Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Die Historiker sind hier vertröstet worden"

Seit gestern Abend suchen Experten aus elf Ländern in Luxemburg nach einer einvernehmlichen Lösung zur längst überfälligen Öffnung des Archivs des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen. Der "International Tracing Service", ITS und sein Archiv sind Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs; seit 1946 recherchiert und archiviert der Suchdienst die Schicksale während der NS-Zeit verschleppter und verschwundener Zivilpersonen. Udo Jost, Leiter des Archivs:

16.05.2006
    "In circa 22.000 dieser Karteikästen befinden sich 47 Millionen einzelner Hinweiskarten, also Namenskarten. Und die erfassen einen Personenkreis von Verfolgten, die in den Dokumenten verzeichnet sind, der bei circa 17 Millionen Menschen liegt. Die Differenz 47 Millionen Karten für 17 Millionen Menschen erklärt sich dadurch, dass wir für die Mehrheit der Personen mehr als eine Information vorliegen haben und die kommen natürlich dann in dieser zentralen Namenskartei zusammen."

    Zu entscheiden ist nun, ob und wie diese Millionen Dokumente über Verfolgte des Nazi-Regimes für die Forschung freigegeben werden können. Der Streit darum dauert schon fast zehn Jahre. Besonders ungeduldig sind die USA. Deutsche Antisemitismus-Forscher wünschen Zugriff auf Bad Arolsen, bezweifeln aber, dass man dort bedeutende Neuentdeckungen machen wird.

    Der Vertrag über das ITS von 1955 verlangt für alle Änderungen Einstimmigkeit. Das heißt, die Vertreter von Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Israel, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Polen, den USA und Deutschland müssen sich zusammenraufen; bis zur Stunde ist dies noch nicht geschehen.

    Rainer Berthold Schossig: Vor der Sendung habe ich mit Professor Dr. Ulrich Herbert gesprochen, er ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Freiburg. Die Öffnungs-Skeptiker argumentieren ja mit dem Datenschutz. Inwieweit ist das berechtigt?

    Ulrich Herbert: Es ist in der Tat ein Argument, dass nicht die privaten Daten von Hunderttausenden von NS-Opfern jedermann zugänglich sein können und dürfen. Das ist nicht nur ein Problem des Datenschutzes, sondern des schlichten Anstands. Das wird aber in anderen Archiven auch geregelt, dass personenbezogene Daten unter besonderen Schutz gestellt werden, aber nicht der Forschung völlig vorenthalten werden.

    Schossig: Nun ist der Streit ja schon länger im Gange, dass man dem Archiv in Bad Arolsen vorwarf, mittlerweile auch aus dem Ausland, vor allem aus den USA, dass Deutschland hier eine Verdunkelungspolitik betreibe. Kann man dieses Argument gelten lassen, oder ist hier eher auch ein politisches Interesse im Busch, das an gewisse Daten heran will, die eigentlich ja auch schon bisher der Forschung zur Verfügung standen?

    Herbert: Ja das sind zwei verschiedene Fragen. Das erste ist, ich kann nicht so sehr sehen, dass Deutschland hier verdunkelt habe. Das ist von Seiten der Archivleitung und des Internationalen Gremiums, das hier zu bestimmen hat, eine sehr restriktive Haltung gegeben hat, ist nicht zu bestreiten. Die Forderung nach einer Öffnung der Archive für die Historische Forschung, sowohl für die deutsche, als auch internationale ist schon seit mehr als 15 Jahren intensiv erhoben worden. Die Historiker sind hier vertröstet worden und zum Teil auch recht harsch abgewiesen worden. Das ist insofern sehr zu begrüßen, dass hier durch den Druck aus dem Ausland eine neue Haltung zu entstehen scheint.

    Die andere Frage ist die, dass man zwei Dinge unterscheiden muss. Zum einen ist die internationale Forschung zur Verfolgungspolitik, insbesondere zu den Konzentrationslagern seit Mitte der 1990er Jahre sehr intensiviert worden. Und da wäre es in der Tat außerordentlich begrüßenswert gewesen, wenn das Archiv geöffnet gewesen wäre, wie es immer wieder versprochen wurde. Die Beweggründe liegen hier aber wohl nicht nur in Fragen des Datenschutzes, sondern auch mit archivinternen Problemen.

    Schossig: Heißt das jetzt eventuell, dass die Öffnung für die Forschung eventuell zu spät käme?
    Herbert: Nun ja die Forschung ist gewisserweise nie zu Ende, insofern kommt sie nie zu spät und es ist auch zu begrüßen, da es nun endlich so wird. Aber wenn man nun sieht, dass sowohl in den USA, als auch in Israel, auch in vielen osteuropäischen Staaten eine sehr verstärkte Forschung, ein großes Interesse an dieser Forschung auch entstanden ist, das System der Konzentrationslager auf breiter Ebene erstmals wirklich durchgearbeitet worden ist, so ist es außerordentlich zu bedauern, dass diese Unterlagen nie zur Verfügung standen.

    Schossig: Elf Länder führen die Aufsicht über diesen Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes, neben den USA und Israel auch Deutschland unter anderem Frankreich, Großbritannien. Woran lag es, dass hier so lange gemauert wurde? Lag das vielleicht auch an internationalen Verständigungsschwierigkeiten?

    Herbert: Ich glaube es gab so eine Art Dreieck. Es gab zum einen diese internationalen Gremien, die das ist mein Eindruck, sich nie sehr intensiv um diese Problematik gekümmert haben. Es gab auf der zweiten Seite das Innenministerium, das hier eine sehr zurückhaltende Politik betrieben hat und sich in der Regel hinter den internationalen Gremien verschanzt hat. Und es gab das Haus selbst, das Archiv selbst, dessen Interesse darin bestand, nicht ein historisches Archiv für alle anderen zu werden, das würde ja gewisserweise die Existenzberechtigung des Suchdienstes in Frage stellen, es würde dann vielleicht ins Bundesarchiv übernommen. Aber es gab natürlich auch ein Eigeninteresse des Archivs, von seinen Mitarbeitern, vor allen Dingen von seiner Führung, das personell ja gut ausgestattete Haus Arolsen weiter als Suchdienst bestehen zu lassen und damit nicht abgebaut zu werden. Wäre es aber umfunktioniert werden in ein reines Archiv, wäre die bisherige, ich würde mal sagen, personelle Belegschaft so sicherlich nicht aufrecht zu erhalten gewesen.

    Schossig: Das war der Freiburger Historiker Ulrich Herbert zum wissenschaftlichen Für und Wider einer Öffnung des Archivs des Rot-Kreuz-Suchdienstes in Bad Arolsen.