liegt auf der Straße eines, dass sie den alten Volksparteien nicht mehr trauen, aber eine Partei suchen, die mit ihnen gemeinsam Demokratie im 21. Jahrhundert entwickelt. Das seid ihr. Das sind wir."

    "Wir wollen in Bremen gestärkt grün weiterregieren. In Baden-Württemberg mit Kretsch, und mit euch in Berlin mit Renate und mit euch, da spielen wir auf Sieg und nicht auf Platz und ich bin überzeugt, wir können es schaffen."

    "Auftrag grün". Das ist das Motto des Parteitages. Noch muss die Partei zwar um die Kunden werben, um den Auftrag auch wirklich zu erhalten, aber Geschäftsführerin Steffi Lemke bemüht sich, bei möglichst vielen Gelegenheiten zu erwähnen:

    "Wir werden hier mit unserem Parteitag total schuften und ackern, bis die Köpfe qualmen."

    Auf der Tagesordnung steht die Energiepolitik der Zukunft: 100 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien bis 2030. 100 Prozent der Wärme bis 2040. Energiesparfonds "in Höhe von drei Milliarden Euro" für Wärmedämmung und Energieeffizienz in Wohnungen einkommensschwacher Bürger. Der Atomausstieg inklusive der Endlagerfrage: Gorleben soll sofort geschlossen werden. Die Suche nach einem Endlager soll ergebnisoffen geführt werden. Gorleben aber ist ganz raus. Die finanzielle Lage der Kommunen ist auch ein großes Thema: Die brauchen mehr Geld. Die Gewerbesteuer bleibt und soll auch auf Freiberufler ausgeweitet werden. Nebenbei wird noch der Frieden im Nahen Osten abgehandelt. Und am Sonntag dann: die Bürgerversicherung: Bei diesem Thema stehen die Grünen vor einem Problem. Vor einem Finanzierungsproblem von 60 Milliarden Euro. Und weil die Grünen realistisch sein wollen, entscheiden sie sich fürs Extrem. Denn nur das füllt die Kasse. Das Ergebnis: Gutverdienende sollen nach dem Ende der privaten Krankenversicherung in der gesetzlichen mehr zahlen, damit für alle die Beiträge deutlich sinken können. Die Beitragsbemessungsgrenze wird angehoben auf 5500 Euro. Nicht gerade ein Geschenk an potenzielle Grüne Wähler, die sich gerade unter den gut Gebildeten, Besserverdienenden finden. Aber eine Antwort auf die falsche Soziale Umverteilung, sagt Kerstin Andreae, die Sprecherin für Wirtschaftspolitik:

    "Es ist so, dass uns Menschen wählen, die sagen: Solidarität ist uns wichtig. Breite Schultern können mehr tragen, und breite Schultern müssen mehr tragen. Wir erleben jetzt ein Sparpaket von der Bundesregierung, das nur bei den Menschen spart, die sowieso nichts haben. Das ist sozial ungerecht. Und das ist nicht darstellbar aus grüner Sicht und deswegen heißt es bei uns: breit auf alle Schultern verteilen. Besonders auf die, die mehr haben. Und diesen Solidaritätsgedanken erlebe ich bei sehr vielen Menschen."

    Die Grünen – eine Partei, die sich durch gute Umfragewerte die ernsthafte Politik nicht abgewöhnen lasse. Die auch in Wahlkampf-Zeiten unbequeme Wahrheiten nicht scheue, sagt der Vorsitzende:

    "Wer uns wählt, der weiß, er bekommt auch Zumutungen. Ein Wohlfühlprogramm sieht sicherlich anders aus als das, was Bündnis 90/Die Grünen vorhat, lasst mich mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 sagen: Wir dürfen und wir werden den anderen den Gefallen nicht tun, dass wir unsere Konzepte nicht durchrechnen. Die Zeiten sind vorbei, dass wir im Zweifelsfall die Milliarden aus dem Ehegattensplitting gleich zweimal ausgeben konnte. Wir dürfen und wir müssen Ehrlichkeit wagen."

    Nun ist es mit der Ehrlichkeit nicht allzu schwer, wenn man strittige Themen einfach meidet. So wie auf diesem Parteitag. Große Kontroversen? Fehlanzeige. Die Positionen sind so gut wie unumstritten. Mögliche Konflikte wurden schon im Vorfeld entschärft – andere Themen im Abend versteckt. Das Ob und wie eines Truppenabzuges aus Afghanistan findet gar nicht erst statt. Zu laut klingt noch der Streit der vergangenen Parteitage nach. Die Grünen haben auf ihre Kompetenzthemen gesetzt, sagt Reinhard Schlinkert vom Meinungsforschungsinstitut infratest-dimap: Dort hat man untersucht, wo die Bürger die Kompetenzen der Grünen sehen – und wie sich diese Werte seit der letzten Bundestagswahl verändert haben.

    "Geblieben sind mit über 60 Prozent, 62 Prozent eine gute Umweltpolitik. Bei der Energieversorgung ist allerdings die Kompetenz von September 2009 bis in dieses Jahr deutlich gefallen. Bei der Energieversorgung waren es vor der Wahl 44 Prozent, jetzt sind es noch 28 Prozent."

    Enormen Nachholbedarf sieht Schlinkert auf allen anderen Feldern:

    "Wirtschaft: 2 Prozent. Arbeitsplätze: 4 Prozent. Bildungspolitik: 9 Prozent. Steuerpolitik genauso gering. Auf allen anderen Gebieten können die Grünen keine Kompetenzen nachweisen."

    Kompetenzfelder, die schleunigst besetzt werden sollten, wollen die Grünen 2013 im Bund regieren, sagt Max Löffler. Ehemaliger Sprecher der grünen Jugend und neues Mitglied im Parteirat: Daher wäre es sinnvoll gewesen beispielsweise sozialpolitische Themen nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern schon auf diesem Parteitag zu behandeln:

    O-Ton
    Das wären auf jeden Fall Themen gewesen wie: Was ist die grüne Antwort auf Hartz IV. Wir haben da vor ein paar Jahren zwar sehr ausführlich drüber diskutiert und auch sehr kontrovers in der Partei diskutiert. Aber insgesamt noch kein Konzept, wo man sagen kann: Wenn wir 2013 regieren, dann ist die grüne Antwort folgende. Es gibt noch viele offene Punkte. Auch die Frage der Finanzierung, zum Beispiel. Insgesamt wäre es sicher notwendig, dass die Grünen in Sachen Steuer- und Finanzpolitik noch nachlegen. Dass sie ein schlüssiges Konzept vorlegen. Was mit der Einkommensteuer werden soll. Wie die Mehrwertsteuer aussehen soll, wenn die Grünen regieren. Und das Gleiche gilt auch in der Frage, wie die Rentenversicherung in Zukunft aussehen soll. Bzw. ganz aktuell, was mit der Rente mit 67 eigentlich werden soll, wenn die Grünen regieren.

    Einer der die Erfahrung gemacht hat, wie schnell es vorbei sein kann mit den guten Umfragewerten, ist Dieter Salomon. Seit acht Jahren regiert er Freiburg als grüner Oberbürgermeister:

    "Normalerweise seid ihr es gewohnt, dass euch ein OB bei einer BDK mit den Worten begrüßt: sehr verehrte Damen und Herren.
    Ist, glaube ich, der erste Bürgermeister, der euch begrüßt mit: Liebe Freundinnen und Freunde. Herzlich willkommen."

    Salomon freut sich sichtlich, dass die Partei in seine Stadt eingeladen hat. Er ist ein Mann, der auf den ersten Blick als CDU-Bürgermeister durchgehen würde. In Freiburg hat er gezeigt, dass grüne Ideen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Aber Salomon hat auch viel lernen müssen über das schwierige Verhältnis zwischen Anspruch und Umsetzbarkeit grüner Politik. Er hat die Freude erlebt, als er gewählt wurde. Aber auch die Wut der Bürger. Mahnwachen, Beschimpfungen, als er sparen musste, vor vier Jahren. Das war als er die erste Hälfte seiner ersten Amtszeit gerade hinter sich hatte.

    "Wir hatten ein Riesen-Finanzproblem. Wir wollten Wohnungen verkaufen, das wollten die Bürger nicht. Es gab einen Bürgerentscheid. Und dann waren die nächsten vier Jahre davon geprägt, verlorenen Boden wieder gutzumachen. Aber das ist gelungen."

    Doch bei der eigenen Klientel ist Salomon bis heute umstritten. Denn die reine Lehre ist leicht in der Opposition. Erwartungen nicht zu erfüllen, kostet. Sagt die Politikwissenschaftlerin Katharina Rahlf vom Göttinger Institut für Demokratieforschung:

    "Der Punkt, warum die Grünen so erfolgreich sind, ist gar nicht daran festzumachen, was die Grünen tun, sondern eher, was sie nicht tun. Sie sind erstens nicht in der Regierung – zumindest nicht auf Bundesebene. Und das hat die Geschichte dieser Partei gezeigt. In dem Moment, in dem sie an der Regierung waren, sanken ihre Zustimmungsraten ganz eklatant. Das heißt, als Oppositionspartei haben sie es einfach leichter."

    Und schnell sind im Wahlkampf Versprechungen gemacht, die einer Regierungspartei schmerzlich nachhängen können. Das mussten auch die Grünen in Hamburg am eigenen Leib erfahren. Denn in der Hansestadt hatten die Grünen versprochen, den Bau des Kohlekraftwerkes Moorburg zu verhindern, waren gegen die Elbvertiefung, wollten längeres gemeinsames Lernen. Doch Moorburg wird gebaut, die Elbe ausgebaggert, die Primarschule ist tot. Zu Fall gebracht durch einen Volksentscheid. Ein Element eben jener direkten Demokratie, die die Grünen an diesem Wochenende immer wieder beschwören. Katharina Fegebank, die Landesvorsitzende in Hamburg:

    "Wir haben lange dafür gekämpft, dass in Hamburg Volksentscheide verbindlich sind. Das ist auch ein großer Erfolg der Grünen, dass wir kurz nach dem Eingehen der Schwarz-Grünen Koalition Volksentscheide verbindlich in die Verfassung aufgenommen haben. Aber jetzt müssen wir lernen, damit umzugehen."

    Denn schon gibt es in Hamburg ein neues Problem. Gegen die geplante Stadtbahn, eine moderne Straßenbahn, die die Grünen dem Koalitionspartner CDU bei den Koalitionsverhandlungen abtrotzen konnten, formiert sich Widerstand der Bürger. Aber nicht nur in Hamburg ist Ärger vorprogrammiert. Bundesweit wird das ehrgeizige Ziel der Grünen, den Strom zu einhundert Prozent aus erneuerbaren Energien zu gewinnen, wahrscheinlich noch für Probleme sorgen, sagt Katharina Fegebank. Deshalb müssen die Grünen ehrlich zu ihren Wählern sein:

    "Wer über 100 Prozent erneuerbare Energien spricht, der muss auch – und das gehört zur Ehrlichkeit dazu – über die Zielkonflikte sprechen, die sich innerhalb der eigenen Klientel ergeben. Beispielsweise wenn es um den Ausbau von Netzen auf der einen Seite geht und Grünflächen oder Waldpartien zu erhalten. Da haben wir Zielkonflikte innerhalb der eigenen Reihen. Und wer die nicht adressiert und anspricht, der nimmt das nicht richtig ernst – auch mit der Verantwortung, die immer mit nach außen getragen wird."

    Winfried Kretschmann ist einer, der die Verantwortung ernst nimmt. Er weiß, dass es in der Politik kaum einfache Lösungen gibt. Und er weiß auch, dass für seine Partei vieles an Stuttgart 21 hängt.

    Der Bahnhof, wie könnte es anders sein, ist auf diesem Parteitag in Freiburg allgegenwärtig. Schließlich ist Stuttgart nur etwa 200 Kilometer entfernt und die Symbolkraft dieses Projekts für die grüne Bewegung könnte stärker nicht sein.

    Die Demonstranten erheben sich aus der Mitte der Delegierten zum Schwabenstreich. Skandieren: Oben bleiben, oben bleiben. Der Ruf der Stuttgart-21 Gegner. Die Parteivorsitzende Claudia Roth nimmt die Unterbrechung gelassen, greift – protesterfahren, wie sie ist - zu Stift und Wasserflasche. Klopft im Rhythmus mit.

    Cem Özdemir lässt danach bei seiner Eröffnungsrede keinen Zweifel, die Grünen stehen an der Seite der Gegner:

    "Wir werden so lange mit Schwabenstreichen weitermachen und mit Demonstrationen, bis das Unsinnsprojekt Stuttgart 21 endgültig unterirdisch oder oberirdisch beerdigt ist, liebe Freundinnen und Freunde."

    Winfried Kretschmann lässt sich von dem Lärm nicht beeindrucken. Auch er würde gerne "oben bleiben". Und natürlich weiß der baden-württembergische Spitzenkandidat, dass Wahlkampf klare Ansagen braucht. Aber er hat gelernt aus Hamburg. ER bleibt lieber auf dem Teppich:

    "Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, dieses Projekt zu stoppen. Ob das zum Zeitpunkt, wenn wir dann die Regierung übernehmen, ob und wie das möglich ist, muss man dann sehen. Jedenfalls haben wir erstmal keinen Koalitionspartner, der auch für einen Ausstieg ist. Alle anderen Parteien sind ja dafür. Aber die Sozialdemokraten wollen ja einen Volksentscheid darüber machen."

    Bis dahin ist noch viel zu tun. Ein Wahlkampf ist zu führen, die guten Umfragewerte zu halten. Vorher aber darf sich Winfried Kretschmann noch einmal feiern lassen. Heute, am letzten Tag, zum Abschluss des Parteitages. Da wollen die Grünen den Teppich dann doch einmal fliegen lassen, soll den Wahlkämpfern noch einmal Kraft und Stärke verliehen werden. Der Titel des Programmpunktes: 2011 wird spitze!