Am Freitag um acht Minuten vor ein Uhr nachmittags begann in einer Klinik in einem Vorort von Washington ein neues Zeitalter der Medizin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, September 1990
Ein vier Jahre altes, schwerkrankes Mädchen wurde als erste Patientin der Welt mit gentechnisch veränderten Zellen behandelt.
Der 14. September 1990 ist der Geburtstag der Gentherapie. Die Patienten: Drei Kinder, denen ein wichtiges Enzym fehlte - die Adenosindeaminase. ADA.
Ihr Immunsystem ist so stark gestört, dass sie nur abgeschirmt von der Umwelt überleben können: In Spezialzelten oder Anzügen, die denen von Astronauten ähneln. Die meisten dieser Kinder sterben früh an einer Lungenentzündung oder einer Virusinfektion. Weltweit kommen jährlich etwa 15 Kinder mit diesem Gendefekt auf die Welt.
" Gentherapie ist, wenn man ein normales Gen in die Zellen eines Menschen bringt, der ein abnormes oder schlechtes Gen hat. "
French Anderson, Gentherapie-Pionier von der University of Southern California in Los Angeles.
Gen-Operation soll Kind retten
Kölner Stadt-Anzeiger, September 1990.
" Die Gentherapie wird die Medizin revolutionieren - in den nächsten 20 Jahren."
Vierjährige spürte bei der Injektion keinerlei Schmerz.
Rheinische Post.
" Das war kein wissenschaftlicher Durchbruch im eigentlichen Sinne. Aber es war ein kultureller Durchbruch."
Darauf hat die Medizin seit Tausenden von Jahren gewartet.
Gerald McGarrity von der Gentherapie-Gutachter-Kommission in den USA.
Das Konzept der Gentherapie ist nicht 1990 erfunden worden. Schon seit den 70er Jahren experimentierten Forscher mit Zellen und Tieren. Die Erfolge waren so eindeutig, dass gleich mehrere Forschergruppen damit begannen, das Konzept auf den Menschen zu übertragen. Ende der 80er Jahre schleusten sie erstmals ein fremdes Gen auch in Menschen ein. Das Gen hatte noch keine medizinische Funktion. Der erste Heilversuch 1990 gilt bis heute als Pioniertat. Es gelang tatsächlich, das heilende Gen einzuschleusen. Das ADA-Gen funktionierte, und die Ärzte stellten keine Nebenwirkungen fest. Ein Erfolg - auf den ersten Blick.
Ein sehr couragierter Versuch, mit einer ganz neuen Methode am Patienten Behandlung zu versuchen.
Klaus Cichutek arbeitet als stellvertretender Direktor am Paul Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt, der deutschen Zulassungsbehörde für Gentherapien. Dort ist er stellvertretender Direktor, außerdem ist er Vorsitzender der Gentherapie-Arbeitsgruppe bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMEA.
" Zwar gab es die Idee in der Wissenschaft schon etwa zehn Jahre vorher, dass man durch Übertragung von Genen vielleicht Therapien beim Menschen hervorbringen kann, allerdings waren die Möglichkeiten damals noch sehr begrenzt. Das hat auch nicht vollständig geklappt, es war ja auch die Phase, bei der man wirklich euphorisch war, im Hinblick auf die Gentherapie."
Die Genaktivität in den Blutzellen der behandelten Kinder ließ schnell nach. Die Gentherapie musste mehrfach wiederholt werden. Gleichzeitig gab es Fortschritte in der Medikamenten-Entwicklung. Den ADA-Kindern konnte besser und billiger geholfen werden - ohne Gentherapie.
" Das ist vielleicht ein bisschen die Problematik der frühen Jahre, dass mit der Gentherapie gleich ein sehr hoher Heilungsdruck, ein hoher Heilungserwartung verbunden war. Allerdings ist die Idee nicht nur damals sondern auch heute noch eine tolle Idee, eine zukunftsträchtige Idee. Und wir waren alle, glaube ich, nicht geduldig genug, abzuwarten, wie die Details noch erarbeitet werden müssen und mit welchen kleinen Fortschritten man wirklich dazu kommt, dass beim Patienten eine fortschrittliche und gute Therapie zu erzielen ist - und da sind wir heute dann."
Das Grundprinzip des ersten Gentherapieversuchs 1990 ist auch heute noch ein gängiges Verfahren. Zunächst entnahmen die Ärzte ihren Patienten Blut. In die Blutzellen schleusten sie dann ein therapeutisches Gen ein. Als Transportmittel dienten so genannte Vektoren. Umgebaute Adenoviren - Schnupfenviren, die sehr verbreitet sind. Dann bekamen die Patienten die veränderten Blutzellen zurück.
" Das war doch ein sehr gewagter Sprung ganz am Anfang - aber ein berechtigter Sprung. Die Zeit war tatsächlich so, dass die Instrumentarien da lagen - nur wissen Sie - vom Labor- und Tierversuch dann zum Menschen - das ist doch immer noch ein gewagter Sprung. Und da muss ich sagen, war das wirklich von den entsprechenden Forschern und Ärzten eine Herausforderung, die sie mit Bravour bestanden haben."
Mediziner stehen auch in Deutschland in den Startlöchern.
Neue Rhein Zeitung, NRZ, Januar 1993.
" In 15 bis 20 Jahren, so die optimistische Einschätzung vieler Experten, könnte die Gentherapie ein etabliertes Verfahren in der klinischen Medizin sein."
Westdeutscher Rundfunk, WDR, 1993.
Die Gen-Chirurgen. Die Medizin erlebt einen revolutionären Aufbruch.
Stern, 1993.
" Es ist gar nicht das Ziel von den ersten Protokollen, Krebs zu heilen. Es geht jetzt darum herauszufinden: Ist das eine Methode, die den Menschen schaden kann oder nicht?"
Bernd Gänsbacher, deutscher Gentherapeut, 1994
Den Tumor fressen. (...) Nun auch in Deutschland: Genspritzen sollen Krebskranke heilen.
Der Spiegel, 1994.
" Man muss hier ganz vorsichtig und korrekt vorgehen und darf sich auch nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Dann fängt man an zu pfuschen, und dann geht was schief. Das darf nicht passieren."
Roland Mertelsmann, deutscher Gentherapeut, 1995.
"1994, als die ersten Gentherapie-Studien in Deutschland tatsächlich durchgeführt wurden, gab es natürlich großes Aufsehen. In Deutschland war die Molekularbiologie so ein bisschen ins Hintertreffen geraten zu dem Zeitpunkt. Das lag etwas auch an der gewissen Voreingenommenheit, die in diesem Lande hinsichtlich molekularbiologischer Methoden vorhanden war, zu anderen war es einfach so, dass (...) die Instrumentarien, die man benötigte, nämlich Genfähren zu haben, in den USA einfach etwas früher entwickelt waren."
In den Jahren 1993 bis 96 starteten weltweit über hundert Studien. Nur wenige hatten das Ziel, seltene angeborene Stoffwechselstörungen zu heilen. Die meisten richteten sich in dieser Phase gegen die Volkskrankheit Krebs. Fast jede Forschergruppe hatte ein eigenes Konzept entwickelt: Mal sollte durch das Einschleusen fremder Gene die Körperwehr angekurbelt werden, mal die Immunabwehr gezielt gegen den Krebs gelenkt werden - oder die Krebszellen sollten in den programmierten Selbstmord getrieben werden.
" Gentherapie war die Methode der Wahl. Man hatte sogar den Eindruck, dass die anderen, mehr konventionellen Arzneimittel eines Tages vielleicht komplett verdrängt würden, weil man ja statt irgendwo in der Zellkultur mit Genen Eiweiße herzustellen, die man dann dem Körper gab, das den Körper selber machen lassen würde, und das hörte sich toll an. "
Tierversuche waren erfolgreich verlaufen - auch bei den Gentherapien gegen den Krebs. Die ersten Hürden der Erprobung am Menschen wurden genommen. Es gab kaum erkennbare Risiken oder Nebenwirkungen. Über die Wirksamkeit der Methode jedoch ließ sich in den ersten Jahren nichts sagen.
" Ja, heute bewerte ich das so, dass eigentlich die Gentherapie nach dieser Phase der Euphorie etwa um 1995 dann ein bisschen in ein falsches Licht gerückt wurde... . "
" Wir mussten einsehen, dass wir niemanden heilen. Wir wurden immer besser, aber geheilt haben wir niemanden. "
French Anderson, Gentherapeut aus den USA.
Gentherapie: Die Flitterwochen sind zu Ende. Noch krankt diese Behandlung vor allem an fehlenden Wirkungen.
Süddeutsche Zeitung, Oktober 1995.
" Als Forscher muss man eine sehr hohe Frustrationsschwelle haben. Immer wenn Dinge nicht so laufen, wie man sie sich erhofft, und nur so gibt es Fortschritt, aber in kleinen Schritten."
Roland Mertelsmann, deutscher Gentherapeut.
Trotz vieler Vorschusslorbeeren: klinische Versuche an 200 Patienten brachten bisher keinen einzigen sicheren Heilerfolg. Kritiker warnen vor den Folgen des Genforschungs-Goldrauschs.
Die Woche, 1995
" Der Enthusiasmus, der am Anfang bestand, Anfang der neunziger Jahre, als die erste klinische Studie begann - so nach dem Motto: In zwei Jahren ist Mukoviszidose kein Thema mehr, und wir können das heilen - hat sich nicht bewahrheitet."
Joachim Bargon, deutscher Gentherapeut
" Gentherapie ist theoretisch machbar. Wir können das gesunde Gen in die kranken Zellen bekommen, auch in der Lunge. Das Problem ist, dass wir keinen idealen Vektor haben, der ohne Nebenwirkungen und effizient das tut."
Gentherapie erfüllte nicht die Erwartungen. Klinische Versuche mit Patienten gelten als gescheitert.
Die Welt, Februar 1996.
Mitte der 90er Jahre erreichten die ersten Gentherapiestudien die Phase III. Das bedeutet: Die Gentherapie musste beweisen, dass sie den Patienten hilft. Sie musste besser sein als etablierte herkömmliche Behandlungsmethoden. Früh stand fest: bei Krankheiten wie der Mukoviszidose oder der angeborenen Muskelschwäche blieb die Gentherapie wirkungslos. Auch im Kampf gegen den Krebs fehlten die erhofften Erfolge.
Als Ursache machten die Forscher die Unzulänglichkeit der Vektoren aus. Die als Genfähren benutzten Viren brachten die heilenden Gene nicht zielsicher genug in die Zellen hinein. Meist waren schon Wochen nach Behandlungsbeginn keine therapeutischen Gene mehr aufzufinden.
" In den Anfängen der Gentherapie war es tatsächlich so, dass jeder Virologe mit seinem Hausvirus nach vorne kam und gesagt hat: Daraus mache ich jetzt einen tollen Gentransfer-Vektor, eine Genfähre. Das ist auch heute noch zum Teil in Gange. Wobei man vergessen hat, dass einige Viren doch sehr komplex sind."
Nobelpreisträger Harold Varmus von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA forderte deshalb: Neue und bessere Vektoren müssen her!
Der Aufruf hieß damals von Harold Varmus "Zurück ins Labor", Genfähren verbessern und damit auch die Gentherapie verbessern. Denn es war klar geworden, dass viele klinische Erstanwendungen am Menschen seit 1990 stattgefunden hatten, dass aber eigentlich der große Erfolg der angekündigt worden war, ausgeblieben war. Was heute ganz logisch ist.
Die Zeit für klinische Versuche am Menschen war damals noch nicht reif.
"1990 oder 1995 glaubten kleine Biotech-Firmen: Mit einfachen Anwendungen komme ich schnell zum Erfolg, bin an der Börse und mache schnell Geld. Es hat sich herausgestellt, dass hier bis zur Entwicklung auch eines Gentransfer-Arzneimittels zehn Jahre vergehen können. Inzwischen haben wir erst eine einzige Marktzulassung - übrigens weltweit - in China. Es stehen hoffentlich Marktzulassungen in Europa und den USA bevor. Aber man hat erkannt: Es braucht viel Geld, es braucht doch eine ganz schön lange Entwicklungszeit und es gibt einige Hürden. Und deswegen müssen sich inzwischen große pharmazeutische Unternehmen mit der Problematik befassen, die auch genügend finanzielle Stärke im Hintergrund haben, um in der Lage zu sein, diesen Weg zu beschreiten, um dann hinterher erfolgreich zu sein mit Gentransfer-Arzneimitteln und irgendwann sicherlich auch lukrative Produkte auf den Markt bringen werden."
Die Wissenschaftler kannten inzwischen die Probleme ihres Verfahrens. Sie hatten aber noch keine Vorstellung davon, wie sie gelöst werden könnten. Die laufenden klinischen Studien brachen sie nicht ab.
" Am Ende der 90er Jahre ergab sich, dass die Öffentlichkeit mit besonders scharfen Augen die Gentherapie ansah. Auf der einen Seite befand sich hier die Gruppe der Leute, die immer noch euphorisch waren, auf der anderen Seite gab es inzwischen schon viele Skeptiker, und ich glaube, es passte einfach ins Bild, dass damals dann unglücklicherweise der erste Patient, der im Rahmen einer klinischen Prüfung mit einem Gentherapeutikum behandelt worden war, der Patient Gelsinger, verstarb. "
Tod durch eine Gentherapie. Ein 18-jähriger Amerikaner starb an einem Experiment.
Bonner General-Anzeiger, November 1999.
" Der Tod von Jesse Gelsinger war ein harter Schlag für das gesamte Forschungsfeld."
Verschwiegene Tierversuche, verheimlichte Nebenwirkungen, nicht beachtete Auflagen. Mehr noch: die beteiligten Genforscher haben offenbar den eigenen Forscherehrgeiz und wirtschaftliche Interessen an der Vermarktung ihrer Gentherapie über die Sicherheit der Patienten gestellt.
WDR - Fernsehen
" Der Fall zeigt: Die Gentherapeuten haben den Überblick verloren. Es fehlt an Transparenz. Und Interessenkonflikte sind möglich. Das alles muss geklärt werden."
Ende einer Irrfahrt: Ein junger Amerikaner starb, als Forscher ihn von seinem Stoffwechselleiden heilen wollten. Nach dem Menschenversuch mit tödlichem Ausgang sind ähnliche Experimente vorerst gestoppt worden. Kritiker halten die Gentherapie einstweilen für wirkungslos und zu riskant.
Der Spiegel.
Als ich (...) erfuhr, (...) dass die Wirksamkeit der Methode beim Menschen gar nicht nachgewiesen ist, wusste ich, dass ich betrogen worden war.
Paul Gelsinger, der Vater des ersten Gentherapie-Opfers.
" Wir dürfen nicht vergessen, dass auch der Patient Gelsinger ein Patient war, der schwer krank war, der schon im Koma gelegen hatte, auf Grund seiner Grunderkrankung, so dass wir also hier nicht ohne Not eine Gentherapie am Patienten versucht haben."
Jesse Gelsinger litt an einer angeborenen Stoffwechselstörung. Seine Leber stellte nicht genügend von einem Enzym her, das für den Abbau von Harnstoff wichtig ist. Ihm drohte eine chronische Vergiftung durch Ammoniak. Mit einer eiweißarmen Ernährung und speziellen Medikamenten lässt sich solch eine Ammoniak-Vergiftung verhindern.
Gelsinger erfuhr von einer Gentherapie-Studie an der Universität von Pennsylvania und erklärte sich zur Teilnahme bereit. Die Mediziner in Pittsburgh wählten als Vektoren Adeno-Viren und spritzten sie in einer sehr hohen Dosis.
Die Folge war eine akute Leberentzündung.
" Bei adeno-viralen Vektoren ist es tatsächlich so, dass die Hülle dieser Vektoren im Grunde Entzündungs-Eigenschaften hat. D.h.: Wenn ich eine große Menge dieser Vektoren gebe, dann reagiert der Körper darauf mit einer akuten Entzündungsreaktion. Und die lag (übrigens) dem Tod des Patienten Gelsinger zu Grunde. "
Eine überschießende Reaktion des Immunsystems führte innerhalb eines Tages zum Versagen von Leber, Niere und Lunge. Die Ärzte konnten Jesse Gelsinger nicht retten.
" Es war ein Medizinskandal im Hinblick darauf, dass die klinische Prüfung nicht ordentlich durchführt wurde, und der entsprechende klinische Prüfleiter, dem ist verboten worden, weiterhin klinische Prüfungen zu machen. (Das ist ein Skandal.) Der Skandal besteht aber nicht darin, die Gentherapie gewagt zu haben, sondern darin, dass hier nicht ordentlich nach Standards, die üblich sind, gearbeitet wurde."
Nach dem Todesfall in den USA wurden alle Gentherapiestudien mit Adenoviren als Vektoren vorübergehend gestoppt. Die Studien wurden auf ihre Risiken überprüft. Die meisten wurden dann fortgesetzt. Adenoviren werden weiterhin als Vektoren verwendet. Aber seit dem Fall Gelsinger sind die Mediziner bei der Dosierung der gespritzten Viren vorsichtiger geworden.
" Die wenigen Einzelfälle, bei denen ein Versterben von Patienten oder eine Gefährdung von Leben vorkam, werden so stark ins Licht gestellt, dass man darüber vergisst, dass viele Patienten heute in der Standardtherapie mit sehr viel gefährlicheren Therapien und Therapeutika behandelt werden müssen, um auch die Chance zu haben, ihnen zu helfen. Das heißt aus heutiger Sicht: übertriebene Depression und eigentlich - ja nicht ein Normalfall - ein unglücklicher Fall, aber ein Fall, der nun leider auf dem Erfahrungsweg bis zur Anwendung einer solchen Therapie manchmal einfach erlebt werden muss."
Erst Trauer, dann Jubel. Nach einem Todesfall melden Gentherapeuten nun Erfolge.
Die Zeit, Dezember 1999.
" Das ist der erste wirkliche Erfolg der Gentherapie."
French Anderson, US-amerikanischer Gentherapie-Pionier.
" Die Kollegen waren ziemlich froh, und wir auch. Der dramatische Tod von Jesse Gelsinger lag ja gerade erst ein paar Monate zurück."
Alain Fischer, französischer Kinderarzt und Gentherapeut, Paris.
" Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Prinzip der Gentherapie funktioniert - zumindest für einige Zeit."
Der erste allgemein anerkannte Erfolg einer Gentherapie gelang im Jahr 2000 dem französischen Kinderarzt Alain Fischer vom Hopital Necker in Paris. Er behandelte Kinder mit einer angeborenen Immunschwächekrankheit: X-Scid. Auch Kinder mit dieser seltenen und schweren Krankheit müssen vor Keimen geschützt werden und können nur in Spezialzelten überleben. Im Gegensatz zu den ADA-Kindern gibt es für sie keine Medikamente, die die Symptome nahezu vollständig beseitigen.
Einigen X-Scid-Kindern kann eine Knochenmarktransplantation helfen. Sie bekommen so ein neues gesundes Immunsystem. Das Problem: ein passender Spender muss gefunden werden. Alain Fischer behandelte die Kinder, für die kein Zellspender zu finden war, mit einer Gentherapie. Zunächst hatte er Erfolg. Acht von zehn Kindern, die er in einer ersten Studie behandelte, konnten geheilt werden.
" Bei den Patienten, bei denen es klappt, (...) bedeutet das, dass diese Kinder dann normal leben können, sie können raus aus dem Zelten, sie können nach Hause, sie haben eigentlich ein ganz normales Leben vor sich. (...) Insofern: eine richtige Anwendung der Gentherapie, ein toller Erfolg, aber auch danach Erkenntnisse darüber, dass diese spezielle Gentherapie mit Nebenwirkungen verbunden ist."
Heilung unter Lebensgefahr. Der erste Krebsfall nach einer Gentherapie zerstört die gerade gekeimten Hoffnungen. Ein Kleinkind erkrankte an Leukämie.
Berliner Zeitung, Oktober 2002.
Schatten über der Gentherapie.
Ein Fall von Blutkrebs: Ärzte und Behörden im Zwiespalt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung. FAZ.
" Sollen wir nicht länger forschen? Wir können doch nicht die gesamte Wissenschaft stoppen. Sonst werden wir die Kinder niemals retten können."
Allessandro Aiuti, Italienischer Gentherapeut, Mailand.
Die Gentherapeuten fürchten, dass sie nun erneut ins Gerede kommen.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
" Momentan sind die Zahlen so, dass wir bei drei von etwa 17 behandelten Kindern - 17 erfolgreich behandelten Kindern - eine Leukämie-Entwicklung hatten. Zwei der Kinder mit der Leukämie konnten konventionell behandelt werden, so dass die Leukämie zurück gedrängt wurde, ein Kind ist tragischerweise verstorben."
Für Klaus Cichutek vom Paul Ehrlich-Institut bedeuten die Ergebnisse der Gentherapie-Studie seines Pariser Kollegen Alain Fischer keinen Misserfolg.
Seiner Meinung nach müssen die Risiken der Gentherapie mit den Risken herkömmlicher Behandlungen verglichen werden.
" Bei der entsprechenden Knochenmarktransplantation mit Spendern, die nicht genau die richtigen d.h. verträglichen Zellen übertragen würden, würde der Prozentsatz der versterbenden Kinder 30 bis 50 Prozent betragen. D.h. hier sind wir auch vom Risiko-Nutzen-Verhältnis eigentlich noch in einem Bereich, in dem man diese Therapie auch nach Kenntnis über die Leukämie vertreten kann."
Als Vektoren benutzte Alain Fischer Retroviren. Auch das AIDS-Virus gehört zu dieser Gruppe von Viren. Um Retroviren als Genfähren benutzen zu können, werden zuvor alle gefährlichen Virusgene entfernt und das heilende Gen wird eingefügt. Die Besonderheit der Retroviren bleibt bestehen: sie bauen ihr Erbgut und damit auch das therapeutische Gen fest in infizierte Zellen ein und aktivieren es.
" Die Problematik bei Retroviren: Sehr starke Steuer-Elemente zum Ablesen der Gene im Körper. Starke Steuerelemente können sich auswirken manchmal auch auf die Steuerung anderer Gene. Zum Beispiel der Onkogene in Zellen. Wenn man Onkogene aktiviert mit solchen Steuerelementen, kann das ein erster Schritt zu Krebs sein. Das ist ein uns immer bekannt gewesenes theoretisches Risiko."
Genau das ist bei der Pariser Gentherapie-Studie passiert. Nun standen auch die Retroviren auf dem Prüfstand.
" Man wird die Vektoren verbessern, die offensichtlich diese Leukämien verursacht haben - genau so wie sie übrigens auch die andere Patienten geheilt haben. Und man wird dann versuchen, die Therapie so zu modifizieren, dass sie noch verträglicher ist."
Retroviren und Adenoviren zählen für die Wissenschaftler nach wie vor zu den wichtigsten Genfähren. Ihre inzwischen bekannten Risiken versuchen die Forscher in den Griff zu bekommen, indem sie die Viren umbauen und vorsichtig dosieren.
China genehmigt weltweit erste Gentherapie.
Österreichischer Rundfunk, ORF, 2003
Tierversuche helfen nicht weiter. Das einzig richtige Modell - das ist der Mensch.
Pedro Löwenstein, britischer Gentherapeut, Manchester.
Die weltweit erste Gentherapie ist 2004 in China auf den Markt gebracht worden durch das Unternehmen SiBiono.
Westdeutscher Rundfunk, WDR.
Die chinesischen Forscher haben die Gentherapie an 120 Patienten getestet, die an Tumoren im Nasen-Rachenraum litten.
Netzeitung.de
Es handelt sich dabei um eine Krebsform, die in China besonders verbreitet ist. (...) Die Behandlung besteht aus einem Adeno-Virus, das für das Einfügen des Gens p53 vorgesehen ist.
Der Standard, Wien.
Prinzipiell ist das toll, dass das erste Gentherapie-Arzneimittel zugelassen ist. Was nicht toll ist, ist, dass wir tatsächlich sehr wenig Information zu Verfügung haben. (...) Und ich lasse es bei keiner Gelegenheit - bei einem Vortrag zu Gentherapie-Arzneimitteln - aus, darauf hinzuweisen, dass ich es für unerträglich halte, dass in einem Bereich der Arzneimittel-Entwicklung, der wirklich sehr transparent gegenüber der Öffentlichkeit ist, mit all seinen Pros und Contras keine genaueren Informationen über dieses Arzneimittel zur Verfügung stehen. Eine große Unterlassungssünde der entsprechenden Firma, vielleicht auch eine Unterlassungssünde der entsprechenden Behörden in China, die uns besser hätten informieren sollen.
" Der Vorteil bei der Gentherapie: Uns schauen alle ganz genau auf die Finger. "
Pedro Löwenstein, britischer Gentherapeut, Manchester
15 Jahre Gentherapie-Versuche am Menschen. Die Euphorie der frühen Jahre ist verflogen. Es gab viele Rückschläge, Fortschritte stellten sich langsamer ein als erwartet. Das größte Herausforderung bleibt nach wie vor, das therapeutische Gen exakt an den richtigen Ort im Erbgut zu bringen. Fortschritte gibt es hier nur im Labor: Grundlagenforscher aus Kalifornien ist es gelungen, in Zellen kranke Gene auszutauschen; sie herauszuschneiden und gesunde Gene einzufügen. Eine alte Vision der Gentherapie. Bislang galt sie als unerreichbar. Ob die neue Methode helfen wird, Menschen zu heilen, ist offen.
Die Zahl der Gentherapie-Studien ist heute deutlich kleiner als in den 90er Jahren. Nur wer ausgereifte Konzepte vorlegt, bekommt auch Geld für neue Studien.
Hoffnung auf Erfolg haben die Gentherapeuten noch immer. Aber sie sind vorsichtiger geworden.
Es wird nicht bei der Gentherapie bleiben, sondern bei speziellen gentherapeutischen Anwendungen bei Krebs, Infektionskrankheiten, kardio-vaskulär, Erbkrankheiten, und das werden wir sehen in den nächsten Jahrzehnten, dass sich hier die Gentherapie ihren Platz verschafft.
" Es macht einfach Spaß, in der Entwicklung mit drin zu stecken, mit zu lernen, mit zu forschen und auch die entsprechenden regulatorischen Rahmenbedingungen zu entwickeln, das ist einfach schön."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, September 1990
Ein vier Jahre altes, schwerkrankes Mädchen wurde als erste Patientin der Welt mit gentechnisch veränderten Zellen behandelt.
Der 14. September 1990 ist der Geburtstag der Gentherapie. Die Patienten: Drei Kinder, denen ein wichtiges Enzym fehlte - die Adenosindeaminase. ADA.
Ihr Immunsystem ist so stark gestört, dass sie nur abgeschirmt von der Umwelt überleben können: In Spezialzelten oder Anzügen, die denen von Astronauten ähneln. Die meisten dieser Kinder sterben früh an einer Lungenentzündung oder einer Virusinfektion. Weltweit kommen jährlich etwa 15 Kinder mit diesem Gendefekt auf die Welt.
" Gentherapie ist, wenn man ein normales Gen in die Zellen eines Menschen bringt, der ein abnormes oder schlechtes Gen hat. "
French Anderson, Gentherapie-Pionier von der University of Southern California in Los Angeles.
Gen-Operation soll Kind retten
Kölner Stadt-Anzeiger, September 1990.
" Die Gentherapie wird die Medizin revolutionieren - in den nächsten 20 Jahren."
Vierjährige spürte bei der Injektion keinerlei Schmerz.
Rheinische Post.
" Das war kein wissenschaftlicher Durchbruch im eigentlichen Sinne. Aber es war ein kultureller Durchbruch."
Darauf hat die Medizin seit Tausenden von Jahren gewartet.
Gerald McGarrity von der Gentherapie-Gutachter-Kommission in den USA.
Das Konzept der Gentherapie ist nicht 1990 erfunden worden. Schon seit den 70er Jahren experimentierten Forscher mit Zellen und Tieren. Die Erfolge waren so eindeutig, dass gleich mehrere Forschergruppen damit begannen, das Konzept auf den Menschen zu übertragen. Ende der 80er Jahre schleusten sie erstmals ein fremdes Gen auch in Menschen ein. Das Gen hatte noch keine medizinische Funktion. Der erste Heilversuch 1990 gilt bis heute als Pioniertat. Es gelang tatsächlich, das heilende Gen einzuschleusen. Das ADA-Gen funktionierte, und die Ärzte stellten keine Nebenwirkungen fest. Ein Erfolg - auf den ersten Blick.
Ein sehr couragierter Versuch, mit einer ganz neuen Methode am Patienten Behandlung zu versuchen.
Klaus Cichutek arbeitet als stellvertretender Direktor am Paul Ehrlich-Institut in Langen bei Frankfurt, der deutschen Zulassungsbehörde für Gentherapien. Dort ist er stellvertretender Direktor, außerdem ist er Vorsitzender der Gentherapie-Arbeitsgruppe bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMEA.
" Zwar gab es die Idee in der Wissenschaft schon etwa zehn Jahre vorher, dass man durch Übertragung von Genen vielleicht Therapien beim Menschen hervorbringen kann, allerdings waren die Möglichkeiten damals noch sehr begrenzt. Das hat auch nicht vollständig geklappt, es war ja auch die Phase, bei der man wirklich euphorisch war, im Hinblick auf die Gentherapie."
Die Genaktivität in den Blutzellen der behandelten Kinder ließ schnell nach. Die Gentherapie musste mehrfach wiederholt werden. Gleichzeitig gab es Fortschritte in der Medikamenten-Entwicklung. Den ADA-Kindern konnte besser und billiger geholfen werden - ohne Gentherapie.
" Das ist vielleicht ein bisschen die Problematik der frühen Jahre, dass mit der Gentherapie gleich ein sehr hoher Heilungsdruck, ein hoher Heilungserwartung verbunden war. Allerdings ist die Idee nicht nur damals sondern auch heute noch eine tolle Idee, eine zukunftsträchtige Idee. Und wir waren alle, glaube ich, nicht geduldig genug, abzuwarten, wie die Details noch erarbeitet werden müssen und mit welchen kleinen Fortschritten man wirklich dazu kommt, dass beim Patienten eine fortschrittliche und gute Therapie zu erzielen ist - und da sind wir heute dann."
Das Grundprinzip des ersten Gentherapieversuchs 1990 ist auch heute noch ein gängiges Verfahren. Zunächst entnahmen die Ärzte ihren Patienten Blut. In die Blutzellen schleusten sie dann ein therapeutisches Gen ein. Als Transportmittel dienten so genannte Vektoren. Umgebaute Adenoviren - Schnupfenviren, die sehr verbreitet sind. Dann bekamen die Patienten die veränderten Blutzellen zurück.
" Das war doch ein sehr gewagter Sprung ganz am Anfang - aber ein berechtigter Sprung. Die Zeit war tatsächlich so, dass die Instrumentarien da lagen - nur wissen Sie - vom Labor- und Tierversuch dann zum Menschen - das ist doch immer noch ein gewagter Sprung. Und da muss ich sagen, war das wirklich von den entsprechenden Forschern und Ärzten eine Herausforderung, die sie mit Bravour bestanden haben."
Mediziner stehen auch in Deutschland in den Startlöchern.
Neue Rhein Zeitung, NRZ, Januar 1993.
" In 15 bis 20 Jahren, so die optimistische Einschätzung vieler Experten, könnte die Gentherapie ein etabliertes Verfahren in der klinischen Medizin sein."
Westdeutscher Rundfunk, WDR, 1993.
Die Gen-Chirurgen. Die Medizin erlebt einen revolutionären Aufbruch.
Stern, 1993.
" Es ist gar nicht das Ziel von den ersten Protokollen, Krebs zu heilen. Es geht jetzt darum herauszufinden: Ist das eine Methode, die den Menschen schaden kann oder nicht?"
Bernd Gänsbacher, deutscher Gentherapeut, 1994
Den Tumor fressen. (...) Nun auch in Deutschland: Genspritzen sollen Krebskranke heilen.
Der Spiegel, 1994.
" Man muss hier ganz vorsichtig und korrekt vorgehen und darf sich auch nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Dann fängt man an zu pfuschen, und dann geht was schief. Das darf nicht passieren."
Roland Mertelsmann, deutscher Gentherapeut, 1995.
"1994, als die ersten Gentherapie-Studien in Deutschland tatsächlich durchgeführt wurden, gab es natürlich großes Aufsehen. In Deutschland war die Molekularbiologie so ein bisschen ins Hintertreffen geraten zu dem Zeitpunkt. Das lag etwas auch an der gewissen Voreingenommenheit, die in diesem Lande hinsichtlich molekularbiologischer Methoden vorhanden war, zu anderen war es einfach so, dass (...) die Instrumentarien, die man benötigte, nämlich Genfähren zu haben, in den USA einfach etwas früher entwickelt waren."
In den Jahren 1993 bis 96 starteten weltweit über hundert Studien. Nur wenige hatten das Ziel, seltene angeborene Stoffwechselstörungen zu heilen. Die meisten richteten sich in dieser Phase gegen die Volkskrankheit Krebs. Fast jede Forschergruppe hatte ein eigenes Konzept entwickelt: Mal sollte durch das Einschleusen fremder Gene die Körperwehr angekurbelt werden, mal die Immunabwehr gezielt gegen den Krebs gelenkt werden - oder die Krebszellen sollten in den programmierten Selbstmord getrieben werden.
" Gentherapie war die Methode der Wahl. Man hatte sogar den Eindruck, dass die anderen, mehr konventionellen Arzneimittel eines Tages vielleicht komplett verdrängt würden, weil man ja statt irgendwo in der Zellkultur mit Genen Eiweiße herzustellen, die man dann dem Körper gab, das den Körper selber machen lassen würde, und das hörte sich toll an. "
Tierversuche waren erfolgreich verlaufen - auch bei den Gentherapien gegen den Krebs. Die ersten Hürden der Erprobung am Menschen wurden genommen. Es gab kaum erkennbare Risiken oder Nebenwirkungen. Über die Wirksamkeit der Methode jedoch ließ sich in den ersten Jahren nichts sagen.
" Ja, heute bewerte ich das so, dass eigentlich die Gentherapie nach dieser Phase der Euphorie etwa um 1995 dann ein bisschen in ein falsches Licht gerückt wurde... . "
" Wir mussten einsehen, dass wir niemanden heilen. Wir wurden immer besser, aber geheilt haben wir niemanden. "
French Anderson, Gentherapeut aus den USA.
Gentherapie: Die Flitterwochen sind zu Ende. Noch krankt diese Behandlung vor allem an fehlenden Wirkungen.
Süddeutsche Zeitung, Oktober 1995.
" Als Forscher muss man eine sehr hohe Frustrationsschwelle haben. Immer wenn Dinge nicht so laufen, wie man sie sich erhofft, und nur so gibt es Fortschritt, aber in kleinen Schritten."
Roland Mertelsmann, deutscher Gentherapeut.
Trotz vieler Vorschusslorbeeren: klinische Versuche an 200 Patienten brachten bisher keinen einzigen sicheren Heilerfolg. Kritiker warnen vor den Folgen des Genforschungs-Goldrauschs.
Die Woche, 1995
" Der Enthusiasmus, der am Anfang bestand, Anfang der neunziger Jahre, als die erste klinische Studie begann - so nach dem Motto: In zwei Jahren ist Mukoviszidose kein Thema mehr, und wir können das heilen - hat sich nicht bewahrheitet."
Joachim Bargon, deutscher Gentherapeut
" Gentherapie ist theoretisch machbar. Wir können das gesunde Gen in die kranken Zellen bekommen, auch in der Lunge. Das Problem ist, dass wir keinen idealen Vektor haben, der ohne Nebenwirkungen und effizient das tut."
Gentherapie erfüllte nicht die Erwartungen. Klinische Versuche mit Patienten gelten als gescheitert.
Die Welt, Februar 1996.
Mitte der 90er Jahre erreichten die ersten Gentherapiestudien die Phase III. Das bedeutet: Die Gentherapie musste beweisen, dass sie den Patienten hilft. Sie musste besser sein als etablierte herkömmliche Behandlungsmethoden. Früh stand fest: bei Krankheiten wie der Mukoviszidose oder der angeborenen Muskelschwäche blieb die Gentherapie wirkungslos. Auch im Kampf gegen den Krebs fehlten die erhofften Erfolge.
Als Ursache machten die Forscher die Unzulänglichkeit der Vektoren aus. Die als Genfähren benutzten Viren brachten die heilenden Gene nicht zielsicher genug in die Zellen hinein. Meist waren schon Wochen nach Behandlungsbeginn keine therapeutischen Gene mehr aufzufinden.
" In den Anfängen der Gentherapie war es tatsächlich so, dass jeder Virologe mit seinem Hausvirus nach vorne kam und gesagt hat: Daraus mache ich jetzt einen tollen Gentransfer-Vektor, eine Genfähre. Das ist auch heute noch zum Teil in Gange. Wobei man vergessen hat, dass einige Viren doch sehr komplex sind."
Nobelpreisträger Harold Varmus von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA forderte deshalb: Neue und bessere Vektoren müssen her!
Der Aufruf hieß damals von Harold Varmus "Zurück ins Labor", Genfähren verbessern und damit auch die Gentherapie verbessern. Denn es war klar geworden, dass viele klinische Erstanwendungen am Menschen seit 1990 stattgefunden hatten, dass aber eigentlich der große Erfolg der angekündigt worden war, ausgeblieben war. Was heute ganz logisch ist.
Die Zeit für klinische Versuche am Menschen war damals noch nicht reif.
"1990 oder 1995 glaubten kleine Biotech-Firmen: Mit einfachen Anwendungen komme ich schnell zum Erfolg, bin an der Börse und mache schnell Geld. Es hat sich herausgestellt, dass hier bis zur Entwicklung auch eines Gentransfer-Arzneimittels zehn Jahre vergehen können. Inzwischen haben wir erst eine einzige Marktzulassung - übrigens weltweit - in China. Es stehen hoffentlich Marktzulassungen in Europa und den USA bevor. Aber man hat erkannt: Es braucht viel Geld, es braucht doch eine ganz schön lange Entwicklungszeit und es gibt einige Hürden. Und deswegen müssen sich inzwischen große pharmazeutische Unternehmen mit der Problematik befassen, die auch genügend finanzielle Stärke im Hintergrund haben, um in der Lage zu sein, diesen Weg zu beschreiten, um dann hinterher erfolgreich zu sein mit Gentransfer-Arzneimitteln und irgendwann sicherlich auch lukrative Produkte auf den Markt bringen werden."
Die Wissenschaftler kannten inzwischen die Probleme ihres Verfahrens. Sie hatten aber noch keine Vorstellung davon, wie sie gelöst werden könnten. Die laufenden klinischen Studien brachen sie nicht ab.
" Am Ende der 90er Jahre ergab sich, dass die Öffentlichkeit mit besonders scharfen Augen die Gentherapie ansah. Auf der einen Seite befand sich hier die Gruppe der Leute, die immer noch euphorisch waren, auf der anderen Seite gab es inzwischen schon viele Skeptiker, und ich glaube, es passte einfach ins Bild, dass damals dann unglücklicherweise der erste Patient, der im Rahmen einer klinischen Prüfung mit einem Gentherapeutikum behandelt worden war, der Patient Gelsinger, verstarb. "
Tod durch eine Gentherapie. Ein 18-jähriger Amerikaner starb an einem Experiment.
Bonner General-Anzeiger, November 1999.
" Der Tod von Jesse Gelsinger war ein harter Schlag für das gesamte Forschungsfeld."
Verschwiegene Tierversuche, verheimlichte Nebenwirkungen, nicht beachtete Auflagen. Mehr noch: die beteiligten Genforscher haben offenbar den eigenen Forscherehrgeiz und wirtschaftliche Interessen an der Vermarktung ihrer Gentherapie über die Sicherheit der Patienten gestellt.
WDR - Fernsehen
" Der Fall zeigt: Die Gentherapeuten haben den Überblick verloren. Es fehlt an Transparenz. Und Interessenkonflikte sind möglich. Das alles muss geklärt werden."
Ende einer Irrfahrt: Ein junger Amerikaner starb, als Forscher ihn von seinem Stoffwechselleiden heilen wollten. Nach dem Menschenversuch mit tödlichem Ausgang sind ähnliche Experimente vorerst gestoppt worden. Kritiker halten die Gentherapie einstweilen für wirkungslos und zu riskant.
Der Spiegel.
Als ich (...) erfuhr, (...) dass die Wirksamkeit der Methode beim Menschen gar nicht nachgewiesen ist, wusste ich, dass ich betrogen worden war.
Paul Gelsinger, der Vater des ersten Gentherapie-Opfers.
" Wir dürfen nicht vergessen, dass auch der Patient Gelsinger ein Patient war, der schwer krank war, der schon im Koma gelegen hatte, auf Grund seiner Grunderkrankung, so dass wir also hier nicht ohne Not eine Gentherapie am Patienten versucht haben."
Jesse Gelsinger litt an einer angeborenen Stoffwechselstörung. Seine Leber stellte nicht genügend von einem Enzym her, das für den Abbau von Harnstoff wichtig ist. Ihm drohte eine chronische Vergiftung durch Ammoniak. Mit einer eiweißarmen Ernährung und speziellen Medikamenten lässt sich solch eine Ammoniak-Vergiftung verhindern.
Gelsinger erfuhr von einer Gentherapie-Studie an der Universität von Pennsylvania und erklärte sich zur Teilnahme bereit. Die Mediziner in Pittsburgh wählten als Vektoren Adeno-Viren und spritzten sie in einer sehr hohen Dosis.
Die Folge war eine akute Leberentzündung.
" Bei adeno-viralen Vektoren ist es tatsächlich so, dass die Hülle dieser Vektoren im Grunde Entzündungs-Eigenschaften hat. D.h.: Wenn ich eine große Menge dieser Vektoren gebe, dann reagiert der Körper darauf mit einer akuten Entzündungsreaktion. Und die lag (übrigens) dem Tod des Patienten Gelsinger zu Grunde. "
Eine überschießende Reaktion des Immunsystems führte innerhalb eines Tages zum Versagen von Leber, Niere und Lunge. Die Ärzte konnten Jesse Gelsinger nicht retten.
" Es war ein Medizinskandal im Hinblick darauf, dass die klinische Prüfung nicht ordentlich durchführt wurde, und der entsprechende klinische Prüfleiter, dem ist verboten worden, weiterhin klinische Prüfungen zu machen. (Das ist ein Skandal.) Der Skandal besteht aber nicht darin, die Gentherapie gewagt zu haben, sondern darin, dass hier nicht ordentlich nach Standards, die üblich sind, gearbeitet wurde."
Nach dem Todesfall in den USA wurden alle Gentherapiestudien mit Adenoviren als Vektoren vorübergehend gestoppt. Die Studien wurden auf ihre Risiken überprüft. Die meisten wurden dann fortgesetzt. Adenoviren werden weiterhin als Vektoren verwendet. Aber seit dem Fall Gelsinger sind die Mediziner bei der Dosierung der gespritzten Viren vorsichtiger geworden.
" Die wenigen Einzelfälle, bei denen ein Versterben von Patienten oder eine Gefährdung von Leben vorkam, werden so stark ins Licht gestellt, dass man darüber vergisst, dass viele Patienten heute in der Standardtherapie mit sehr viel gefährlicheren Therapien und Therapeutika behandelt werden müssen, um auch die Chance zu haben, ihnen zu helfen. Das heißt aus heutiger Sicht: übertriebene Depression und eigentlich - ja nicht ein Normalfall - ein unglücklicher Fall, aber ein Fall, der nun leider auf dem Erfahrungsweg bis zur Anwendung einer solchen Therapie manchmal einfach erlebt werden muss."
Erst Trauer, dann Jubel. Nach einem Todesfall melden Gentherapeuten nun Erfolge.
Die Zeit, Dezember 1999.
" Das ist der erste wirkliche Erfolg der Gentherapie."
French Anderson, US-amerikanischer Gentherapie-Pionier.
" Die Kollegen waren ziemlich froh, und wir auch. Der dramatische Tod von Jesse Gelsinger lag ja gerade erst ein paar Monate zurück."
Alain Fischer, französischer Kinderarzt und Gentherapeut, Paris.
" Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Prinzip der Gentherapie funktioniert - zumindest für einige Zeit."
Der erste allgemein anerkannte Erfolg einer Gentherapie gelang im Jahr 2000 dem französischen Kinderarzt Alain Fischer vom Hopital Necker in Paris. Er behandelte Kinder mit einer angeborenen Immunschwächekrankheit: X-Scid. Auch Kinder mit dieser seltenen und schweren Krankheit müssen vor Keimen geschützt werden und können nur in Spezialzelten überleben. Im Gegensatz zu den ADA-Kindern gibt es für sie keine Medikamente, die die Symptome nahezu vollständig beseitigen.
Einigen X-Scid-Kindern kann eine Knochenmarktransplantation helfen. Sie bekommen so ein neues gesundes Immunsystem. Das Problem: ein passender Spender muss gefunden werden. Alain Fischer behandelte die Kinder, für die kein Zellspender zu finden war, mit einer Gentherapie. Zunächst hatte er Erfolg. Acht von zehn Kindern, die er in einer ersten Studie behandelte, konnten geheilt werden.
" Bei den Patienten, bei denen es klappt, (...) bedeutet das, dass diese Kinder dann normal leben können, sie können raus aus dem Zelten, sie können nach Hause, sie haben eigentlich ein ganz normales Leben vor sich. (...) Insofern: eine richtige Anwendung der Gentherapie, ein toller Erfolg, aber auch danach Erkenntnisse darüber, dass diese spezielle Gentherapie mit Nebenwirkungen verbunden ist."
Heilung unter Lebensgefahr. Der erste Krebsfall nach einer Gentherapie zerstört die gerade gekeimten Hoffnungen. Ein Kleinkind erkrankte an Leukämie.
Berliner Zeitung, Oktober 2002.
Schatten über der Gentherapie.
Ein Fall von Blutkrebs: Ärzte und Behörden im Zwiespalt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung. FAZ.
" Sollen wir nicht länger forschen? Wir können doch nicht die gesamte Wissenschaft stoppen. Sonst werden wir die Kinder niemals retten können."
Allessandro Aiuti, Italienischer Gentherapeut, Mailand.
Die Gentherapeuten fürchten, dass sie nun erneut ins Gerede kommen.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
" Momentan sind die Zahlen so, dass wir bei drei von etwa 17 behandelten Kindern - 17 erfolgreich behandelten Kindern - eine Leukämie-Entwicklung hatten. Zwei der Kinder mit der Leukämie konnten konventionell behandelt werden, so dass die Leukämie zurück gedrängt wurde, ein Kind ist tragischerweise verstorben."
Für Klaus Cichutek vom Paul Ehrlich-Institut bedeuten die Ergebnisse der Gentherapie-Studie seines Pariser Kollegen Alain Fischer keinen Misserfolg.
Seiner Meinung nach müssen die Risiken der Gentherapie mit den Risken herkömmlicher Behandlungen verglichen werden.
" Bei der entsprechenden Knochenmarktransplantation mit Spendern, die nicht genau die richtigen d.h. verträglichen Zellen übertragen würden, würde der Prozentsatz der versterbenden Kinder 30 bis 50 Prozent betragen. D.h. hier sind wir auch vom Risiko-Nutzen-Verhältnis eigentlich noch in einem Bereich, in dem man diese Therapie auch nach Kenntnis über die Leukämie vertreten kann."
Als Vektoren benutzte Alain Fischer Retroviren. Auch das AIDS-Virus gehört zu dieser Gruppe von Viren. Um Retroviren als Genfähren benutzen zu können, werden zuvor alle gefährlichen Virusgene entfernt und das heilende Gen wird eingefügt. Die Besonderheit der Retroviren bleibt bestehen: sie bauen ihr Erbgut und damit auch das therapeutische Gen fest in infizierte Zellen ein und aktivieren es.
" Die Problematik bei Retroviren: Sehr starke Steuer-Elemente zum Ablesen der Gene im Körper. Starke Steuerelemente können sich auswirken manchmal auch auf die Steuerung anderer Gene. Zum Beispiel der Onkogene in Zellen. Wenn man Onkogene aktiviert mit solchen Steuerelementen, kann das ein erster Schritt zu Krebs sein. Das ist ein uns immer bekannt gewesenes theoretisches Risiko."
Genau das ist bei der Pariser Gentherapie-Studie passiert. Nun standen auch die Retroviren auf dem Prüfstand.
" Man wird die Vektoren verbessern, die offensichtlich diese Leukämien verursacht haben - genau so wie sie übrigens auch die andere Patienten geheilt haben. Und man wird dann versuchen, die Therapie so zu modifizieren, dass sie noch verträglicher ist."
Retroviren und Adenoviren zählen für die Wissenschaftler nach wie vor zu den wichtigsten Genfähren. Ihre inzwischen bekannten Risiken versuchen die Forscher in den Griff zu bekommen, indem sie die Viren umbauen und vorsichtig dosieren.
China genehmigt weltweit erste Gentherapie.
Österreichischer Rundfunk, ORF, 2003
Tierversuche helfen nicht weiter. Das einzig richtige Modell - das ist der Mensch.
Pedro Löwenstein, britischer Gentherapeut, Manchester.
Die weltweit erste Gentherapie ist 2004 in China auf den Markt gebracht worden durch das Unternehmen SiBiono.
Westdeutscher Rundfunk, WDR.
Die chinesischen Forscher haben die Gentherapie an 120 Patienten getestet, die an Tumoren im Nasen-Rachenraum litten.
Netzeitung.de
Es handelt sich dabei um eine Krebsform, die in China besonders verbreitet ist. (...) Die Behandlung besteht aus einem Adeno-Virus, das für das Einfügen des Gens p53 vorgesehen ist.
Der Standard, Wien.
Prinzipiell ist das toll, dass das erste Gentherapie-Arzneimittel zugelassen ist. Was nicht toll ist, ist, dass wir tatsächlich sehr wenig Information zu Verfügung haben. (...) Und ich lasse es bei keiner Gelegenheit - bei einem Vortrag zu Gentherapie-Arzneimitteln - aus, darauf hinzuweisen, dass ich es für unerträglich halte, dass in einem Bereich der Arzneimittel-Entwicklung, der wirklich sehr transparent gegenüber der Öffentlichkeit ist, mit all seinen Pros und Contras keine genaueren Informationen über dieses Arzneimittel zur Verfügung stehen. Eine große Unterlassungssünde der entsprechenden Firma, vielleicht auch eine Unterlassungssünde der entsprechenden Behörden in China, die uns besser hätten informieren sollen.
" Der Vorteil bei der Gentherapie: Uns schauen alle ganz genau auf die Finger. "
Pedro Löwenstein, britischer Gentherapeut, Manchester
15 Jahre Gentherapie-Versuche am Menschen. Die Euphorie der frühen Jahre ist verflogen. Es gab viele Rückschläge, Fortschritte stellten sich langsamer ein als erwartet. Das größte Herausforderung bleibt nach wie vor, das therapeutische Gen exakt an den richtigen Ort im Erbgut zu bringen. Fortschritte gibt es hier nur im Labor: Grundlagenforscher aus Kalifornien ist es gelungen, in Zellen kranke Gene auszutauschen; sie herauszuschneiden und gesunde Gene einzufügen. Eine alte Vision der Gentherapie. Bislang galt sie als unerreichbar. Ob die neue Methode helfen wird, Menschen zu heilen, ist offen.
Die Zahl der Gentherapie-Studien ist heute deutlich kleiner als in den 90er Jahren. Nur wer ausgereifte Konzepte vorlegt, bekommt auch Geld für neue Studien.
Hoffnung auf Erfolg haben die Gentherapeuten noch immer. Aber sie sind vorsichtiger geworden.
Es wird nicht bei der Gentherapie bleiben, sondern bei speziellen gentherapeutischen Anwendungen bei Krebs, Infektionskrankheiten, kardio-vaskulär, Erbkrankheiten, und das werden wir sehen in den nächsten Jahrzehnten, dass sich hier die Gentherapie ihren Platz verschafft.
" Es macht einfach Spaß, in der Entwicklung mit drin zu stecken, mit zu lernen, mit zu forschen und auch die entsprechenden regulatorischen Rahmenbedingungen zu entwickeln, das ist einfach schön."