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Die Helden von Walhalla und die Götterdämmerung

Der Begriff Germanen taucht erstmals im 1. Jahrhundert vor Christus im antiken Rom auf und ist ein Sammelbegriff für mehrere Stammes- und Volksgemeinschaften. Der Ort Walhall ist nicht zuletzt durch Richard Wagner im Zusammenhang mit den Germanen bekannt geworden. Er bedeutet "Die Halle des Erschlagenen" und ist ein Art Kriegerparadies.

Bernhard Maier im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 20.02.2013
    Rüdiger Achenbach: Wenn man über die germanische Götterwelt redet, dann redet man nicht nur über die Göttermythologie, sondern auch über die sogenannte niedere Mythologie. Das ist die Welt der Riesen, der Zwerge, der Elfen, der Nixen und der Necks. Wie ist diese Welt dieser einzelnen Figuren religionsgeschichtlich überhaupt einzuordnen?

    Bernhard Maier: Die großen germanischen Götter, wie beispielsweise Odin oder Thor, die sind erst bei den Germanen entstanden. Was man aus vorgeschichtlicher Zeit hat, das ist nur eine Art niedere Mythologie. Also die niedere Mythologie steht im Gegensatz zu den großen Göttern. Das sind sehr allgemeine Vorstellungen von – wie Sie sagen – Elfen, Zwergen, Riesen. Dann habe sich, so sagt dieser Ansatz, aufgrund dieses Volksglaubens die große Mythologie der hohen Götter herausgebildet. Dem ist sicherlich insoweit zuzustimmen, als die niedere Mythologie eine Schicht darstellt, die man also schon für die vor-christliche Zeit voraussetzen muss und die sich dann teilweise auch bis nach der Christianisierung gehalten hat.

    Achenbach: Zum Beispiel in den Märchen.

    Maier: Vorbei viele dieser Bezeichnungen – Riese gehört gerade nicht dazu, aber beispielsweise Zwerg oder Wicht oder Elf bzw. Albe – sind in allen germanischen oder in vielen germanischen Sprachen verbreitet, sodass man annehmen muss, dass diese Bezeichnungen auch wirklich alt sind und schon vor der Christianisierung im Gebrauch waren.

    Achenbach: Was können wir überhaupt über die religiöse Kultgemeinschaft der Germanen sagen? Cäsar hat die Germanen an dieser Stelle ganz deutlich von den Kelten abgegrenzt, von den er sagte: Hier gibt es ein Priestersystem und hier gibt es auch Opfer, aber die Germanen haben so etwas nicht. Auf der anderen Seite hat die Archäologie Funde aufzuweisen – im germanischen Bereich, in dem man ganz eindeutig auch Opferkult feststellen konnte.

    Maier: Ja, es hat sicherlich einen Opferkult bei den Germanen gegeben – von Anfang an und bis in die spät-heidnische Zeit. Was Cäsar da schreibt, das ist politische Propaganda. Ihm geht es eben darum, die Germanen von den Kelten abzugrenzen. Er greift da eben alles heraus, was irgendwie dieser Absicht förderlich ist. Aber es hat sicherlich Opfer bei den Germanen gegeben, es hat auch Opferplätze, Kultplätze gegeben, von denen einiger inzwischen auch archäologisch untersucht werden konnten, sodass man sehr wohl weiß, dass es regelmäßige Opfer gegeben hat – zu bestimmten Kultfesten, zu bestimmten Zeiten des Jahres. Es wird daneben dann eben auch spontane Opfer zu bestimmten Gelegenheiten aus besonderen Anlässen gegeben haben.

    Achenbach: Wie sahen solche Opfer aus? Was hat man sich darunter vorzustellen?

    Maier: Das hängt davon ab, aus welchem Anlass und von welcher Bevölkerungsgruppe in welchem Rahmen geopfert wurde. Was man inzwischen recht gut kennt, das sind Waffenopfer – vor allem natürlich deswegen, weil sich Metall sehr viel besser erhält als Opfer von organischen Stoffen, die dann sehr häufig bei archäologischen Funden entweder gar nicht oder nur noch in irgendwelchen Spuren nachweisbar sind. Man hat also Siegesopfer in größerer Zahl in Skandinavien und auch im norddeutschen Raum gefunden, wo man also nach der gewonnenen Schlacht die Beute vermutlich dem Kriegsgott geopfert hat. Das ist auch etwas, was antike Autoren mehrfach von den Germanen, im Übrigen auch von den Kelten, berichten.

    Achenbach: Beute, heißt das auch Kriegsgefangene?

    Maier: Beute heißt wohl auch Kriegsgefangene. Das wird auch in den literarischen Quellen explizit ausdrücklich so gesagt.

    Achenbach: Das heißt, es gibt auch das Menschenopfer.

    Maier: Es gibt das Menschenopfer, es gibt natürlich in dem Zusammenhang Tieropfer, die erbeuteten Tiere, und natürlich Sachopfer, dass man also Waffen nicht einfach einsammelt und weiter verwendet, sondern sie unbrauchbar macht und dann dem betreffenden Gott opfert.

    Achenbach: Gab es Priester?

    Maier: Es gab sicherlich auch Priester. Auch das ist etwas, wo Cäsar also nicht zuverlässig war. Cäsar ging es darum, die keltischen Druiden abzugrenzen von der germanischen Gesellschaft, die als solche Druiden nicht gehabt habe. Aber Tacitus beispielsweise erwähnt mehrfach germanische Priester. Auch spätere Quellen aus der Völkerwanderungszeit, aus der Bekehrungszeit, die erwähnen mehrfach Priester. Es gibt allerdings unterschiedliche Bezeichnungen dafür und es ist jetzt nicht klar, ob es eine allgemein germanische Bezeichnung des Priesters gegeben hat. Das ist eher fraglich.

    Achenbach: Auch Tacitus berichtete, dass es bei den Germanen keine Tempel und keine Götterbilder gab.

    Maier: Vom römischen Standpunkt aus gesehen ist das verständlich, denn diese Art Tempel und Bilder, die man in der klassischen Antike findet, die hat es bei den Germanen wahrscheinlich tatsächlich überhaupt nicht gegeben. Keine steinernen Tempel, keine in der Weise naturalistischen Götterdarstellungen. Aber es hat natürlich schon Tempel gegeben, im Sinne von permanenten architektonisch gestalteten Kultstätten. Und es hat auch Götterbilder gegeben, von denen allerdings viele aus Holz waren und sich deswegen nicht erhalten haben. Wenn Tacitus das trotzdem in dieser Allgemeinheit schreibt, dann liegt dem wahrscheinlich eine gewisse Art von Klischeevorstellung zugrunde. Die Germanen sind für ihn ja ein Naturvolk und Naturvölker, die haben eben keine Bilder.

    Achenbach: Was ist überhaupt bekannt über Leben und Tod, also die Vorstellung des Lebensrhythmus bei den Germanen? Gibt es irgendwelche Hinweise darauf? Die esoterische Literatur beschäftigt sich gerne immer wieder mit der Reinkarnationsseele, die man auch bei den Germanen schon finden konnte.

    Maier: Nun ich denke, das Zeitgefühl, wenn man den etwas nebulösen Begriff benutzen will, das war wahrscheinlich wirklich zyklisch. Also es war ein beständiger Rhythmus von Werden und Vergehen, so wie man das auch im Jahreskreislauf immer wieder erlebte in dieser agrarisch strukturierten Gesellschaft. Das Leben nach dem Tod spielte vielleicht gar nicht die große Rolle, wie wir heute aufgrund unserer christlichen Sozialisation dem gerne zubilligen möchten. Denn das Christentum ist ja sehr eschatologisch ausgerichtet – sowohl was die Geschichte im Allgemeinen betrifft – es gibt ein beständiges Fortschreiten auf einen Endpunkt zu – und es ist eben auch sehr stark auf das Jenseits hin orientiert.

    Achenbach: Das Eigentliche liegt erst im Jenseits.

    Maier: Genau. Und natürlich auch im Islam. Das Diesseits ist nur ein Spiel, wie es im Koran heißt. Aber das ist bei den Germanen nicht ohne Weiteres auch vorauszusetzen, sondern man gewinnt den Eindruck, wenn man die ältesten Quellen sich anschaut, dass die Götter eben sehr viel mit dem Diesseits und relativ wenig mit dem Jenseits zu tun haben, sodass Aussagen über das Leben nach dem Tod vielleicht überhaupt erst in der spät-heidnischen Zeit prominent geworden sind, dass sie also dort erst überhaupt in der Auseinandersetzung mit dem Christentum einen größeren Stellenwert bekommen haben.

    Achenbach: Wie haben die Germanen bestattet?

    Maier: Es gibt da eine ganz breite Palette von Bestattungssitten. Es gibt also sowohl die Körperbestattung als auch die Brandbestattung. Es gibt verschiedene Arten von Grabbeigaben. Und es gibt da eine ziemliche Spannbreite, sodass man also sehr schwer verallgemeinern kann, die Germanen hatte diese oder jene Art von Bestattung. Grundsätzlich gewinnt man schon den Eindruck, dass man davon ausging, dass der Tote für die Lebenden immer noch eine Rolle spielte. Man findet relativ häufig Amulettbeigaben in Gräbern, sodass man offensichtlich glaubte, man müsst dem Toten bestimmte Dinge mitgeben, das sei für ihn erforderlich. Man findet auf der anderen Seite auch die Vorstellung, dass der Tote den Hinterbliebenen noch schaden könnte. Man findet auch Manipulationen an Leichen und in Gräbern, die darauf hinweisen, dass man die Wiedergänger fürchtete, der dann auch in der alt-nordischen literarischen Überlieferung eine große Rolle spielt.

    Achenbach: Es gab also bei den Germanen, so viel kann man wohl sagen, einmal eine Art Existenz des Toten in seiner Grabstelle, in seinem Grabhügel. Auf der anderen Seite gleichzeitig aber auch Vorstellungen von einer Art Totenreich. Obwohl dieses eine Totenreich besonders definiert werden kann, denn es gab wohl verschiedene Vorstellungen in der germanischen Welt, wo dann die Toten am Ende aufgehoben werden.

    Maier: Unser Wort "Hölle" beispielsweise hat diese vor-christliche Vorgeschichte, das ist ursprünglich ein unterirdischer Aufenthaltsort gewesen, der noch nicht diese negative Bedeutung hatte, die er dann im Christentum bekommen hat.

    Achenbach: Also nicht ein Ort der Strafe.

    Maier: Nein, es ist kein Strafort, sondern es ist ein Aufenthaltsort der Toten, ganz einfach. Unterirdisch wohl deswegen, weil es etwas mit Verhehlen, Verbergen zu tun hat. Also es handelt sich um ein Totenreich unterirdisch.

    Achenbach: Ganz besonders bekannt ist natürlich der Ort Walhall im Zusammenhang mit den Germanen – nicht zuletzt durch Richard Wagner. Was ist der religionsgeschichtliche Hintergrund für Walhall?

    Maier: Walhall bedeutet eigentlich "Die Halle der Erschlagenen". Also es ist ein Art Kriegerparadies. Das ist sicherlich nicht erst christlich entstanden, sondern schon in spätheidnischer Zeit belegt. Wobei uns einige Züge dieser Überlieferung aber eben erst in der Prosa-Edda, also aus christlicher Zeit, erhalten geblieben sind. Das ist eine Vorstellung, die natürlich wiederum die Jenseitsvorstellung einer ganz bestimmten Schicht, nämlich der Kriegerschicht, widerspiegelt. Man kann das also nicht für die Germanen insgesamt voraussetzen.

    Achenbach: Das ist der Ort, am dem die Helden belohnt werden.

    Maier: Ja. Das ist eine Art Wunschvorstellung, die in dieser Zeit dann literarisch gestaltet wurde. Die Walküren natürlich gehören auch noch in diesen Rahmen. Da ist das gleiche Wort "Wal" für den gefallenen Krieger, steckt da drin. Die dann eben erkoren werden, gewählt werden und in dieser Halle weiterleben, wenn man so will.

    Achenbach: "Das Ende der Welt – Ragnarök, bekannt als Götterdämmerung, es gibt viele Beschreibungen dafür. Auch hier ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es sehr viele Beziehungen zur christlichen Vorstellung gibt. Was kann man als Ur-Germanisch überhaupt festmachen? Gab es so etwas wie eine Götterdämmerung bei den Germanen?

    Maier: Bei den Kelten gab es die Vorstellung, dass am Ende der Zeiten der Himmel einstürzt. Das findet man genau so auch bei den Germanen und das spricht natürlich dafür, dass es sich um eine relativ alte Vorstellung handelt. Eine Götterdämmerung, ursprünglich ist es der Ausdruck Götterschicksal gewesen, die Götter auch keine Existenz ins Unendliche, sondern sie werden am Ende der Zeiten vergehen. So wird das in diesen späten Quellen geschildert. Aber man muss wieder sagen, diese Quellen sind eben bereits unter christlichem Einfluss entstanden. Die Vorstellung vom Weltende spielt eine große Rolle im mittelalterlichen Christentum. Ansätze zu einer solchen Vorstellung, die hat es bei den Germanen wahrscheinlich gegeben, aber die wurden wohl erst unter christlichem Einfluss dann in dieser Weise systematisiert, ausgestaltet und eben schriftlich fixiert.

    Achenbach: Es lässt sich also sehr schwer auseinanderhalten, was hier das ursprüngliche Material ist und was dann nachher dazu gekommen ist.

    Maier: Ja, es gibt nur ganz, ganz Weniges, was aus einer früheren Zeit kommt. Man kann deswegen sehr schwer kontrollieren, was davon wirklich alt ist.