Das Schicksal der Großmutter, die das Massaker überleben konnte, erfährt er von ihr allerdings nur in Andeutungen, in Geschichten und Parabeln - es bleibt lange ein Geheimnis. Erst als Erwachsener macht er sich auf die Suche nach seiner armenischen Herkunft und stößt dabei auf Dokumente und Zeugen eben jenes unfassbaren Völkermords, dem auch viele Mitglieder seiner großelterlichen Familien zum Opfer fielen. Was er bei seiner Recherche zu Tage fördert, ist nicht nur die lebhafte Schilderung seiner eigenen wohlbehüteten Kindheit und Jugend im amerikanischen Mittelstand, sondern auch die trostlosen und bestialischen Verbrechen, die einem dreitausend Jahre alten, kulturell hoch entwickelten Volk angetan wurden. Soweit es die reinen Fakten betrifft, bemüht sich der Autor wie viele andere, die über das Thema schrieben, um ein Anrennen gegen das Vergessen einer schmerzvollen und blutigen Geschichte. Was seinen Bericht allerdings aus allen anderen heraushebt, ist die poetische Einfühlungskraft, mit der er sich seinem Gegenstand nähert. Balakian:
"Als Dichter arbeite ich in einer Weise, die mehr oder weniger von meiner Natur und meinem Instinkt geleitet ist, meine Arbeit kommt vom Bild her. Das Schreiben über die Kindheit und das Aufwachsen in amerikanischen Vorstädten - die wir die Baby-Boom-Vorstädte in den Fünfzigern und frühen Sechzigern nannten - das Schreiben über diese Kultur, dieses Ambiente und meine Familie produzierte in mir Bilder und Szenen und Eindrücke, die wie in Eis gefroren waren und die mich zurück brachten zu vergangenen Erlebnissen und Momenten. Und wenn man dann einmal dorthin zurückgegangen ist, gehen Türen und Fenster auf, und man beginnt Verhaltensweisen und Personen zu entdecken. Aber für mich begann alles mit Bildern, speziell die erste Hälfte des Buches basiert auf diesen Bildern, und die Szenen entwickelten sich aus einer sinnlichen Erinnerung, zum Beispiel an Speisen und Teppiche, an Gerüche und Geräusche, Pop-Musik und die Texte der Songs, an Elvis Presly, Fats Domino, die Beatles, Bob Dylan, - all diese Sachen wurden zu einer erregenden Erinnerung, und dann muss ich sagen, dass die Entwicklung der Geschichte organisch zu wachsen begann, so wie wenn man eine Bühne aufmacht und nun den Bildern folgt, die man entdeckt hat und die einen leiten. Das ist wie eine Jagd nach der Vergangenheit, oder besser wie eine Ausgrabung, und viele dieser Ausgrabungen haben dann in dem Teil des Buches, in dem ich ein Erwachsener bin, mit dem Zu-Tage-fördern von Texten und Dokumenten zu tun, etwa mit den Memoiren Henry Morgenthaus über die Zeit, als er amerikanischer Botschafter in der Türkei war und der Genozid an den Armeniern passierte. Das zum Beispiel war für mich eine enorme Entdeckung, und ich wollte den Leser in den Prozess hineinführen, mit mir zusammen diese Memoiren zu lesen, und ich hoffe das hat geklappt."
Auf der Suche nach dem Schicksal seiner Vorfahren stößt Balakian auch auf ein bewegendes Dokument, das seine Großmutter hinterlassen hat. 1920, zu einer Zeit, als noch keine internationalen Menschenrechtskonventionen existierten, stellte sie bereits eine Art Wiedergutmachungsantrag gegen die Türkei. Der genauen Aufstellung verlorener Güter folgt eine so nüchterne und präzise Darstellung der Umstände der Vertreibung, dass der Leser dieser juristisch kargen Worte erst nur erahnen kann, welche schrecklichen Erlebnisse ihre Grundlage bilden. Wie um diesen Mangel auszugleichen, erzählt der Autor den Bericht seiner Tante Gladys nach über das, was ihre Cousine Dovey auf dem Todesmarsch erfahren musste. Als die halb verhungerten Kinder und Mütter schließlich nach vielen Tagen den Euphrat erreichten, sah man, so berichtet sie, "Meilen und Meilen nichts als Leichen, .... halb verwest, ohne Kopf, ohne Gliedmaßen, Körperteile, die einherschwammen. Auf den Schlammbänken, die oft wie Krokodile emporragten, stapelten sich hunderte verwesender Körper zuhauf, und die Seeschwalben machten sich darüber her. Die Körper vergingen im Schlamm."
Nicht nur im Nachvollzug solcher Bilder, auch bei der Einflechtung von Zitaten und Dokumenten vertraut Balakian der Ursprünglichkeit und Unvoreingenommenheit seines poetischen Blicks. Daher ist auch der Auslöser für diese intensivierte Suche nach der Wahrheit ein Gedicht, das der 23jährige eines Abends in Erinnerung an seine verstorbene Großmutter schrieb und in dem es am Ende heißt: "Indem du meinen Kopf in deine Arme nahmst und mich auf das Haar küßtest, blickte ich wie immer auf die Haut deiner Hände, noch immer gebleicht von der dürren türkischen Wüste". Dazu Balakian:
"Die poetische Imagination in meinem Leben - aber ich glaube, das gilt für viele Leute - kann die Fähigkeit besitzen, Erinnerungen aufzuschließen und uns zu Orten zu bringen, von denen wir niemals geglaubt hätten, dass wir dorthin gelangen könnten. Poesie hat in meiner Arbeit und in meinem Leben ein historisches Unterbewusstsein im Unterschied zu einem persönlichen von Mythen beladenen Unbewussten im Sinne C.G. Jungs. Ich glaube vielmehr, dass das historische Unterbewusstsein beladen ist mit politischen, kulturellen und historischen Realitäten. Und als ich damals dieses Gedicht schrieb, fühlte ich mich schuldig, weil ich nicht zu der Feier zu Ehren meiner toten Großmutter ging sondern mir ein vergnügliches Wochenende mit einer Freundin machte, und als ich nach Hause kam, war das Schreiben dieses Gedichts eine Möglichkeit, über meine Großmutter zu trauern und mich an sie zu erinnern. Das Gedicht überraschte mich, es kam wie aus heiterem Himmel, insofern in meinem Kopf Bilder über eine Vergangenheit waren, die meiner Großmutter nur ganz allein gehörte. Ich wusste zwar, sie kam aus dem verlorengegangenen Armenien, ich wusste, dieses Armenien gab es einmal da drüben und es war verschwunden, aber ich wusste nichts Genaues über die Geschichte oder gar Details, und dann tauchte in meinem Gedicht plötzlich dieses Bild der "dürren türkischen Wüste" auf. Das war für mich wie ein Emblem über den vergangenen Genozid, und von da an begann für mich ein neuer Prozess, eine Reise, die ich bis jetzt nicht beenden konnte, die immer weitergeht und mich weiter beschäftigt, - aber Poesie ist der Schlüssel dafür, und ich hoffe meine Leser können es nachvollziehen, wie mächtig Poesie sein kann."
Sieben Jahre hat Peter Balakian an seinen Erinnerungen und Recherchen geschrieben und gearbeitet, Tausende von Dokumenten gesichtet, Gespräche geführt und auch die Zeit seiner eigenen Kindheit und Jugend mit bewundernswerter Detailfreudigkeit festgehalten. Die Dichte seiner Darstellung, die Intensität seiner Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema des Holocaust, die Differenziertheit seiner Wahrnehmungen verleihen seinem Buch eine Authentizität, die erregend und erschütternd zugleich ist. Völlig zurecht erhielt er dafür in den Staaten überschwengliches Lob, das er allerdings nicht für sich verbucht sondern als Bestätigung empfindet für sein bis heute anhaltendes Bemühen, gegen das Verschweigen des Massakers an seinen Vorfahren durch die türkische Regierung anzukämpfen in der Hoffnung, dass etwas derartiges nie wieder geschehen möge.