Dienstag, 30. April 2024

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Die Hochzeit von Auschwitz. Eine Begebenheit

Um es gleich zu sagen: An dem hier besprochenen Buch irritiert nicht nur der Titel, der die Vorstellung einer Vermählungsfeier mit dem düsteren, aufgeladenen, allerdings diskursiv auch zerschundenen Wort "Auschwitz" kombiniert: "Die Hochzeit von Auschwitz". Im nüchternen Gegensatz dazu steht der Untertitel, der auf eine Gattungszuschreibung des Textes verzichtet und offensichtlich die historische Verbürgtheit des Erzählten hervorheben soll: "Eine Begebenheit". Fast zwangsläufig fällt einem bei dieser Titelkonstellation Goethes vielzitierte Novellen-Definition als einer "sich ereigneten unerhörten Begebenheit" ein. Doch mit einer Novelle hat der Text rein gar nichts zu tun. Er bedient sich einer moderneren Erwählweise, von der noch die Rede sein wird.

Volker Kaukoreit | 06.01.2003
    Bleiben wir zunächst beim Faktischen der "Begebenheit": Im Mittelpunkt des Geschehens steht der 1907 in einem Wiener Arbeiterbezirk geborene Rudi Friemel. Kind seiner Zeit und seines Milieus ist er ein "Automechaniker, Motorradnarr. Ein überzeugter Sozialist", der sich aktiv am österreichischen Bürgerkrieg des Februars 1934 beteiligt. 1938 läßt er seine von ihm nicht mehr geliebte Ehefrau und den Sohn Norbert zurück und lernt als Internationaler Brigadier gegen Franco in Spanien Margarita kennen, die die Liebe seines Lebens hätte werden können. Doch das Vorrücken und der Sieg der Falangisten entzweit das Liebespaar, wobei es beide im Nichtwissen über das Schicksal des anderen nach Frankreich verschlägt. Dort finden sie sich tatsächlich wieder und zeugen den Sohn Edi. Aber die politischen Zeitläufte sind weiterhin gnadenlos und trennen das Paar erneut im Juli 1941 bei dem Versuch, in Rudi Friemels Heimat - das mittlerweile annektierte Österreich - zu gelangen. Die deutsche "Geheime Feldpolizei" im besiegten Frankreich zwingt Margarita, "mit Edi nach Deutschland weiterzufahren", während Rudi festgenommen wird, in Wien inhaftiert und Ende 1941 als 'politischer Schutzhäftling' nach Auschwitz deportiert wird.

    Dort kommt es im März 1944 zu der eigentlichen und geradezu unglaublichen "Begebenheit": Die barbarischen Machthaber gestatten, dass Margarita, die 1943 aus Süddeutschland nach Wien gegangen war, für kurze Zeit in das Konzentrationslager einreisen und in einem absurden Zeremoniell ihren Rudi heiraten darf. Zurück in Wien wird sie später erfahren, dass ihr Mann Ende 1944 als 'Widerständler' gegen die Lagerleitung auf dem Appellplatz gehenkt wurde.

    Dass es sich hierbei im Kern um historische Tatsachen handelt, legt eine kurze Nachschrift des Autors nahe, in der als befragte Zeitzeugen unter anderem Édouard und Norbert Friemel angeführt werden. Und wer die dokumentarische Arbeitsweise dieses Autors, seine bevorzugten Themen - etwa aus den erfolgreichen, Ende der 80er Jahre erschienenen Texten "Auroras Anlaß" und "Abschied von Sidonie" - kennt, wird ohne Zögern zustimmen, dass sich der 1954 in Oberösterreich geborene, heute in Wien lebende Schriftsteller Erich Hackl auch mit der "Hochzeit von Auschwitz" treu geblieben ist. Nur diesmal hat er seinen Erzählrahmen deutlich erweitert und greift weit über die bis hierhin referierten Eckdaten hinaus, nämlich zum einen - in bezug auf Rudis Vater - zurück bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts, zum anderen in die Gegenwart des gerade begonnenen 21. Jahrhunderts, gefiltert beispielsweise aus der Sicht des etwa 60jährigen, in Frankreich als Hochschullehrer tätigen Edi Friemel. Auch wird dieser Erzählrahmen weder zeitlich noch perspektivisch linear, sondern in einem Hin und Her diverser Stimmen präsentiert, wobei vor allem Margaritas energische Schwester, Marina, eine auffällig dominierende Rolle einnimmt. Zu Wort kommen, neben einzelnen Personen aus Rudis unmittelbarem Familien- und Freundeskreis weitere Leidens- und Schicksalgefährten, so ein Spanienkämpfer oder in der Schreibstube des KZs arbeitende Häftlinge. Über den "Rädelsführer" Friemel spricht auch ein politischer Widersacher - der den Austrofaschisten ergebene Exekutivbeamte Mistelbacher, später einer der unzähligen Nazi-Mitläufer. Und hier und da blitzt ein 'Ich-Erzähler' auf, der etwa in einem süddeutschen Stadtarchiv dem Schicksal Margaritas und ihres Sohnes in den Jahren 1941 bis 43 nachspürt.

    Nur mühsam dringt der Leser in dieses Stimmengewirr. Das freilich ist von Autor Hackl so beabsichtigt, denn natürlich weiß er um die Lückenhaftigkeit des Archivs, um die Reusen der Erinnerung vermeintlich authentischer Zeitzeugen und schließlich um einen Allgemeinplatz der literaischen Moderne, nämlich - verkürzt gesagt - die Infragestellung eines jedweden Objektivitätsanspruchs. Der Autor gibt es seinem Leser also nicht billig. Mitunter schlägt er dabei aber deutlich über die Stränge, wenn er beispielsweise den im Hier und Jetzt lebenden Edi Friemel über sich und seine Familie überflüssigerweise sagen läßt [Zitat]: "Wir besitzen ein Haus in Créteil (...) wahrscheinlich besitzen wir auch ein Auto und einen Hund". Andererseits geradezu ‚unwahrscheinlich' wirkt - topographisch gesehen - eine Bahn-Reiseroute, die "von Frankreich aus über Trier, Regensburg, Nürnberg, Würzburg nach Wien" geführt haben soll. Dass sich ein solcher Zick-Zack-Kurs möglicherweise aus den speziellen Zeitumständen ergab, wäre zu erläutern gewesen, zur Verdeutlichung unsicherer Erinnerung aber hält die betreffende Textstelle den ohnehin strapazierten Leser unnötig auf. Oder handelt es sich hier um eine jener Ungenauigkeiten, die der literarische Chronist Hackl auch schon früher in Kauf nahm, so z.B. in dem thematisch vielfach verwandten "Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick"? In diesem 1999 erschienenen Text wurde die Anzahl der 1927 durch die Polizei erschossenen Demonstranten am sogenannten "Blutigen Freitag", einem für die 1. Österreichische Republik zentralen, seit Jahrzehnten von Historikern penibel diskutierten Ereignis, ohne ersichtlichen Grund von nicht mehr als 90 auf über 100 Opfer erhöht, man könnte auch sagen, der Griffigkeit halber 'geglättet'.

    Nun mögen solche Einwände als randständig und pedantisch erscheinen, doch unberechtigt sind sie in Bezug auf eine sich der faktischen Exaktheit verpflichtende Dokumentarliteratur gewiß nicht. Störend - oder sagen wir wertfreier: gewagt - erscheint im Kontext des dokumentarliterarischen Genres zudem die Tatsache, dass Hackl in der "Hochzeit von Auschwitz" auch Toten, etwa dem hingerichteten Rudi Friemel, aus dem Jenseits eine Stimme verleiht. Dazu hat der Autor in einem neueren Interview ausgeführt, dass es in der "Literatur immer auch um Verständigung zwischen Lebenden und Toten" gehe, und er als Literat eine "Trennung zwischen den Lebenden und Toten" nicht akzeptiere. Das ist in der Tat diskussionswürdig. Diskussionswürdig aber auch, ob Hackl dies ohne Kitsch gelingt, und ob es ihm insgesamt gelingt, den vielseitigen Ausrichtungen und Ansprüchen seines neuesten Textes in toto gerecht zu werden? Die eindeutige Kritiker-Antwort lautet : JEIN, d.h. einerseits: Dieses Buch bietet ein engagiertes Plädoyer gegen das Vergessen, das sich keinem Individuum, keinem Familien- und keinem anderen Kollektivgedächtnis pauschal verordnen läßt. Und dabei bewahrt Hackl auch ausreichende Distanz zur sogenannten - häßliches Wort - "Auschwitz-Keule". Rein formal zeugt sein Buch von handwerklichem Know-how und künstlerischem Gestaltungswillen, z.B. in der gelungenen Auswahl lakonischer Kapitelüberschriften, die einem jedem Kapitel ein eigenes Spannungsgefüge verleihen: "Das Gewitter", "Der Beweis", "Die Stille", "Neunzig Prozent", "Die Narbe", "Das Hemd" und zum Ausklang "Danach und davor".

    Andererseits: Zwar nicht oft, aber oft genug wird Hackls vielgelobte Sprachpräzision von rührseligem und pathetischem Ton unterlaufen - gut zu verdeutlichen am Schlußsatz des Buches: "Wer in Auschwitz war, hat den Rest seines Lebens eine Hornhaut auf der Seele". Angesichts des ohnehin bedrückenden Stoffes ist solch metaphorische Gefühlsduselei überflüssig, wie der Text auch gut und gerne auf so manches Klischee hätte verzichten können - und sei dies nur auf das Attribut "fleißig" bei der Kennzeichnung einer "kleinen Schwabenstadt".

    Und zuletzt: So bewegend das Erzählte rund um Margarita und Rudi Friemel auch ist, so wenig erfährt man aus diesem Buch wirklich Neues. Ein weiteres Mal legt Hackl - und das zeichnet ihn fraglos aus - sein Hauptaugenmerk auf das vermeintliche Nebenpersonal der Historie, auf menschliche Einzelschicksale, auf die Hilflosen und die Rebellen, diese wie jene Opfer barbarischer Politik. Doch der Stoff des angebotenen Geschichtsunterrichts ist allseits bekannt, er wird abgespult ohne Widerhaken. Von den Praktiken in KZ-Bordells oder den Schreibstuben, in denen Häftlinge das Treiben der Vernichtungsmaschinerie buchhalterisch mitverwalten mussten, berichtet ja nicht nur Eugen Kogons zuerst 1946 erschienenes Standardwerk "Der SS-Staat". Umgekehrt bleibt so manches in der bloßen Behauptung oder Andeutung stecken, wenn es beispielsweise heißt, dass die österreichischen NS-"Ausschreitungen, (...) alles, was er in Deutschland gesehen hatte, an Brutalität übertrafen".

    Wie erklärt sich dieser Verzicht auf eine weitere und gar nicht so landläufige Aufklärung, wie man sie etwa Doron Rabinovicis akribischer Studie "Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945" entnehmen kann? Dem gegenüber werden die menschenverachtenden Komponenten kommunistischer Machtpolitik, etwa die Zwänge eines zentral verordneten Kadergehorsams, zuweilen mit dem schwachen - sinngemäß zusammengefassten - Kommentar "Das war halt damals so" bagatellisiert. Nein, diesem Text fehlt der doppelte Boden, sowohl was die Provokation literarischer Geschichtsdarstellung, die Problematik ‚poetisierter Faction', als auch die Standortbestimmung gegenwärtiger Befindlichkeit betrifft.

    Denn sollte es einen heutigen Leser nicht interessieren, wie die nur marginal eingebrachte dreißigjährige Tochter Edis, die als Sozialarbeiterin im turbulenten Paris lebt, zur Geschichte ihrer Vorfahren steht? Keine Antwort gibt darauf ihr Vater. Auch der weitere Text nicht, der sich letztendlich wieder einmal mit dem Programm einer ‚linken' political correctness begnügt, in dem selbstverständlich auch feministische Standpunkte nicht fehlen. Fazit: Ein Buch, das der Rezensent mit seinem klaren "Jein" dem Leser zur kritischen Lektüre empfiehlt.