Donnerstag, 28. März 2024

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Die Idee eines jüdischen Staates (5)
Israel und der besondere Stellenwert der Religion

Anders als es Theodor Herzl, der Vater der zionistischen Bewegung, ursprünglich vorgesehen hatte, wurde der Religion schon bei der Gründung Israels eine besondere Rolle zugestanden. Und sie erhielt durch die jüdischen Einwanderer aus orientalischen Ländern immer mehr Gewicht in der israelischen Gesellschaft.

Rüdiger Achenbach im Gespräch mit dem jüdischen Publizisten Günther Bernd Ginzel | 17.07.2015
    Ein Mann vor einer israelischen Fahne
    Das heutige Israel versteht sich als demokratisch-jüdischer Staat (imago/UPI Photo)
    Rüdiger Achenbach: Während Herzl gerade kein heiliges Land wollte, während er versuchte, von Anfang an sich für einen modernen Staat einzusetzen, in dem es keine Vermischung mit der Religion gab, bedeutete es jetzt aber doch schon im jungen Staat Israel, dass die Religion doch einen besonderen Stellenwert bekommt.

    Günther Bernd Ginzel: Ja. Sie bekommt einen besonderen Stellenwert, wobei man wissen muss, dass die ersten Oberrabbiner sehr klug waren. Sie haben einfach sozusagen die Brücke zu der Masse der Säkularen geschlagen. Sie haben gesagt: die größte Mizwa, die größte Erfüllung eines Gebotes ist es, im Lande Israel zu leben. Egal wie du lebst, dass du als Jude im jüdischen Land lebst, das ist sozusagen schon fast so etwas, wie ein Heiligenschein. Und damit konnte man sich natürlich sehr gut arrangieren Und es hat lange gedauert, nach dem Sechs-Tage-Krieg, nach der Okkupation der Westbank und des Gazastreifens, dass sozusagen das religiöse Element stärker und stärker wird und im Grunde genommen damit auch nationaler und nationalistischer.

    Achenbach: Es hängt natürlich dann auch damit zusammen, dass immer mehr Juden aus arabischen Ländern nach Israel kommen. Das heißt: das sind Leute, die die Ideale des europäisch-geprägten Zionismus überhaupt nicht kennen, sondern für die Judentum eindeutig religiös geprägt ist.

    Ginzel: Ja!

    Achenbach: Das verändert auch Israel.

    Ginzel: Das verändert Israel, und es bringt eine bittere Kluft, die bis heute nicht überwunden ist. Denn es zeigte sich, dass diese großen sozialistischen Utopisten, die so viel von Bibel und Gerechtigkeit redeten, natürlich auch die Arroganz der Europäer mit sich gebracht haben, sozusagen der Angehörigen der höheren Kultur. Das hat sich weniger gegenüber den Arabern geäußert, die man so sehr nicht zur Kenntnis nahm, aber gegenüber dieser Masse an orientalischen Juden, ganz besonders etwa den jeminitischen Juden, die buchstäblich, wie es damals hieß, aus der Steinzeit in die Moderne kamen, die noch versuchten, im Flugzeug ein offenes Feuer anzuzünden, die wirklich das Gefühl hatten: nach dem alten, biblischen Wort: "Auf Adlersflügeln kommen sie ins heilige Land". Die waren viel messianischer gestimmt, viel religiöser, viel orthodoxer. Für sie war es die Erfüllung eines religiösen Traums, und das europäisch geprägte Israel hat gar nicht gesehen, dass in den zurückliegenden Tausenden, anderthalb Jahrtausenden in der orientalischen Diaspora ein Judentum sich etablierte, nicht weniger selbstbewusst als das europäische, das aber partiell andere Wege gegangen ist.

    Von daher hat sich hier eine soziale Kluft aufgetan, die bis heute noch nicht überwunden ist. Und dementsprechend verband sich jetzt mit der religiös-zionistischen Prägung des orientalischen Judentums, des sephardischen Judentums, auch eine Widerstandsbewegung gegen die Vormachtsherrschaft, wie es hieß, des polnischen Judentums. Das ist so ein, so ein Schlagwort gewesen. Und gegen diese Sozialisten, die man als Heuchler empfand, und Kampf um soziale Gleichberechtigung.

    Diese sozialen Werke, die nun aufstanden, waren sephardische, religiöse, orthodoxe, Bewegungen mit eigenem Schulsystem, sehr vergleichbar mit dem, was dann später auf der palästinensischen Seite im Umfeld von Hamas entstand.

    Achenbach: Was kann Zionismus von den Idealen, die wir eben beschrieben haben, und von seiner Entwicklung her heute für den Staat Israel bedeuten?

    Ginzel: Es gibt eine große Diskussion in Israel, inwieweit es überhaupt noch sinnvoll ist, von Zionismus zu sprechen. Israel ist heute eine moderne, säkulare Gesellschaft mit einer starken religiösen Minderheit und Gesetzen, die im Grunde genommen Israel fast manchmal in die Nähe eines Gottesstaates bringen. Das wird eben gebrochen, eben durch dieses starke säkulare Element. Aber was kann Zionismus noch erreichen?

    Es gibt von daher einen tief inner-israelischen Streit um die Frage der Legitimation des Zionismus und man hat fast den Eindruck, als wenn die einen sagen: Wir sind heute ein Staat wie jeder andere. Das ist das Ziel. Wir sind nicht besser und nicht schlechter als alle anderen Nationen. Die andern finden das natürlich völlig abscheulich und im Grund genommen hat sich der zionistischen Ideale die Siedlerbewegung bemächtigt, und für viele ist das eine Pervertierung des Zionismus. Die Siedler-Bewegung sagt nun: Erstens: der Jom-Kippur-Krieg war das Zweite Wunder Gottes.
    Das erste Wunder war die Schoah – das Judentum zur Vernichtung preisgegeben, beinahe wäre es vernichtet, aber Gott hat eingegriffen. Und der Rest Israels ist gemäß der biblischen Weissagungen nach Israel zurückgekehrt, nach Zion zurückgekehrt. Zumindest hätte er das Potenzial, hätte er die Möglichkeit. "Liebe Gott" hat sozusagen zugelassen, dass als Antwort auf Auschwitz der jüdische Staat gegründet wird.

    Und nunmehr kommt es zu einem breiten Wechsel der Perspektiven. Ein Großteil der israelischen Jugend wird unter dem Eindruck dieser enormen Opfer, unter dem Eindruck dieses verzweifelten Überlebenskampfes, und, Herr Achenbach, damals im Jom-Kippur-Krieg schrien die Kinder Israel wie in biblischen Zeiten buchstäblich zu Gott. Ich habe das in den Synagogen in Deutschland auch erlebt. Die haben geweint, geheult und zu Gott gerufen: "Rette Israel!" Man war davon überzeugt: wir bekommen Nachrichten aus Israel und so weiter, wir stehen vor der Vernichtung. "Betet!" Plötzlich war das Gebet das ganz entscheidende: "Betet für Israel!" Das sind Bilder, die sich eingeprägt haben. Und damit bekommt Religion einen neuen Stellenwert. Jetzt ist eine Religion bezogen auf die Funktion Israel, es gibt jetzt das biblische Erbe, das es zu verteidigen gilt. Nunmehr wird die Siedlerbewegung raus aus der Idee "Wir sind Grenz-Kibbuzim" – "wir schützen im Vorfeld die israelischen Massengesellschaften, und im Falle eines Friedens bauen wir hier alles wieder ab, geben das den Arabern, und dann haben wir Frieden. Jetzt auf einmal heißt es: "Stopp!". Wo ist denn das wahre Israel? Es ist in Judäa und Samaria. Das ist die Westbank. Nun auf einmal beginnt eine rechts-nationalistische Entwicklung, die in der Siedlerbewegung kulminiert…

    Achenbach: Äußerst problematisch!

    Ginzel: Hoch problematisch!

    Achenbach: Aus dem einfachen Grund: Wenn religiös Politik begründet wird, wie in diesem Falle, dann lässt sich leicht absehen, dass es natürlich sehr schwierig ist, sich mit anderen zu verständigen.

    Ginzel: Genau das ist das Problem. Umso mehr, als das Ganze jetzt sozusagen – es nimmt im radikalen Teil – auch die Siedlerbewegung ist selbstverständlich differenziert zu betrachten – aber im radikalen Teil, der immerhin eine Minderheit von mindestens zwei-, dreihunderttausend Leuten umfasst, und dazu eben auch noch politische Gesinnungsgenossen. Für sie ist jetzt Israel zu betrachten im Vorfeld der Möglichkeit des Beginns der messianischen Zeit. So vorsichtig muss man es ausdrücken. Aber so wird es auch gesehen. Und nunmehr ist es die Frage: haben wir Frieden oder haben wir nicht Frieden?

    Gibt es Frieden mit den Palästinensern? Kann man mit den Palästinensern zu einem Kompromiss kommen und im völkerrechtlich ihnen gehörenden Teil von Eretz Israel? Alle Juden, alle Zionisten sehen natürlich das Ganze als Eretz Jisrael. Die Frage aber, die sich stellt, ist: muss deswegen überall auch der jüdische Staat sein? Kann nicht um des Friedens willen in einem Teil des Landes Israel, in einem Teil des Landes der Bibel dieser Palästinenser-Staat gegründet werden? Da sagt die Mehrheit der Zionisten, die Mehrheit der Juden: Ja. Die Minderheit der Siedler und die sie umgebenden politischen Organisationen sagen: Nein! Denn das wäre Verrat am Willen Gottes.

    Achenbach: Aber beide berufen sich heute auf den Zionismus. Die eine Seite sagt: eine Zwei-Staaten-Lösung ist möglich. Und: eine Beherrschung einer nicht-jüdischen Bevölkerung steht gegen die Ideale des Zionismus. Während auf der anderen Seite eben Israel in den Grenzen dieses Großreiches angestrebt wird, auch zionistischen Argumenten.

    Ginzel: Richtig! Genauso ist es.

    Achenbach: Das steht sich gegenüber.

    Ginzel: Das steht sich gegenüber. Wobei, noch mal: die Zahlenverhältnisse sind klar. Die Siedlerbewegung hätte im Falle eines wirklichen, ehrlichen Friedensschlusses mit den Palästinensern – hat die Siedlerbewegung politisch keine Chance. Deswegen ist sie so radikal und kann sich mit Teilen der amerikanisch-protestantischen Bewegung – dort hat man durchaus messianische Visionen – verbündet, die nämlich überhaupt es als wiederum gotteslästerlich ansehen, dass die Araber im heiligen Land sind. Dieses gehört den Juden. Die jüdischen Sozialisten sind auch dort Gotteslästerer quasi, denn es geht natürlich darum, das Land der Bibel vorzubereiten für die Rückkehr Christi. Beide streben sie die messianische Endzeit an.

    Achenbach: Bloß wenn man alle diese religiösen Ideen konfrontiert mit dem, was man von arabisch-islamischer Seite in diesem Raum an religiösen Ideen hat, dann kann man sich schlecht vorstellen, wie man da zusammenkommen wird in Zukunft. Deswegen, meine abschließende Frage: Kann Zionismus Utopie sein? Heute für Israel?

    Ginzel: Zionismus kann Utopie sein, indem man zurückkehrt zu den zionistischen Idealen des Pioniertums, weg von der Ellbogengesellschaft, weg von der amerikanisierten Gesellschaft Israels, weg von der – wie soll ich es sagen' – von der alles beherrschenden Vision eines wirtschaftlichen Erfolges. Zurück eben. Vielleicht ist es wirklich eine Utopie. Aber Utopien haben eben gerade dort, – und der Zionismus ist ein Beispiel dafür – eine enorme Wirkungsmächtigkeit. Die israelische Gesellschaft wird auf nur kapitalistischer Ebene, auf nur der Ebene der freien Marktwirtschaft nicht überleben. Wir haben jetzt schon eine hohe Arbeitslosigkeit. Sondern Israel wird zurückehren müssen im Falle eines Friedens zu seiner Vision einer jüdisch-gerechten Gesellschaft im Land der Bibel, und zwar in modernem Gewand. Dann wird Israel sicherlich auch das sein, was es ursprünglich sein sollte, nämlich ein Licht für die Welt.

    Achenbach: Ein freiheitlich-moderner Staat, wie ihn Theodor Herzl wollte.

    Ginzel: So ist es.