Donnerstag, 28. März 2024

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Die Illusionen der Anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur

Wir alle kennen das: Wütend schlagen wir mit der Faust auf den Tisch, wiewohl wir genau wissen, dass das Möbel nichts für unseren Unmut kann — ganz gleich, was diesen ausgelöst haben mag. Bei einem Telefonat, anderes Beispiel, kritzeln wir unermüdlich und beinahe zwanghaft auf Papier. Welchem Zwang sind wir da ausgesetzt?

Thomas Palzer | 26.11.2002
    Oder: Wir fragen unseren Nachbarn, ob wir schnell einen Blick in dessen Zeitung werfen dürfen, weil wir unbedingt unser Horoskop lesen wollen - wenngleich wir selbstverständlich nicht an Astrologie glauben. Ferner: Startet unser Auto im Winter nicht, hören wir uns oft Sätze sagen wie: Na, komm schon, spring schon an.

    Was auf uns zunächst wie ein Katalog nicht weiter bedenkenswerter Alltagsphänomene wirkt, entlarvt sich bei genauerer Betrachtung rasch als magisches Handeln, das nach Deutung verlangt. Darum bemüht hat sich der an der Linzer Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung lehrende Philosoph Robert Pfaller. Herausgekommen ist eine Studie mit dem Titel: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur.

    Grundidee von Pfallers Buch ist die These, dass es auch und gerade in der zivilisierten Welt Formen von Alltagsmagie und Zauberei gibt -quasi-religiöse Rituale und Einbildungen, deren Bedeutungen uns nicht klar sind. Schon in seiner vorausgegangenen Veröffentlichung hatte der Linzer Autor alltagskulturelle Praktiken im Visier. Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen hieß sein vor zwei Jahren beim angesehenen Wissenschaftsverlag Springer publiziertes Werk, das sich unter anderem die Frage stellt, ob es nicht Menschen gibt, die vor ihrem Genuss zu flüchten versuchen — etwa, wenn sie das Fernsehen ihrem Videorecorder überlassen oder das Lesen von Büchern dem Fotokopierer.

    Das neue Buch von Robert Pfaller darf als eine Art Fortsetzung dieses Projekts betrachtet werden, bei dem neben dem kulturtheoretischen auch ein, wenn man so will, psycho-ethnologischer Blick in Anschlag gebracht wird. Dem Autor geht es darum, die Vorherrschaft der Bekenntniskultur zu brechen, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Unterscheidung zwischen Spiel und Wirklichkeit aufzuheben trachtet und auf herrische Weise alles ernst nimmt. Darin - im Bekenntnishaften, das den Heidenspaß verbietet - sieht Pfaller eine wichtige Stütze neoliberaler Politiken - Politiken also, die den Rückzug ins Private erzwingen, weil die mit ihnen einhergehende Zerstörung der öffentlichen Sphäre es dem Individuum versagt, Bezug auf Illusionen zu nehmen, die in einer Gesellschaft kursieren, ohne dass deren Mitglieder diese als die eigenen anzunehmen genötigt wären.

    Thema sind also die Illusionen der anderen. Doch was genau ist damit gemeint? Pfaller schreibt:

    Als die Welt der Kunst Anfang der neunziger Jahre von einem allgegenwärtig anmutenden Diskurs über Interaktivität beherrscht schien, ließ eine Bemerkung von Slavoj Zizek aufhorchen. Zizek stellte fest, dass Fernsehkomödien mit Dosengelächter (canned laughter) anstelle ihrer Zuseher über ihre Witze und komischen Situationen lachen. Die Zuschauer selbst, so Zizek, brauchen dann weder den Inhalt der Komödien zu verfolgen noch selbst zu lachen, um dennoch perfekt amüsiert zu sein. (...) Unsere Gefühle und Überzeugungen sind also nichts Inneres, sondern können eine außen angesiedelte, objektive Existenz führen: Eine Fernsehkomödie kann für mich lachen ... und ein Fabelwesen wie der bekannte "einfache Mann von der Straße" kann an meiner Stelle von Dingen überzeugt sein, die ich selbst nicht ernstnehmen kann.

    Offenbar gibt es in Zivilisationen wie der unseren, die darauf besteht, keine "primitive" zu sein, alltagsmagische Praktiken, die wir ausüben, wiewohl oder gerade weil wir nicht an Zauberei glauben. Magisches Handeln hat nämlich zur Voraussetzung, dass sich das bessere Wissen gewissermaßen selbst suspendiert. Um Lust am Spiel zu haben, müssen wir wissen, dass wir spielen, dieses Wissen im Spiel aber für die Zeit, die es dauert, vergessen. Magie setzt damit gerade nicht voraus, dass wir von der Wirkungsmächtigkeit solchen Handelns überzeugt sind, uns dazu bekennen, vielmehr gibt es darin einen Moment des Als-ob, bei dem wir uns einer Illusion trotz gegenteiligen Wissens unterwerfen - einer Illusion, von der wir wissen, dass sie eine Illusion ist. Ein Spiel, das sich mit der Wirklichkeit verwechselte, würde sich selbst zerstören, weil es uns die Lust daran nähme.

    Zu den Täuschungen, von denen niemand getäuscht wird, zählt natürlich die Kunst und insbesondere die Literatur: Der Leser muss in gewisser Weise an das, was erzählt wird, glauben. Damit das gelingt, muss der Schriftsteller, wie Julien Gracq es einmal formuliert hat, "mit gutem Beispiel vorangehen". Robert Pfaller drückt eben diesen Sachverhalt wie folgt aus.

    Der formale Gestaltungsaufwand steigt immer genau in dem Maß, indem die Ausübenden nicht an die dargestellte Einbildung glauben.

    Gerade, weil die Zuschauer nicht daran glauben, den Verlauf eines Fußballspiels durch Daumendrücken beeinflussen zu können, sind sie gezwungen, die Daumen um so fester zu drücken. Der Heilige Ernst beim Spiel ist eine Täuschung, die wir durchschauen, während der Ernst des Lebens eine Täuschung ist, die wir nicht durchschauen - und die uns damit der Lust am Leben beraubt.

    Ein symbolischer Akt wie der der Zauberei bedarf der vernehmbaren Darstellung, weil die Darstellung es ist, die die Akteure davon entlastet, an den Zauber glauben zu müssen. Sprüche müssen ausgesprochen, die Zeichen aufgemalt, die Daumen gehalten, die Amulette fabriziert werden. Magisches Handeln findet in figurativer Darstellung seine Überzeugungskraft.

    Der Glaube an gewisse Illusionen (etwa die, dass man die Geliebte "erreicht", wenn man ihr Bild küsst) wird an Götter delegiert, oder, in säkularen Gesellschaften, an den Glauben der anderen. Der besteht, wie Pfaller herausarbeitet, aus einem Arsenal von Einbildungen, die immer die der anderen sind, ohne jemals die eigenen Einbildungen von irgend jemandem zu sein. Sie stehen jedermann zur Verfügung, bleiben aber gesellschaftliches Eigentum.

    Die Darstellungen dieser Einbildungen partizipieren somit an dem gesellschaftlichen Imaginären,, d. h. an der Gesamtheit der Einbildungen der anderen. Sie überwölben die Gesellschaft wie ein Götterhimmel, der da ist und gleichzeitig nicht da ist, an den geglaubt und gleichzeitig nicht geglaubt wird. Götter oder Illusionen ohne Subjekt gestatten dem Einzelnen, sich zu amüsieren, ohne sich mit sich selbst als Amüsiertem identifizieren zu müssen. Anderenfalls lachten wir - etwa bei soaps -unter unserem "Niveau", was die Lust daran durchkreuzte.

    Einbildungen, die niemanden gehören, und die, um überzeugend geäußert werden zu können, liebevoll gestaltet gehören, ersparen es uns, dass wir sie uns zu eigen machen: dass wir zu den Besitzern solcher Illusionen werden. In diesem Fall, als Eigentümer nämlich, würden wir in egomanem Zorn oder in egomane Traurigkeit verfallen. Was als kulturelle Praxis der Entlastung gedacht ist, wäre auf uns selbst verschoben und würde uns belasten.

    Wir delegieren unsere Einbildungen an magische Götter, und das erlaubt uns den Umgang mit unseren Gefühlen und Affekten und zugleich die Emanzipation davon. Werden Einbildungen jedoch zu Gesinnungen, d. h. zu Einbildungen, die wir aus Gründen der Respektabilität und der Klugheit unsere eigenen nennen, beginnt der Rückzug gestaltungspotenter Kultur, der Verfall magischer Darstellungsformen, beginnen Bilderverbote, die wiederum zur Vernichtung gesellschaftlicher Umgangsformen führen. Pfaller hat dafür ein prägnantes Beispiel:

    Während klassische Limousinen und Sportwagen der fünfziger oder sechziger Jahre immer einen Bezug auf elegantes gesellschaftliches Auftreten verkörperten ... sehen wir die Städte heute zunehmend von martialischen Allradautos ... befahren, die den Bruch mit jeglicher Geselligkeit signalisieren: die neuen neoliberalen Geländewagenbesitzer brauchen keinen Staat, der Straßen baut oder den Verkehr regelt; sie fahren ohne jede Rücksicht auf Anstand oder Vorrang über Stock und Stein ... dorthin, wo nur sie allein hinwollen.

    Der Verlust an Gestaltungskraft, der sich in der Gesinnungskultur äußert, führt zu einem rapiden Verfall von Öffentlichkeit, führt zu trübsinnigen, narzisstischen Leidenschaften. Darum muss es Einbildungen geben, die nicht die Form der Überzeugung haben. Das eben sind die Einbildungen ohne Subjekt. Mit anderen Worten: Eine Kultur ohne Gewissen ist denkbar. Es wäre eine Kultur, die auf eine Moral der Absichten zugunsten einer Ethik der Wirkungen verzichtete.

    Die Gesinnungskultur zerstört die Glückstechniken, die eine Kultur ihren Mitgliedern zur Verfügung stellt. Glückstechniken sind Entlastungstechniken, somit Techniken, die Bezüge zu etwas anderem herstellen und nach dorthin Lasten verschieben. Die Frage nach der Form, in der Einbildungen vorliegen, verlangt für die Magie, dass das Symbol die volle Leistung des Symbolisierten übernimmt. Um das so darzustellen, dass daran ohne Glauben geglaubt werden kann, muss die Illusion figurativ gestaltet sein. Sie ist gewissermaßen Form ohne Inhalt. Wie die Höflichkeit. Diese hat nichts mit Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit zu tun. Wenn wir höflich sind, machen wir den anderen glücklich. Wären wir wirklich zivilisiert, würden wir begreifen, dass wir die Pflicht haben, glücklich zu sein. Daran erinnert uns Robert Pfaller in seinem neuen Buch.