Neudeck: Guten Morgen, Herr Wiese.
Wiese: Herr Neudeck, welchen Eindruck von der humanitären Lage im Irak haben Sie?
Neudeck: Einen ganz besonderen, spezifischen. Der Irak und Bagdad im Besonderen ist wirklich ein ganz besonderes Feld und man muss sich hier vorstellen: das erste Riesenproblem, was einem in die Nase sticht, ist die Müllabfuhr, denn es gibt in der ganzen Stadt keine mehr. Das ist für eine Agglomeration von fünf bis sechs Millionen Menschen eine - jetzt muss ich das Wort benutzen, das ich nie mehr benutzen wollte - humanitäre Katastrophe, weil einfach daraus Epidemien entstehen könnten, wenn nicht bald eine Verwaltung wieder existiert, die eine Müllabfuhr auf den Weg setzt, dann sehe ich hier schwarz. Das zweite Problem ist, dass es wegen des Mangels und des Fehlens irgendeines Spurenelements von Verwaltung auch keine Feuerwehr gibt. Es gibt keine ausreichende Wasserversorgung, das war schon immer das Problem und es gibt eben keine Polizei bisher. Das heißt, das, was die Amerikaner eingesetzt haben, fängt an, sich zu entwickeln, ist aber noch nicht da. Dazu kommt das allerletzte, das ich sagen will, das ist aber in Deutschland meist das erste, was man nennt: die Nahrungsmittel. Das wird das Welternährungsprogramm schon schaffen, die Mengen an Nahrungsmitteln reinzubringen, die noch nötig sind. Ansonsten sind die Probleme dieses Landes irrsinnig groß, weil hier ein Regime zu Ende gegangen ist, mit dessen Zusammenbruch und Zusammenknallen eigentlich niemand gerechnet hat. Deshalb ist über der ganzen Stadt und über dem ganzen Land eine große Lähmung, die sich auch noch in großen inneren Kämpfen Ausdruck verleihen könnte.
Wiese: Herr Neudeck, man hat viel über Plünderungen, sogar von Krankenhäusern, gehört. Haben Sie da etwas recherchieren können, ist die Behandlung von Kranken und Verletzten gewährleistet?
Neudeck: Gottseidank gibt es eben einige gute Krankenhäuser, die in Saddam City arbeiten und die unter dem Schutz der lokalen Autoritäten dort auch intakt geblieben sind. Ich kann Ihnen versichern, dass es dort Behandlung von tausenden von Verletzten und Kriegsopfern gibt und es gibt auch einige gute deutsche Organisationen, die dabei sind, das ganze Feld und die Infrastruktur dort so zu verstärken, dass man davon ausgehen kann, dass das nicht unbedingt das größte Problem ist. Aber die Plünderungen sind natürlich ein Riesenproblem, weil sie erst mal kaputtgehauen wurden, was die großen Kliniken im Lande waren, in Bagdad. Und es war natürlich so, dass das ein solcher Einbruch in die Seele der Iraker ist, dass bis heute keiner damit fertiggeworden ist. Es werden hier ganz wilde Verschwörungstheorien um jede Straßenecke gehandelt, wer denn diese Plünderer gewesen sind, ob es die Iraker selbst waren oder vielleicht Fremde, ob es Kuwaiter, Palästinenser oder Syrer waren, die die Amerikaner bestellt haben. Wilde Verschwörungen, die man sich sucht, weil eigentlich die große kollektive Scham noch nicht eingesetzt hat darüber, dass in diesem Moment der Befreiung der Stadt eben das losgegangen ist, was in der französischen Revolution auch losgegangen ist: die Bereicherung der Armen der Stadt durch all das Diebesgut, was sich die reichen, fetten Bonzen der Bath-Partei und des Saddam-Regimes in den letzten 30 Jahren unter den Nagel gerissen hatten, das ist hier passiert, man kann es eigentlich nur mit diesem historischen Vergleich belegen.
Wiese: Stichwort Befreiung. Ist das auch das Empfinden in der Bevölkerung? Es gibt ja immer wieder Berichte von Protesten gegen die Amerikaner, die angeblich zunehmend als Besatzer empfunden werden.
Neudeck: Ich glaube, das ist unser deutsches und europäisches Problem, dass wir mit der Logik der Araber nicht gut klarkommen. Wir müssen hier etwas unterscheiden, was logisch schwer zu unterscheiden ist. Es gibt ein ganz elementares, klares Gefühl, ein Bewusstsein von Befreiung. Das kann man sich gar nicht vorstellen, ich bin hier auch zum ersten mal mit Menschen, die frei mit mir reden, spontan, ohne Vorbereitung, ohne Befragung des Aufpassers, des Informationsministeriums kann ich mit Menschen reden, die können mich einladen, wir können spontan zu irgendwem ins Haus gehen. Das alles war ja nie möglich und das in einer arabischen Welt, wo die Gastfreundschaft geradezu die Magna Charta Nummer eins ist, wo es eigentlich nur darum geht, dass man sich miteinander gut verhält und dass man jeden Gast als König behandelt. Das alles ist im Moment klar die Faktizität der Befreiung. Das heißt noch nicht - und das ist der logische Sprung, die logische Absurdität - dass man den Befreier, der ja nötig ist, dass man befreit worden ist, dass man den unbedingt auch so empfinden wird und das ist das große Problem der Amerikaner. Ich glaube auch, dass ist das politische Problem. Dass sie zwar die Befreier gewesen sind, dass das aber genau umkippen kann in die Besatzungsarmee, wenn sie nicht begreifen, dass dieser Stolz, die Mentalität der irakischen Araber und Kurden etwas anderes verlangen als ein Besatzungsregime, á la Japan oder Deutschland. Sie müssen jetzt kapieren, sie werden ganz schnell zur Besatzungsarmee werden, wenn sie das nicht in irakische Hände und trockene Tücher bringen.
Wiese: Haben Sie die Hoffnung, Herr Neudeck, dass sich der Irak friedlich entwickeln wird und dieser Krieg mit dem Sturz des Saddam-Regimes tatsächlich die Bedingungen für eine bessere Zukunft geschafft hat oder droht über kurz oder lang gar auch hier der Bürgerkrieg?
Neudeck: Ich habe die ganz große Hoffnung, dass es gelingen kann, weil das Land wirklich prädestiniert dafür ist, dass es eine Brücke ist zwischen den Welten. Ich habe deshalb die Hoffnung, weil hier drei große Teile eines Landes sind, die als Föderationen gut zusammen leben könnten, wenn sie vernünftig in eine Verfassung eingebunden sind. Ich habe die große Hoffnung, dass es eine solche Versammlung geben wird und man diese schnell organisieren kann. Die einzelnen Teile dieser Gesellschaft sind wirklich dazu bereit. Ich habe die Hoffnung und habe sie bis heute morgen, bis zu diesem Gespräch mit Ihnen, noch nicht aufgegeben.
Wiese: Vielen Dank. Das war in den Informationen am Morgen Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Cap Anamur aus der irakischen Hauptstadt Bagdad. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, für die etwas schlechte Tonqualität dieser Sattelitenleitung, um Entschuldigung.
Link: Interview als RealAudio
Wiese: Herr Neudeck, welchen Eindruck von der humanitären Lage im Irak haben Sie?
Neudeck: Einen ganz besonderen, spezifischen. Der Irak und Bagdad im Besonderen ist wirklich ein ganz besonderes Feld und man muss sich hier vorstellen: das erste Riesenproblem, was einem in die Nase sticht, ist die Müllabfuhr, denn es gibt in der ganzen Stadt keine mehr. Das ist für eine Agglomeration von fünf bis sechs Millionen Menschen eine - jetzt muss ich das Wort benutzen, das ich nie mehr benutzen wollte - humanitäre Katastrophe, weil einfach daraus Epidemien entstehen könnten, wenn nicht bald eine Verwaltung wieder existiert, die eine Müllabfuhr auf den Weg setzt, dann sehe ich hier schwarz. Das zweite Problem ist, dass es wegen des Mangels und des Fehlens irgendeines Spurenelements von Verwaltung auch keine Feuerwehr gibt. Es gibt keine ausreichende Wasserversorgung, das war schon immer das Problem und es gibt eben keine Polizei bisher. Das heißt, das, was die Amerikaner eingesetzt haben, fängt an, sich zu entwickeln, ist aber noch nicht da. Dazu kommt das allerletzte, das ich sagen will, das ist aber in Deutschland meist das erste, was man nennt: die Nahrungsmittel. Das wird das Welternährungsprogramm schon schaffen, die Mengen an Nahrungsmitteln reinzubringen, die noch nötig sind. Ansonsten sind die Probleme dieses Landes irrsinnig groß, weil hier ein Regime zu Ende gegangen ist, mit dessen Zusammenbruch und Zusammenknallen eigentlich niemand gerechnet hat. Deshalb ist über der ganzen Stadt und über dem ganzen Land eine große Lähmung, die sich auch noch in großen inneren Kämpfen Ausdruck verleihen könnte.
Wiese: Herr Neudeck, man hat viel über Plünderungen, sogar von Krankenhäusern, gehört. Haben Sie da etwas recherchieren können, ist die Behandlung von Kranken und Verletzten gewährleistet?
Neudeck: Gottseidank gibt es eben einige gute Krankenhäuser, die in Saddam City arbeiten und die unter dem Schutz der lokalen Autoritäten dort auch intakt geblieben sind. Ich kann Ihnen versichern, dass es dort Behandlung von tausenden von Verletzten und Kriegsopfern gibt und es gibt auch einige gute deutsche Organisationen, die dabei sind, das ganze Feld und die Infrastruktur dort so zu verstärken, dass man davon ausgehen kann, dass das nicht unbedingt das größte Problem ist. Aber die Plünderungen sind natürlich ein Riesenproblem, weil sie erst mal kaputtgehauen wurden, was die großen Kliniken im Lande waren, in Bagdad. Und es war natürlich so, dass das ein solcher Einbruch in die Seele der Iraker ist, dass bis heute keiner damit fertiggeworden ist. Es werden hier ganz wilde Verschwörungstheorien um jede Straßenecke gehandelt, wer denn diese Plünderer gewesen sind, ob es die Iraker selbst waren oder vielleicht Fremde, ob es Kuwaiter, Palästinenser oder Syrer waren, die die Amerikaner bestellt haben. Wilde Verschwörungen, die man sich sucht, weil eigentlich die große kollektive Scham noch nicht eingesetzt hat darüber, dass in diesem Moment der Befreiung der Stadt eben das losgegangen ist, was in der französischen Revolution auch losgegangen ist: die Bereicherung der Armen der Stadt durch all das Diebesgut, was sich die reichen, fetten Bonzen der Bath-Partei und des Saddam-Regimes in den letzten 30 Jahren unter den Nagel gerissen hatten, das ist hier passiert, man kann es eigentlich nur mit diesem historischen Vergleich belegen.
Wiese: Stichwort Befreiung. Ist das auch das Empfinden in der Bevölkerung? Es gibt ja immer wieder Berichte von Protesten gegen die Amerikaner, die angeblich zunehmend als Besatzer empfunden werden.
Neudeck: Ich glaube, das ist unser deutsches und europäisches Problem, dass wir mit der Logik der Araber nicht gut klarkommen. Wir müssen hier etwas unterscheiden, was logisch schwer zu unterscheiden ist. Es gibt ein ganz elementares, klares Gefühl, ein Bewusstsein von Befreiung. Das kann man sich gar nicht vorstellen, ich bin hier auch zum ersten mal mit Menschen, die frei mit mir reden, spontan, ohne Vorbereitung, ohne Befragung des Aufpassers, des Informationsministeriums kann ich mit Menschen reden, die können mich einladen, wir können spontan zu irgendwem ins Haus gehen. Das alles war ja nie möglich und das in einer arabischen Welt, wo die Gastfreundschaft geradezu die Magna Charta Nummer eins ist, wo es eigentlich nur darum geht, dass man sich miteinander gut verhält und dass man jeden Gast als König behandelt. Das alles ist im Moment klar die Faktizität der Befreiung. Das heißt noch nicht - und das ist der logische Sprung, die logische Absurdität - dass man den Befreier, der ja nötig ist, dass man befreit worden ist, dass man den unbedingt auch so empfinden wird und das ist das große Problem der Amerikaner. Ich glaube auch, dass ist das politische Problem. Dass sie zwar die Befreier gewesen sind, dass das aber genau umkippen kann in die Besatzungsarmee, wenn sie nicht begreifen, dass dieser Stolz, die Mentalität der irakischen Araber und Kurden etwas anderes verlangen als ein Besatzungsregime, á la Japan oder Deutschland. Sie müssen jetzt kapieren, sie werden ganz schnell zur Besatzungsarmee werden, wenn sie das nicht in irakische Hände und trockene Tücher bringen.
Wiese: Haben Sie die Hoffnung, Herr Neudeck, dass sich der Irak friedlich entwickeln wird und dieser Krieg mit dem Sturz des Saddam-Regimes tatsächlich die Bedingungen für eine bessere Zukunft geschafft hat oder droht über kurz oder lang gar auch hier der Bürgerkrieg?
Neudeck: Ich habe die ganz große Hoffnung, dass es gelingen kann, weil das Land wirklich prädestiniert dafür ist, dass es eine Brücke ist zwischen den Welten. Ich habe deshalb die Hoffnung, weil hier drei große Teile eines Landes sind, die als Föderationen gut zusammen leben könnten, wenn sie vernünftig in eine Verfassung eingebunden sind. Ich habe die große Hoffnung, dass es eine solche Versammlung geben wird und man diese schnell organisieren kann. Die einzelnen Teile dieser Gesellschaft sind wirklich dazu bereit. Ich habe die Hoffnung und habe sie bis heute morgen, bis zu diesem Gespräch mit Ihnen, noch nicht aufgegeben.
Wiese: Vielen Dank. Das war in den Informationen am Morgen Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Cap Anamur aus der irakischen Hauptstadt Bagdad. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, für die etwas schlechte Tonqualität dieser Sattelitenleitung, um Entschuldigung.
Link: Interview als RealAudio