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Die innere Burg

Wer heute der Philosophie einen Lebensbezug zuschreiben will, der muß ausdrücklich von "praktischer Philosophie" sprechen. Daß sie an sich theoretisch sei, scheint selbstverständlich. Anders das Philosophieverständnis der Antike. Selbst erklärte Theoretiker haben es da mit der Philosophie auf das gute, das autarke Leben abgesehen. Den anderen, Sokratikern, Kynikern, Kyrenaiken, Stoikern, Epikureern, nicht zuletzt den Skeptikern, kam es ohnehin von vornherein auf eine philosophische Lebensführung an.

Ludger Lütkehaus |
    Will man diesem Selbstverständnis gerecht werden, dann muß man bei den Wertungen andere Maßstäbe anlegen, als wir es nach Maßgabe unserer Fixierung auf reine Erkenntnisgewinne und Theorieinnovationen gewohnt sind. Wenn ein Philosoph in der Antike jemand ist, der sich bemüht, ein philosophisches Leben zu führen, dann konnten auch Menschen, die unerhörterweise nicht eine Zeile geschrieben und auch keine ungeschriebene Lehre hinterlassen hatten, durchaus als Philosoph gelten. Und wenn man auch heute die Philosophen an ihrer Fähigkeit mäße, ein unabhängigeres, glücklicheres, jedenfalls gelasseneres Leben zu führen, dann gehören Epikur, Epiktet, Seneca, Marc Aurel zu den großen Philosophen. Und manche der neuzeitlichen Theoriegiganten schnurren zu Lebenszwergen zusammen.

    Nachdrücklich wie kein anderer zeitgenössischer Forscher hat der französische Philosophiehistoriker Pierre Hadot daran erinnert, wie sehr das antike Philosophieren eine "geistige Übung" in der philosophischen Lebensführung war. Der späte, an der Philosophie als Lebenskunst und Selbstsorge vehement interessierte Michel Foucault hat ihn als seinen Lehrmeister gerühmt. Hadots 1991 ins Deutsche übersetztes Buch "Philosophie als Lebensform" hat zu Recht große Beachtung gefunden. Jetzt macht er mit einer großen Studie zu Marc Aurel, dem Kaiser und Philosophen, die Probe aufs Exempel.

    Eine "Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels" will Hadot geben. Das ist allzu bescheiden und auch fast schon wieder zu theoretisch, zu philologisch gesagt. Denn die berühmten "Ermahnungen" Mark Aurels "an sich selbst", denen in der Neuzeit noch Schopenhauers rücksichtsloseste Selbsterforschung ihren Titel verdankt, werden durchaus ihres Vorbildcharakters wegen gelesen.

    Ahistorische Mißverständnisse, zumal psychologisierende Deutungen, mehr noch interpretatorische Willkürakte, die Texte dem auslegenden Willen zur Bemächtigung, gegebenenfalls zur "Dekonstruktion" überantworten, weist Hadot als bewußt unmodischer Interpret freilich in seiner minutiösen Lektüre kategorisch zurück. Hier verliert er öfters auch die so wünschenswerte stoische Gelassenheit. Im übrigen geht von seinem überaus gelehrsamen, aber auch erfreulich unprätentiös geschriebenen Buch die unauffällige Verführungskraft des Seriösen aus. Nur gegen Schluß, wo die Philologie ins Kraut schießt, wird es ein bißchen langweilig. Die zahlreichen Wiederholungen, die sich bei Marc Aurel daraus rechtfertigen, daß es ihm eben um täglich erneuerte geistige Übungen, nicht um brillante Novitäten geht, verstärkt Hadot durch eine ausgeprägte Neigung zur Ewigen Wiederkehr des Gleichen.

    Rühmen muß man in einem Zeitalter zunehmender Achtlosigkeit auch die Solidität und Schönheit des Druckes, mit Ausnahme einiger krasser Fehler bei der Transkription der griechischen Termini. Eine noch eingehendere Berücksichtigung der Biographie dieses großen, nicht "verkaiserten" Kaisers wäre sinnvoll gewesen, gerade weil es um eine philosophische Lebensführung geht. In gewissem Umfang retheoretisiert Hadot Leben und Werk wieder. Und er idealisiert es auch etwas über Gebühr. Widersprüche werden geglättet, wie für die stoische Lebensführung scheint Kohärenz oberstes Gebot. Der von Ernest Renan so eindringlich beschriebene Pessimismus Marc Aurels, der Einbruch des Negativen selbst in eine so philosophische Lebensführung kommt zu kurz. Hadot möchte unbedingt zeigen, daß das gute Leben unter allen Umständen möglich ist.

    Er will die "innere Burg" rekonstruieren, die Marc Aurel gleichermaßen gegen die von außen andrängende Welt, ohne sich ihr eremitisch zu entziehen, wie gegen die von innen andrängenden Triebe errichtet hat. Es geht um immer wieder erneuerte Anläufe, das Erkennen und Urteilen mit der kosmischen Allvernunft in Einklang zu bringen, im Handeln dem Staat und den Menschen zu dienen und nichts anderes zu begehren, als das gottgeleitete Leben bringt, an das Marc Aurel und wohl auch sein Interpret glaubt. Dieser stoische Philosoph ist nicht nur ein überaus sittlicher, verantwortlicher, sondern auch frommer Mann. Den Zeitgenossen ist er als Lehrmeister bisweilen so lästig geworden, daß sie nur einen Heuchler in ihm erblicken konnten. Die Grenzen zwischen Philosophie und Religion werden fließend, anders als etwa bei Epikur, der es ohne Frömmigkeit zu derselben heiteren Gelassenheit brachte.

    Geradezu frappant, wie nahe ausgerechnet der Gottesmörder Friedrich Nietzsche dem frommen Marc Aurel steht. Daß der Gedanke der Ewigen Wiederkunft nicht zuletzt stoischer Herkunft ist, war seit längerem bekannt. Wie sehr aber Nietzsche mit seinem unbegrenzten Ja- und Amen-Sagen zu dem, was ist und ewig wiederkehrt, stoischen Haltungen verpflichtet ist - Hadot macht es am "Amor fati" deutlich -, das ist schon überraschend. Im August 1881, am See von Silvaplana, wird Nietzsche von dem wiederkehrenden Gedanken der Ewigen Wiederkehr überfallen. Es verspräche eine ungewohnte Nietzsche-Lektüre, wenn man sein Werk und zumal den Nachlaß noch einmal als neostoische Ermahnung an sich selbst läse.

    Auf eine weitere frappante Parallele zu Marc Aurels geistigen Übungen geht Hadot nicht ein: die der buddistischen Klarblicksmeditation, die über das Alexander-Reich auch die hellenistische Philosophie erreicht hat. Für die Erforschung der Gandhara-Philosophie bleibt noch viel zu tun. Die Dinge ohne Werturteil so zu sehen, wie sie sind, sich auf die Gegenwart zu beschränken, damit der Geist frei bleibt von Gier, Haß und Verblendung - das ist exakt die stoische Trias der Souveränität über das Begehren, des Handelns im Dienste der Menschen und des klaren Urteils.

    Insofern freilich mit der stoischen Lebensführung immer auch das klare Bewußtsein der theoretischen Grundlagen einhergeht, relativiert sich die forcierte Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie, der Hadot seinen Impuls verdankt. Wie Marc Aurels, zuvor Epiktets Stoa die philosophische Übung in Physik und Logik neben der Ethik einschloß, so ist hier das Denken prinzipiell, ohne wie für neuere Schwarzwälder Fundamentalontologen die höchste Form der Praxis zu sein, Grundlegung und selber Teil der Lebensführung. Wissen und Weisheit sind keine Alternativen. Die Gelassenheit, die in so exemplarischer Weise von der stoischen Lebensführung ausgeht, verdankt sich auch dieser Einsicht. Deswegen ist die Summe, die Hadot in seinem Schlußsatz zieht, nicht nur anziehend, sondern auch triftig: "Marc Aurel spricht zu sich selbst, doch es ist, als spräche er zu einem jeden von uns."